Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Mittwoch, 27. März 2013

Il tempo degli avvoltoi (Die Zeit der Geier) 1967 Nando Cicero


Inhalt: Der Frauenheld Kitosch (George Kennedy) kann die Finger vom weiblichen Geschlecht nicht lassen, weshalb er regelmäßig Ärger mit seinem Boss Mendoza (Eduardo Fajardo) bekommt, nachdem er auf dessen Ranch mit der Frau eines Anderen erwischt wurde. Doch die Bestrafung mit ein paar Peitschenhieben nimmt er dafür lächelnd in Kauf. Das ändert sich, als er mit der Ehefrau (Pamela Tudor) seines Chefs entdeckt wird, der seine Leute gegen ihn aufhetzt. Brutal zusammen geschlagen endet er am Strang und wird im letzten Moment von Tracy (Frank Wolff) gerettet, einem gefürchteten Pistolero, der ihn zuvor noch ausgeliefert hatte.

Dankbar schließt er sich ihm an und begleitet ihn auf dem Weg in dessen ehemalige Heimat, wo Tracy noch eine Rechnung zu begleichen hat. Selbst als dieser ihn als Lockvogel dafür nutzt, den ihn verfolgenden Sheriff und dessen Leute aus dem Hinterhalt zu erschießen, bleibt er solidarisch, aber zunehmend muss auch er erkennen, wer dieser Mann wirklich ist...


Seitdem George Hilton in Lucio Fulcis "Le colt cantarono la morte e fu... tempo di massacro" (Django - sein Gesangsbuch war der Colt, 1966) erstmals in einem Italo-Western mitgewirkt hatte, war er zum festen Bestandteil des Genres geworden. Die Rolle des "Kitosch" hatte er zuvor schon in "Kitosch, l'uomo che veniva dal nord“ (Der Mann, der aus dem Norden kam, 1967), einer italienisch/spanischen Produktion unter der Regie von José Luis Merino, gespielt, an die er in "Il tempo degli avvoltoi" (Die Zeit der Geier) in der Charaktergestaltung unmittelbar anknüpft - nicht erstaunlich, da beide Drehbücher von Fulvio Gicca Palli stammen. George Hilton verkörpert mit breitem Grinsen einen Typus, der für jeden Unsinn zu haben ist und nur wenig von einem Revolverheld hat. Entsprechend erinnert Nando Ciceros erster von drei Western zu Beginn eher an eine Komödie, wenn Kitosch mit wechselnden Frauen anbandelt und zwei zusätzliche Peitschenhiebe fordert, als er von seinem Boss Don Jaime Mendoza (Eduardo Fajardo) dafür bestraft wird, dass er mit der Frau eines anderen Cowboys geschlafen hatte - sie wäre es wert gewesen.

Das Blatt wendet sich plötzlich, nachdem er bei der Frau (Pamela Tudor) seines Bosses erwischt wurde. Aus dem bisher eher humorigen Treiben wird ansatzlos blutiger Ernst und Kitosch sieht sich Don Mendoza und seinen Männern gegenüber, die ihn zuerst quälen und dann aufhängen wollen. Selbst die Flucht in den nächsten Ort hilft ihm nicht, da der Sheriff ihn wie einen Verbrecher festnimmt und wieder an Mendoza übergibt. Als sich das Seil schon um seinen Hals zuzieht, taucht der „schwarze Tracy“ (Frank Wolff) auf und rettet ihm das Leben. Ein Moment, der schon in vielen Western das klassische Szenario eines Rachefeldzugs ausgelöst hatte - der „Underdog“ kehrt als inzwischen erfahrener Pistolero zurück und rächt sich an seinen Peinigern. Nicht so in Nando Ciceros ungewöhnlichem Western, der zwei Charaktere in den Mittelpunkt stellt, deren weitere Wege überraschend bleiben.

Besonders dem us-amerikanischen Mimen Frank Wolff, der erstmals in „Salvatore Giuliani“ (Wer erschoss Salvatore G.?) von Francesco Rosi in Italien besetzt wurde – der Beginn einer intensiven Phase im italienischen Film bis zu seinem Selbstmord 1971 – gelingt es der Figur eines sadistischen und rücksichtslosen Killers menschliche Züge zu verleihen. Dank der Rettung Kitoschs vor dem Strang, kann er sich nicht nur dessen Dankbarkeit sicher sein, sondern gewinnt auch Sympathien, trotz seiner wenig fairen Art, Gegner aus dem Hinterhalt zu erschießen. Gefördert wird diese Wirkung mit dem gewohnten Kniff im Italo-Western, die bürgerliche Gesellschaft – hier verkörpert durch den Gutsbesitzer Mendoza und dessen Vasallen – noch brutaler und ungerechter zu charakterisieren als die Gesetzlosen.

Doch der schwarze „Tracy“ hat wenig gemein mit den Revolverhelden eines Clint Eastwood oder Lee Van Cleef, sein wortkarges Auftreten entbehrt jeder Komik oder Coolness und seine Wut ist unbarmherzig. Gemeinsam mit Kitosch macht er sich auf den Weg zu Traps (Maria Grazia Marescalchi), seiner ehemaligen Geliebten, die ihn verraten und ins Gefängnis gebracht hatte. Seine anfänglich noch positive Wirkung wird zunehmend demontiert, denn Tracy erweist sich als unberechenbar und bar jeden moralischen Anstands, ohne sich deshalb in die Massen an eindimensionalen Killern einzureihen, die das Western-Genre bevölkerten. Im Gegenteil erzeugt der von epileptischen Anfällen geplagte, Jedem misstrauenden Mann auch Mitleid, wodurch sich Kitoschs solidarische Haltung zu ihm erklärt.

Der vom uruguayischen Darsteller George Hilton gespielte Kitosch wirkt anfangs unbedarft, fast naiv. Selbst als er von der aufgewiegelten Meute seines Dienstherrn verfolgt wird, wendet er keine Gewalt an, weshalb die Lynchjustiz gegen ihn aus reiner, rachlustiger Willkür geschieht. Erst als ihm Tracy das Schießen beibringen will, beweist Kitosch plötzlich seine überragenden Fähigkeiten mit dem Revolver. Diese Wendung wirkt zuerst wenig nachvollziehbar, relativiert sich aber dadurch, dass er im weiteren Verlauf des Films zuerst noch gewaltlos bleibt. Es ist ein ungewöhnliches Duo, dass Nando Cicero hier auf die Leinwand bringt, bestehend aus dem Sympathieträger des Films und einem Sadisten, dessen brutale Taten Kitosch lange Zeit verborgen bleiben. Dank dieser Konstellation bleibt ihre weitere Vorgehensweise jederzeit unberechenbar, besonders als Kitosch rücksichtsloser und gewalttätiger wird. Nando Cicero scheut sich nicht davor, auch seine Identifikationsfigur in Frage zu stellen und als sich der Kreis schließt und er wieder auf die Ranch seines früheren Bosses Mendoza zurückkehrt, ist die Rollenverteilung keineswegs so eindeutig wie der Beginn des Films erwarten ließ.

Nando Ciceros zweiter Film wirkt vom Aufbau etwas uneinheitlich – erst die komödiantischen Sequenzen, dann die sadistische Treibjagd, bevor die Handlung in eine andere Richtung abdriftet und sich Tracys Rachefeldzug widmet. Erst um Schluss kehrt der Film wieder an seinen Ausgangspunkt zurück, aber unter neuen Vorzeichen. Trotzdem bleibt "Il tempo degli avvoltoi" jederzeit schlüssig in der Entwicklung des Konfliktes zwischen Kitosch, dem „Schwarzen Tracy“ und einem von Egoismen und Verlogenheit geprägten Umfeld. Begleitet von Piero Umilianis Filmmusik, die weniger einzelne Szenen betont, als den Charakter des Films widerspiegelt, entsteht große Spannung aus einer Situation, deren Ausgang nicht vorauszusehen ist. Cicero und seinem Drehbuchautor Fulvio Gicca Palli gelang ein außergewöhnlich guter Beitrag zum Italo-Western-Genre, der sich nicht an den typischen Erwartungshaltungen orientierte.

"Il tempo degli avvoltoi" Italien 1967, Regie: Nando Cicero, Drehbuch: Fulvio GiccaDarsteller : George Hilton, Frank Wolff, Pamela Tudor, Eduardo Fajardo, Femi Benussi, Laufzeit : 92 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Nando Cicero:

Freitag, 22. März 2013

Delitto d'amore (Ein Verbrechen aus wahrer Liebe) 1974 Luigi Comencini


Inhalt: Der Arbeiter Nullo Branzi (Giuliano Gemma) geht durch eine aufgebrachte Menschenmenge vor einer Fabrik, zieht eine Pistole und schießt.

Wenige Monate zuvor hatte er Carmela Santoro (Stefania Sandrelli) getroffen, eine junge Frau, die nicht in seiner Schicht arbeitete und gerade nach Hause gehen wollte. Spontan war er ihr bis in die ärmliche Wohngegend gefolgt, in der die Familien aus dem Süden Italiens wohnen, die in den Norden kommen, um Arbeit zu finden. Dort erfuhr er, dass sie aus Sizilien stammt und schon lange heimlich in ihn verliebt sei, was sie aber nicht davon abhielt, ihn unvermittelt stehen zu lassen.

So leicht wollte sich Nullo nicht abwimmeln lassen und bemühte sich, in ihre Schicht zu kommen. Doch bevor ihm das gelang, war sie schon in seine Schicht gewechselt und musste dafür stundenlang an der Maschine bei giftigen Dämpfen arbeiten. Die Arbeiterinnen erhielten Milch gegen die Kontamination, aber Carmela trank sie nicht, um sie ihren jüngeren Geschwistern mitbringen zu können. Auch ihre sizilianische Herkunft erschwerte das weitere Kennenlernen zwischen ihr und Nullo, da ihr großer Bruder eifersüchtig über sie wachte, aber trotzdem näherten sie sich weiter an...


Nachdem Luigi Comencini Anfang der 70er Jahre für das italienische Fernsehen gearbeitet hatte, stieg er 1972 mit "Lo scopone scientifico" (Teuflisches Spiel) wieder in gewohnter Weise in die politisch aufgeheizte Atmosphäre Italiens ein - mit einer "Commedia all'italiana", die die Realität unter dem Deckmäntelchen des Lustspiels offen legte, ähnlich seinem ersten großen Erfolg "Pane,amore e fantasia" (Liebe, Brot und Fantasie) im Jahr 1953. Mit "Mio Dio come sono caduta in basso!" (Wie tief bin ich gesunken, 1974) und "La donna della domenica" (Die Sonntagsfrau, 1975) folgten weitere Komödien, bevor er gemeinsam mit Mario Monicelli, Ettore Scola, Nanni Loy und Luigi Magni den satirischen Episodenfilm "Signore e signori, buonanotte" (1976) verfasste und drehte.

"Delitto d'amore" (Ein Verbrechen aus wahrer Liebe) entstand 1974 zwischen diesen komödiantischen Werken und bildete mit seinem ernsten, realistischen Gestus eine Ausnahme. Es bleibt Spekulation, ob sich Luigi Comencini, der seine Gesellschaftskritik in der Regel verklausulierte, von den damaligen politischen Auseinandersetzungen mitreißen ließ, denn er wählte als Hintergrund für seine Geschichte die Situation der Arbeiter in einer norditalienischen Industriestadt und beschreibt deren Lebens- und Arbeitsbedingungen nahezu dokumentarisch. Zudem verknüpfte er diese mit der Problematik der Süditaliener, die gezwungen waren in den Norden auszuwandern, um Arbeit zu finden. Die kulturellen Unterschiede, besonders hinsichtlich der Emanzipation der Frauen, waren eklatant, was die Vorbehalte der Einheimischen gegenüber den Zuwanderern noch bestärkte.

Die Familie des männlichen Protagonisten Nullo Branzi (Giuliano Gemma) nimmt entsprechend kein Blatt vor den Mund in ihrer Meinung über die Menschen aus dem Süden, die sie für schmutzig und faul halten. Da diese sich die Mieten in der Großstadt nicht leisten können, leben sie in außerhalb gelegenen Ghettos, ohne fließendes Wasser und in zu beengten Verhältnissen. Zwar wohnt Branzi mit seinen Eltern und Geschwistern in einem modernen Gebäude, aber die vollständig gefliesten Wände der Wohnung und das nüchterne Ambiente der Satellitenstadt hinterlassen den ähnlich pragmatischen Eindruck eines Lebens, dass nur von der Arbeit bestimmt wird.

Neben den harten Arbeitsbedingungen, denen die Frauen und Männer im Schichtbetrieb am Fließband ausgesetzt sind, lässt der Film auch die Umweltverschmutzung deutlich werden, die ungehemmt in Kauf genommen wurde. Comencinis Bilder verschmutzter Seen oder toter Vögel waren zum damaligen Zeitpunkt noch unüblich, da sie generell als Folge der Industrialisierung angesehen wurden. Auch von Nullo Branzi, der es gegenüber Carmela (Stefania Sandrelli) zwar bedauert, dass die wunderschöne Gegend, die er ihr zeigen wollte, inzwischen im Müll versinkt, der aber wie alle akzeptiert, dass die Frauen Milch am Arbeitsplatz gegen die giftigen Dämpfe bekommen, denen sie ausgesetzt sind. Selbst für die kommunistische Partei, die damals unter den Arbeitern sehr stark vertreten war - auch Branzi ist Genosse - und deren Diskussionen im Film einigen Raum einnehmen, ist die Umweltverschmutzung noch kein Thema - bis ein Unglück geschieht.

Obwohl nur wenige Filme ein ähnlich realistisches Bild der Lebensbedingungen der Arbeiter in den frühen 70er Jahren zeichneten, gilt "Delitto d'amore" nicht als speziell gesellschaftskritischer Film und gewann auch keine Auszeichnungen - im Gegensatz zu Comencinis zuvor gedrehter Komödie "Lo scopone scientifico", die heute als einer der besten 100 Filme Italiens angesehen wird und einige Preise erhielt. Zu verdanken ist diese zu unrecht fehlende Anerkennung der Liebesgeschichte zwischen Nullo Branzi und der Süditalienerin Carmela, die im Mittelpunkt des Films steht. Ausführlich widmet sich Comencini ihrer ersten Begegnung und ihrer beginnenden Liebe, die besonders von Carmelas wechselnden Hochs und Tiefs bestimmt wird. Während Giuliano Gemma jederzeit souverän agiert, übertreibt Stefania Sandrelli bewusst ihre schwer vorhersehbaren emotionalen Reaktionen, als Zeichen für den Druck, unter dem sie steht.

In ihrer Figur kulminieren sämtliche Konflikte - der Gegensatz zwischen den Traditionen ihrer Heimat und den liberalen Moralvorstellungen im Norden, ihr Außenseiterrolle in der Fremde, der wirtschaftliche Zwang bei schlechten Bedingungen arbeiten zu müssen, bis zu ihrem katholischen Glauben, der ihr eine kirchliche Trauung vorschreibt, während ihr Geliebter atheistisch erzogen wurde. Die Konsequenzen daraus lassen sich nicht verhindern, bis es zu der Situation kommt, die der Film in seiner ersten Szene zeigt. Nullo Branzi durchquert eine aufgebrachte Menschenmenge und zieht eine Waffe, bevor der Film beginnt die Entwicklung bis zu diesem Moment zu beschreiben.

Diese dramatisierende Konzeption drängt die vielen realistischen Details des Alltags in den Hintergrund und versucht nicht, mögliche politische Lösungen heraus zu arbeiten, sondern geht gemeinsam mit Nullo Branzi dessen Weg einer persönlichen Abrechnung, nicht ohne Grund die Folgen daraus weglassend. Denn "Delitto d'amore" ist ein emotionaler Film, der durch die Identifikation mit den Liebenden erfahrbar werden lässt, wozu Intoleranz, Armut, Ausbeutung und rücksichtslose Umweltverschmutzung führen können. Anders als in den Polit-Thrillern eines Damiano Damiani oder den um Objektivität bemühten Analysen eines Francesco Rosi, spielen nicht die Missstände die Hauptrolle, sondern die Liebe zwischen Carmela und Nullo - die Realität bildet nur den Rahmen für ihre Begegnung, aber das macht sie nicht weniger bedrückend.

"Delitto d'amore" Italien 1974, Regie: Luigi Comencini, Drehbuch: Luigi Comencini, Ugo Pirro, Darsteller : Stefania Sandrelli, Giuliano Gemma, Brizio Montinaro, Cesira Abbiati, Pippo Starnazza, Laufzeit : 97 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luigi Comencini:

Montag, 18. März 2013

I pugni in tasca (Mit der Faust in der Tasche) 1965 Marco Bellocchio


Inhalt: Lucia (Jeannie McNeil) zeigt ihrem Freund Augusto (Marino Masé) einen anonymen Brief, den sie erhalten hatte. Dort wird ihr nahe gelegt, sich von Augusto zu trennen, da die Absenderin von ihm schwanger wäre und er zu ihr gehören würde. Augusto weiß sofort, dass nur Giulia (Paola Pitagora) die Verfasserin des Pamphlets sein kann, seine jüngere Schwester, die das auch gar nicht leugnet. Sie hätte es nur gut mit ihm gemeint, da sie Lucia und seine Beziehung zu ihr nicht mag.

Neben seiner psychisch labilen Schwester und dem geistig zurück gebliebenen Bruder Leone (Pier Luigi Troglio), gehören noch seine blinde Mutter (Liliana Gerace) und Alessandro (Lou Castel), sein intelligenter, aber an epileptischen Anfällen und krankhaftem Narzissmus leidender Bruder, zu seiner Familie, für die sich Augusto verantwortlich fühlt. Er würde gerne mit Lucia in die nahe gelegene Stadt ziehen, kann sich aber keine Wohnung leisten und lässt deshalb die übrigen Familienmitglieder spüren, dass er der Einzige ist, der sich normal integrieren kann. Alessandro leidet unter der Unzulänglichkeit seiner Familie und fasst einen Plan, wie er seinen Bruder davon befreien kann...


"I pugni in tasca" (Mit der Faust in der Tasche) war völlig neuartig - ein Film, der unmittelbar auf die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, Mitte der 60er Jahre, reagierte. Marco Bellocchio führte in seinem ersten Film, den er nur mit der Unterstützung seiner Familie produzieren konnte, die gegensätzlichen Strömungen seiner Zeit zusammen, und ließ daraus ein verstörendes, explosives Gemisch werden, dass die kommenden Ereignisse der späten 60er Jahre in verklausulierter Form voraus sah.

Lou Castel, der in Kolumbien geborene schwedisch stämmige Darsteller, trat in "I pugni i tasca" ebenfalls erstmals in Erscheinung und ist die Idealbesetzung eines Typus, der die von Marlon Brando oder James Dean verkörperten zornigen jungen Männer der 50er Jahre in einen verzweifelten, ohne heldenhafte Attitüde auskommenden Charakter umwandelte, der nur noch mit Zerstörungswut auf eine vergängliche, krankhafte Umgebung reagieren kann. Sein klar gezeichnetes Gesicht, seine ruhige, nach außen hin cool wirkende Art und sein antibürgerliches Verhalten könnten ihn zum klassischen Rebellen werden lassen, zur Identifikationsfigur des Films, aber sein Gemüt ist schon gezeichnet von den ihn umgebenden Verhältnissen. Regelmäßig treiben ihn Anfälle an den Rand des Wahnsinns und sein emotionales Empfinden ist gestört, gezeichnet von einem krankhaften Narzissmus.

Die Rebellen der 50er Jahre waren positiv besetzte Figuren, ihr Aufstand galt einer konservativen Nachkriegsgesellschaft und beschwor die Zukunft einer aufstrebenden Jugend. Davon ist in Bellocchios Films nichts mehr zu spüren, denn die junge Generation beschreitet längst den Weg der Anpassung. Verkörpert wird sie in "I pugni in tasca" von Augusto (Marino Masé), dem Einzigen in seiner Familie ohne offensichtliche Disfunktion. Er hat einen Job, ein Auto und eine Freundin (Jeannie McNeil), die er heiraten möchte. Seine Welt und die seiner Freunde wird schon von den Insignien der Moderne bestimmt, aber ihre Bedürfnisse bleiben konservativ. Dass Augusto nicht sofort in die nahe gelegene Stadt zieht, liegt einzig an seiner Familie, um die er sich kümmern muss. Dahinter verbirgt sich kein Altruismus, sondern das Gefühl der Überlegenheit, dass er seine Mutter und die drei jüngeren Geschwister spüren lässt, wenn er im Stil eines Patriarchen die Vorgänge in dem alten Familienstammsitz, der einsam in den Bergen der Emilia-Romagna gelegen ist, bestimmt.

Zuerst noch eine angenehme, nachvollziehbare Figur, wird Augusto zunehmend zum Stellvertreter einer Generation, die sich nur noch für ihre eigenen Belange interessiert. Häufig wird Bellocchios Film deshalb als Darstellung einer sich verändernden Sozialisation interpretiert - weg von den früheren Familienstrukturen, hin zu einer hedonistischen Lebensform - aber "I pugni in tasca" geht deutlich darüber hinaus. Die weiteren Familienmitglieder stehen stellvertretend für eine krank gewordenen Gesellschaft. Die blinde Mutter (Liliana Gerace), ist das Sinnbild einer älteren Generation, die weder in der Lage ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten, noch auf die Gegenwart zu reagieren. Der freundlichste Charakter, der jüngste Sohn Leone (Pier Luigi Troglio), ist geistig behindert und seine emotional labile Schwester Giulia (Paola Pitagora) versucht mit einem anonymen Brief die Beziehung Augustos zu dessen Freundin zu zerstören und steht in einer inzestiösen Beziehung zu Alessandro.

Bellocchio erzählt nicht immer linear, springt zeitlich zurück oder visualisiert Phantasien, verdichtet seinen Film damit zum Blickwinkel Alessandros und dessen Wahrnehmung seiner Umgebung. In einer zentralen Szene des Films nimmt Augusto ihn mit auf eine Party. Junge Leute, moderne Musik und ein lockerer Umgang zwischen den Geschlechtern, aber Alessandro bleibt ein Fremdkörper. Ein Mädchen interessiert sich für ihn, aber er kann sich nicht darauf einlassen. Er begehrt nicht auf, wählt keine offene Konfrontation oder provoziert bewusst, sondern versucht im Gegenteil, zu konservieren, was ihn krank werden ließ. Um das "normale" Leben seines Bruders zu ermöglichen, beginnt er alles zu zerstören, was diesen daran hindern könnte - auch sich selbst.

Bellocchios Film war zu seiner Entstehungszeit eine Provokation, aber die Wirkung, die von dessen Protagonisten damals ausging, erschließt sich noch heute und hat ihre generelle Bedeutung bewahrt. Die Figur des Alessandro ist Anpassung und Protest, Erhalt und Zerstörung zugleich, versinnbildlicht von einer großartigen Musik Ennio Morricones, die Schönheit und Wahnsinn miteinander verbindet. "I pugno in tasca" kann keine Erlösung bringen, endet mit einer Zerrissenheit, die kurz vor der Explosion zu stehen scheint und damit ein Zeitgefühl wiedergibt, dass wenige Jahre später zu weltweiten Protesten führen sollte. Einen Zustand erst zu ermöglichen, an dem man gleichzeitig leidet, hat daran nichts geändert.

"I pugni in tasca" Italien 1965, Regie: Marco Bellocchio, Drehbuch: Marco BellocchioDarsteller : Lou Castel, Paola Pitagora, Marino Masé, Liliana Gerace, Jeannie McNeil, Laufzeit : 103 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Marco Bellocchio:

"La Cina è vicina" (1967)

Mittwoch, 13. März 2013

Perché si uccide un magistrato (Warum musste Staatsanwalt Traini sterben?) 1974 Damiano Damiani


Inhalt: Aufgeregt kommt ein Mitarbeiter des Staatsanwalts Traini (Marco Guglielmi) in dessen Büro, um ihn darüber zu informieren, dass er den Regisseur Giacomo Solaris (Franco Nero) wegen Beleidigung des Gerichts und des Staatsanwalts verklagen will. Traini lässt sich Solaris’ Film vorführen und reagiert gelassen auf die darin enthaltenen Vorwürfe gegen ihn, er ließe sich von der Mafia bestechen. Dass er zudem am Ende des Films stirbt, erzeugt eher Neugier, weshalb er Solaris zu einer Abendveranstaltung in seine Villa einlädt.

Solaris nimmt die Einladung an und begegnet im Haus des Staatsanwalts diversen Abgeordneten und dem Rechtsanwalt Meloria (Luciano Catenacci), denen Kontakte zur Mafia nachgesagt werden. Gegenüber Traini verteidigt er seinen Film, was diesen nicht von der großzügigen Geste abhält, die Anklageschrift vor seinen Augen zu zerreißen. Einzig dessen Ehefrau, Antonia Traini (Françoise Fabian), drückt ihr Missfallen gegenüber Solaris aus und bittet ihn, ihr Haus wieder zu verlassen. Diese Reaktion lässt dem Regisseur keine Ruhe, weshalb er versucht, Signora Traini dazu zu überreden, sich die Beweise seiner Vorwürfe anzusehen…


"Perché si uccide un magistrato" (Warum musste Staatsanwalt Traini sterben?) war 1974 nicht nur Damiano Damianis letzter Film mit Franco Nero, sondern der Beginn einer dreijährigen Phase, bevor er 1977 mit "Io ho paura" (Ich habe Angst) erneut einen kritischen Blick auf die politischen Verhältnisse in Italien werfen sollte. Dieser zeitliche Abstand erscheint aus heutiger Sicht überraschend, da Damiani, beginnend mit "Il giorno della civetta" (Der Tag der Eule, 1968) schon früh auf die Unterwanderung des politischen Systems durch die Mafia reagiert hatte. Mit "Confessione di un commissariodi polizia al procuratore della repubblica" (Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert) und "L'istruttoria è chiusa: dimentichi" (Das Verfahren ist eingestellt: Vergessen Sie's) legte er bereits 1971 zwei das Genre prägende Filme nach, die verdeutlichten, wie weit die Korruption und damit der Einfluss des organisierten Verbrechens in die italienische Gesellschaft vorgedrungen war.

Damit befand er sich auf der Höhe der Zeit, denn Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre wurde Italien von Massenstreiks, Studentenunruhen und Bombenanschlägen erschüttert, aber die "Anni piombo" (Bleiernen Jahre) hatten gerade erst begonnen und sollten das Land noch jahrelang mit einer hohen Kriminalitätsrate, Terrorismus und unsicheren politischen Verhältnissen im Griff behalten, worauf Damiani später mit "Io ho paura" reagieren sollte. "Perché si uccide un magistrato" wirkte dagegen geradezu handzahm in seiner sprachintensiven, intellektuellen Umsetzung, während gleichzeitig die Hochphase der "Polizieschi" im italienischen Film begann, die die Ängste der Gesellschaft in sehr direkter Form widerspiegelten.

Schon in seinen früheren Polit-Filmen lag Damianis Gewicht vermehrt auf den Dialogen, streute er nur wenige Action-Szenen ein, aber die unmittelbare Bedrohung für seine Protagonisten blieb immer spürbar. "Perché si uccide un magistrato" beginnt stattdessen wie ein Kammerspiel, als sich zu Beginn der Staatsanwalt Traini (Marco Guglielmi) den Film vorführen lässt, der in seiner Behörde für viel Aufregung sorgt. Der Regisseur Giacomo Solaris (Franco Nero) hatte ihn darin angegriffen, sich von der Mafia kaufen zu lassen und Verbrechen zu vertuschen. Als Konsequenz ließ Solaris ihn am Ende sogar sterben, ermordet von denen, die ihn zuvor bestochen hatten. Doch Traini reagiert souverän, lädt den Regisseur sogar zu einem Abendessen in seine Villa in Palermo ein, wo Solaris auch jene Politiker und Juristen antrifft, die im Verdacht stehen, mit der Mafia zusammen zu arbeiten. Einzig Trainis Ehefrau Antonia (Françoise Fabian) gefällt seine Anwesenheit nicht und wirft ihm vor, ihren Mann zu Unrecht zu verunglimpfen. 

Häufig wird "Perché si uccide un magistrato" als schwächster der vier Polit-Filme mit Franco Nero betrachtet, auch weil Damiani sich thematisch zu wiederholen schien, aber das täuscht. Es ist ein Spiel mit verschiedenen Ebenen, das der Regisseur hier treibt, und das als Reflexion auf seine vorherigen Mafia-Filme zu verstehen ist. Solaris dabei nur als Alter-Ego Damianis zu verstehen, wäre zu einfach, auch wenn die Konstellation des "Films im Film" eine selbstironische Auseinandersetzung mit der Frage nach der Wirkung eines Politfilms und dessen Wahrheitsgehalt ist. Viel mehr nutzt Damiani den Charakter des Regisseurs als Deckmantel für seine unterschwellige Intention.

Dass dieser vor allem Antonia Traini, die solidarische Ehefrau des Beschuldigten, von der Richtigkeit seiner Thesen überzeugen will, verdeutlicht den besonderen Wert, den ihre Meinung für ihn hat. Entsprechend viel Raum nimmt ihr Dialog in Damianis Film ein, besonders nachdem der Staatsanwalt erschossen auf einem Parkplatz aufgefunden wurde, womit Solaris'  Voraussage zur Realität geworden ist. Er ist davon überzeugt, dass die Mafia Traini ermorden ließ, weshalb ihn die Verhaftung eines Parkplatzwächters sehr erregt, der als Bauernopfer auserkoren wurde, um die wahren Täter laufen zu lassen. Vordergründig schlüpft Franco Nero wieder in die Rolle des einsamen Aufklärers, aber Damiani nutzt dessen Aktionismus nur dafür, die wesentlichen Ereignisse im Hintergrund abspielen zu lassen.

Ganz selbstverständlich findet der Kontakt zwischen dem zwielichtigen Anwalt Meloria (Luciano Catenacci), der auch Senora Traini vertritt, und dem von der Polizei gesuchten Mafia-Boss Bellolampo (Sergio Valentini) statt, der jedesmal gewarnt wird, wenn eine Razzia gegen ihn geplant ist. Ebenso nutzen die Abgeordneten Ugo Selimi (Elio Zamuto) und Derrasi (Giancarlo Badessi), zu deren Bekanntenkreis selbstverständlich auch der Anwalt gehört, ihre Beziehungen, um gegeneinander Stellung zu beziehen, obwohl sie letztlich alle im selben Boot sitzen. Wenn für die eigenen Interessen notwendig, wird unauffällig oder ganz öffentlich gemordet, ohne das die Taten aufgeklärt werden. Solaris selbst ist dagegen nie in Gefahr, woran deutlich wird, dass seine Suche nach dem Mörder Trainis trotz kleinerer Erkenntnisse nicht als ernste Bedrohung angesehen wird.

Mit dieser Konstellation gelang es Damiano Damiani, fast nebenbei die vollständige Infiltrierung einer Gesellschaft durch die Mafia darzustellen. Weder Solaris' Film, noch sein aufklärerisches Bemühen, konnten ein selbstverständlich gewordenes System verunsichern, dass notfalls in den eigenen Reihen für Ordnung sorgt, indem es schwache Mitglieder opfert. Das sie am Ende nicht einmal dazu gezwungen werden, weil die Lösung des Mordes von alltäglicher Profanität ist, ist letztlich nicht mehr entscheidend. So oder so wären die Mechanismen der Macht nicht in Gefahr geraten - Solaris hatte von Beginn an keine Chance.

Darin unterscheidet sich Damianis vierter Politfilm mit Franco Nero von seinen drei Vorgängern, indem er selbst die vage Illusion, mit moralischem Anstand, Unbestechlichkeit oder Kampfeswille ließe sich noch etwas bewegen, zerstört, womit er inhaltlich schon auf seinen folgenden Polit-Thriller "Io ho paura" verweist. Gleichzeitig entwirft "Perché si uccide un magistrato" damit hintergründig das Bild einer korrupten Gesellschaft, an dessen Richtigkeit kein Zweifel mehr bleibt.

"Perché si uccide un magistrato" Italien 1974, Regie: Damiano Damiani, Drehbuch: Damiano Damiani, Enrico RibulsiDarsteller : Franco Nero, Francois Fabian, Marco Gugliemi, Luciano Catenacci, Elio Zamuto, Laufzeit : 105 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Damiano Damiani:

Montag, 11. März 2013

Damiano Damiani (1922 - 2013) Regista / Regisseur


Zum Tode Damiano Damianis am 07.03.2013


Dass Damiano Damiani, geboren am 23.07.1922 in Pasiane Di Pordenone im Friaul, mit 90 Jahren ein hohes Alter erreichte als er am 07.03.2013 in Rom starb und auf ein umfangreiches Werk zurücksehen konnte, lässt vergessen, das er erst relativ spät, 1960 mit Ende 30, seine erste Regiearbeit mit „Il rossetto“ (Unschuld im Kreuzverhör) ablieferte. Elio Petri, der ein Jahr später seinen ersten Film drehte („L’assassino“ (Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?)), war Jahrgang 1929 und gleichaltrige Zeitgenossen wie Federico Fellini (Jahrgang 1920) und Francesco Rosi (Jahrgang 1922) hatten schon deutlich früher begonnen als Regisseur zu arbeiten. Die Hochphase seines Schaffens lag zudem schon einige Zeit zurück, denn den größten Teil seiner Kinofilme – 20 von 28 – drehte er in den Jahren 1960 bis 1980, während er später häufig für das Fernsehen arbeitete, darunter seine Mini-Serie „La piovra“ (Allein gegen die Mafia, 1984), mit der sein Name heute hauptsächlich in Verbindung gebracht wird, obwohl er nur für die erste Staffel verantwortlich war und eine weitere Zusammenarbeit an der noch viele Jahre laufenden Serie ablehnte.

Der Vergleich mit den Regie-Kollegen Elio Petri, Federico Fellini und Francesco Rosi drängt sich in mehrfacher Hinsicht auf. Wie sie war er früh (1946) nach Rom gekommen, nachdem er zuvor an der Kunsthochschule „Accademia di Brera“ in Mailand studiert hatte, und wie sie hatte er unter dem Einfluss des Neorealismus als Drehbuchautor zu arbeiten begonnen. Neben Cesare Zavattini, dem einflussreichsten Autor dieser Phase („Ladri di biciclette“ (Fahrraddiebe, 1948)), mit dem er bei „Pievuto al cielo“ (Gauner mit Herz, 1953) zusammen arbeitete und der auch das Drehbuch zu seinen ersten drei Filmen (Neben „Il rossetto“ noch „Il sicario“ (Das bittere Leben, 1961) und "L'isola di Arturo" (Insel der verbotenen Liebe, 1962)) mit verfasste, beeinflusste ihn die Bekanntschaft zu Luigi Comencini, Alberto Lattuada und nicht zuletzt Pietro Germi („In nome della legge“ (Im Namen des Gesetzes, 1949), der an den beiden ersten Filmen Damianis als Darsteller mitwirkte, eine für ihn ungewöhnliche Ausnahme. Zudem gehörte er zum Freundeskreis von Alberto Moravia und dessen damaliger Frau Elsa Morante, was sich in den Verfilmungen „L’isola di Arturo“ (Insel der verbotenen Liebe, 1962, nach Elsa Morante) und „La noia“ (Die Nackte, 1964, nach Alberto Moravia) niederschlug.

Neben Francesco Rosi, Elio Petri und Costa-Gavras wurde Damiano Damiani zum führenden Vertreter des politischen Films der späten 60er und 70er Jahre, gehörte zu den Unterzeichnern des politischen Manifestes „Documenti su Giuseppe Spinelli“ (1970) und verfilmte eine Vorlage des aus Sizilien stammenden, gesellschaftskritischen Autors Leonardo Sciascia („Il giorno della civetta“ (Der Tag der Eule, 1968), aber damit enden die Gemeinsamkeiten, zumindest in der Anerkennung der Filmkritik. Während seine Kollegen die wichtigsten Filmpreise in Cannes, Berlin oder Hollywood einheimsten, gewann Damiani nur mit „L’isola di Arturo“ 1962 den Preis des Festivals von San Sebastian. So überrascht es auch nicht, dass es keiner seiner Werke in die Liste der 100 wichtigsten italienischen Filme der Jahre 1942 bis 1978 geschafft hat, die von einer italienischen Expertenrunde aufgestellt wurde. Neben „Allein gegen die Mafia“ wird sein Schaffen in der Regel auf die vier politisch ambitionierten Filme mit Franco Nero in der Hauptrolle reduziert, die er zwischen 1968 und 1974 drehte und die je nach Standpunkt anerkennend bis spöttisch auch als „Paranoia“-Kino bezeichnet werden.

Bevor er selbst begann, Regie zu führen, hatte Damiano Damiani sich in den späten 50er Jahren dem reinen Unterhaltungskino zugewandt und Drehbücher für die damals populären Abenteuer- und Sandalen-Filme wie „Erode il grande“ (Herodes – Blut über Jerusalem, 1959) verfasst, was sein Image frühzeitig prägte. Dagegen waren seine ersten drei Filme, heute unter dem Begriff „Trilogia psicologica“ (Psycholgische Trilogie) zusammen gefasst, sensibel inszenierte Dramen, in denen die Nähe zum Neorealismus noch spürbar wurde, die in Deutschland aber unbekannt blieben oder nur unter reißerischen Titeln wie „Insel der verbotenen Liebe“ erschienen. Tatsächlich blieb Damiani einer Mischung aus Unterhaltungskino und Gesellschaftskritik treu, sichtbar auch an seinem einzigen Italo-Western „Quin sabe“ (Töte Amigo, 1967), der einer der ersten Revolutions-Western wurde und sich als unmittelbarer Kommentar zum us-amerikanischen Eingreifen in Vietnam verstand. Mit „Quin sabe“ und „Il giorno della civetta“ begann eine lange Phase des politischen Films, die weit mehr Werke umfasst als die 1971 erschienenen „L’istruttoria è chiusa: dimentichi“ (Das Verfahren ist eingestellt: Vergessen sie’s) und „Confessione di un commissario di polizia al procuratore della repubblica“ (Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert) und seinen letzten Film mit Franco Nero „Perché si uccide un Magistrato?“ (Warum musste Staatsanwalt Traini sterben?) von 1974.

Diese Filme verbanden die Kritik an der Unterwanderung des juristischen und politischen Systems durch die Mafia mit einer spannenden Story, in deren Mittelpunkt ein einzelner Mann gegen eine unüberwindlich scheinende Übermacht kämpfte. Aber Damiani betrachtete das System der Mafia auch von innen heraus („La moglie è piu bella“ (Recht und Leidenschaft, 1970)) oder vermittelte mit dem in den 1920er Jahren während des Faschismus spielenden „Girolimoni, il mostro di Roma“ (Girolimoni - das Ungeheuer von Rom, 1972) die gesellschaftlichen Strukturen, die erst das mafiöse System ermöglichten. Die Popularität der trotz ihrer kritischen Haltung kämpferischen Filme mit Franco Nero, ließ diese weniger plakativen Werke in Vergessenheit geraten, wie auch seine späteren Polit-Thriller „Io ho paura“ (Ich habe Angst, 1977) mit Gian Maria Volonté und „Un uomo in Ginocchio“ (Ein Mann auf den Knien, 1979) mit Giuliano Gemma die Thematik noch differenzierter und pessimistischer betrachteten und keinen Helden mehr vorsahen, der die Sache irgendwie richten konnte – und sei es in moralischer Hinsicht.

Während es heute akzeptiert ist, dass ein Regisseur auch Auftragsarbeiten übernimmt, um sich dann wieder ehrgeizigeren und weniger populären Stoffen zuzuwenden, war diese Vorgehensweise in den 70er Jahren noch ungewöhnlich, weshalb Damianis Regiearbeiten zu „Un genio, due compari, un pollo“ (Nobody ist der Größte, 1975) oder „Amityville II: the possession“ (Amityville 2: der Besessene, 1982) seiner Reputation als gesellschaftskritischem Autorenfilmer eher schadete. Entscheidender für die mangelnde Anerkennung seiner mutigen, konsequenten Filme durch die Filmkritik blieb aber die Emotionalität, die alle seine Filme auszeichnete. So demaskierend er die Mechanismen eines von Korruption und Vorteilsnahme zerrütteten Systems offenbarte, so wichtig blieb ihm immer die Identifikation mit den Menschen, die er in den Mittelpunkt stellte. An ihrem persönlichen Schicksal ließ er die Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit erfahrbar werden, erzeugte er Anteilnahme und Mitgefühl. Das verlieh seinen Filmen eine Subjektivität und Direktheit, die angreifbar ist, die aber Demjenigen, der sie einmal erfahren hat, in Erinnerung bleiben wird.

Damiano Damiani - seine Filme bis 1980:

"Il rossetto" (Unschuld im Kreuzverhör, 1960)
"Il sicario" (Das bittere Leben, 1961)
"L'isola di Arturo" (Insel der verbotenen Liebe, 1962)
"La rimpatriata" (Wiedersehen für eine Nacht, 1963)
"La noia" (Die Nackte, 1963)
"La strega in amore" (Hexe der Liebe, 1966)
"Quien sabe" (Töte Amigo,1966)
"Il giorno della civetta" (Der Tag der Eule, 1968)
"Una ragazza piuttosto complicata" (1969)
"La moglie più bella" (Recht und Leidenschaft, 1970)
"Confessione di un commissario di polizia al procuratore della republicca" (Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert, 1971)
"L'isttruttoria è chiusa: dimentichi" (Das Verfahren ist eingestellt: Vergessen Sie's!, 1971)
"Girolimoni, il mostro di Roma" (Girolimoni - das Ungeheuer von Rom, 1972)
"Il sorriso del grande tentatore" (Verbannt, 1974)
"Perche si uccide un magistrato" (Warum musste Staatsanwalt Traini sterben?,1974)
"Un genio, due compari, un pollo" (Nobody ist der Größte, 1975)
"Io ho paura" (Ich habe Angst, 1977)
"Goodbye e amen" (Goodbye und Amen, 1978)
"Un uomo in ginocchio" (Ein Mann auf den Knien, 1979)
"L'avvartimento" (Die tödliche Warnung, 1980)

Samstag, 9. März 2013

I vampiri (Der Vampir von Notre Dame) 1956 Riccardo Freda, Mario Bava


Inhalt: Auf der Seine wird eine tote junge Frau gefunden, was die Pariser Presse erneut dazu veranlasst, reißerische Überschriften über einen mörderischen Vampir zu veröffentlichen, da die Körper kein Blut mehr aufwiesen. Für Inspector Chantal (Carlo D'Angelo) sind diese  Schlagzeilen eher hinderlich, weshalb er sich über den Journalisten Pierre Lantin (Dario Michaelis) ärgert, der sich in seine Arbeit einmischt und eigene Nachforschungen betreibt.

Beide können aber nicht verhindern, dass bald schon die nächste junge Frau verschwindet, aber Lantin entdeckt eine Spur, als er auf dem letzten Foto der Entführten, dass ihr Verlobter aufgenommen hatte, einen Mann im Hintergrund entdeckt. Als er Lorette (Wandisa Guida), einer Kommilitonin, das Foto zeigt, glaubt diese, den Mann identifizieren zu können. Seinen Kontakt zu der jungen Frau hatte auch Giselle (Gianna Maria Canale) beobachtet, die in Lantin verliebt ist, obwohl dieser ihre Gefühle ablehnt. Wenig später wird auch Lorette entführt…


"I vampiri" (Der Vampir von Notre Dame) verdankt einigen Besonderheiten seine generelle Bedeutung - speziell für das Horror-Genre im italienischen Film nach dem Krieg, als dessen erster Vertreter er gilt. Riccardo Freda, verantwortlich für das Drehbuch und die Regie, hatte sich schon seit den frühen 40er Jahren einen Namen gemacht mit Verfilmungen von Klassikern ("Aquila nera" (Schwarzer Adler, 1946) nach Alexander Puschkin) oder Historienfilmen wie "Teodora, imperatrice di Bisanzio" (Theodora - Kaiserin von Byzanz, 1954). Sein Stil konnte sich in dieser Phase gegenüber dem "Neorealismus" behaupten, was ihn nicht daran hinderte, eng mit Mario Monicelli und Steno zusammen zu arbeiten, deren Wurzeln im Neorealismus zu finden sind. Sie wirkten unter anderen an den Drehbüchern zu "Il cavaliere misterioso" (Der geheimnisvolle Chevalier, 1948) oder "Il tradimento" (1951) mit.

Bei "Il tradimento" handelt es sich um ein Justiz-Drama über die Rache eines unschuldig verurteilten Mannes nach einer langen Gefängnisstrafe. Der Anlass für die im Film erzählten Ereignisse liegt viele Jahre zurück, worin sich Parallelen zu "I vampiri" zeigen, der wie eine Symbiose aus Historiendrama und modernem Thriller erscheint. Entgegen der Erwartung verkörpern die titelgebenden "Vampire" die Gegenwart als Teil einer sensationsgierigen Berichterstattung über die Morde an jungen Frauen, die blutleer aufgefunden wurden. Entsprechend genervt reagiert Inspector Chantal (Carlo D'Angelo) auf den Journalisten Pierre Lantin (Dario Michaelis), dessen Nachforschungen er nicht nur für hinderlich hält, sondern ausschließlich im Interesse an weiteren Schlagzeilen motiviert sieht.

"I vampiri" beginnt wie ein klassischer Polizeifilm mit einer genauen Untersuchungen der zuletzt aufgefundenen Leiche bis die nächste junge Frau in den Fokus des geheimnisvollen Täters gerät. Die Inszenierung des Überfalls - der nahende Schatten eines Mannes, die Einsamkeit der ahnungslosen jungen Frau, die ablenkenden Schreckensmomente bis zur Überwältigung des Opfers - trägt schon eindeutige Merkmale eines "Giallo" und verweist damit auf die Handschrift des Kameramannes Mario Bava, der erstmals als Regisseur die Dreharbeiten von Freda übernahm und den Film beendete. Noch prägnanter wird sein optischer Stil sichtbar, sobald "I vampiri" in die parallele Welt der Herzogin Margerita gerät - einer alten Frau, deren Gesicht schon lange Niemand mehr unverhüllt sah - die mit ihrer schönen Nichte Giselle (Gianna Maria Canale) in einem alten Schloss lebt. Die Schwarz-Weiß Bilder aus den herzoglichen Räumen vermitteln eine dichte, gruselige Atmosphäre, die sich über ganz Paris zu legen scheint.

Dank eines Drehbuchs, dass seine fantastische Story mit Pragmatismus erzählt, bleiben die Gegensätze aus "gotischem" Horror und Gegenwart jederzeit erhalten, verfällt "I vampiri" nicht in nivellierende Gleichförmigkeit. Journalist Lantin, der im Stil eines Detektivs ermittelt, tritt konkret auf, selbst als er von seinem Chef gezwungen wird, über ein gesellschaftliches Ereignis im Hause der Herzogin zu berichten. Deren Nichte ist verliebt in ihn - wie eine Generation zuvor die Herzogin in seinen Vater - aber Lantin hindert das nicht daran, deutlich seine Meinung über sie zu formulieren und sich klar abzugrenzen. Erst langsam erkennt er, dass sein Verhalten dazu geführt haben könnte, dass Lorette (Wandisa Guida) als nächstes Mädchen verschwand und offensichtlich in Todesgefahr schwebt. Er hatte sie bei seinen Nachforschungen kennengelernt und in ihr eine mögliche Zeugin erkannt, ganz abgesehen von der zarten Bande, die sich zwischen ihnen anbahnt.

"I vampiri" benötigt weder Action noch Vampire für seine Handlung, sondern entwickelt seine Wirkung in einer Mischung aus klassischen "Mad-Scientist"- Elementen und einer morbiden, erotisch aufgeladenen Atmosphäre, die nicht nur stilbildend für das Horror-Genre wurde, sondern als Reaktion auf den Wandel in der Sexualität nach dem Krieg zu verstehen ist. Dass Giselle den Männern vorwirft, sie würden sie wegen ihres direkten, unangepassten Verhaltens nicht akzeptieren, half ihr zum damaligen Zeitpunkt noch nicht - ihre fordernde Sexualität und ihre bewusst forcierte Schönheit hatten noch keine Chance gegen die Wirkung eines unschuldigen, jungen Mädchens - aber in ihrer Rolle zeigte sich schon ein Vorbote der zukünftigen Entwicklung.

"I vampiri" Italien 1956, Regie: Riccardo Freda, Mario Bava, Drehbuch: Riccardo Freda, Piero RegnoliDarsteller : Dario Michaelis, Carlo D'Angelo, Gianna Maria Canale, Wandisa Guida, Paul Muller, Laufzeit : 78 Minuten

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.