
Als sich die Entführung mehr als zwei Wochen statt der angeblichen drei Tage hinzieht, werden die Männer nervös. Vor allem Michele, der die meiste Zeit allein mit Alice an dem abgelegenen Ort verbringt, beginnt, sich nicht mehr an die Regeln zu halten...

Die ungewöhnliche Idee, die Geschehnisse nur aus der Sicht der unmittelbaren Entführer und ihres Opfers zu erzählen, wird aus dem Entstehungszeitraum des Films verständlich. Mitte der 70er Jahre waren Entführungen in Italien eine gern gewählte Methode, schnell zu Geld zu kommen. Anders als in den üblichen Fällen, in denen die Entführer sämtliche Schritte bis zur Geldübergabe unter eigener Kontrolle behalten, nutzte man kleine Gauner für die Drecksarbeit, die nach Erfolg bezahlt wurden. Weder Gino, der über einen blinden Kontaktmann seine Befehle erhält, noch Paolo (Flavio Bucci), der zusammen mit Michele auf Alice aufpassen soll, wissen irgendetwas über die Hintergründe. Selbst untereinander gibt es keinen Informationsaustausch, weshalb Gino den Vorschuss, den er erhält, beim Billard verzockt und Paolo seine Freundin besucht, anstatt im Versteck zu bleiben.

Entscheidend für den Film ist das Vakuum, dass er hier entfaltet und in dem die vier Protagonisten wie weiße Mäuse in einem Versuchslabor agieren, die nicht mehr in der Lage sind, sich ihrem Naturell zu entziehen. Während das Verhalten von Gino und Paolo noch dadurch bestimmt wird, dass sie sich im Außenraum aufhalten, werden Alice und Michele allein auf sich zurückgeworfen. Diese Konstellation ist der eigentliche kontroverse Mittelpunkt des Geschehens, der auch zum deutschen Verleihtitel "Gefangen, geschändet, erniedrigt" führte, der dem, in seiner Einfachheit genialen Titel "Orca", zugefügt wurde.

Michele liest Alices Briefe, die er in ihrer Handtasche findet, und entdeckt, dass sie schon mit mehreren Männern geschlafen hat. Vor seinem geistigen Auge sieht er sie nackt auf einer Yacht stehen und gerät in einen Zwiespalt zwischen körperlicher Anziehung und gleichzeitiger Verachtung für sie. Da sie mit Tabletten ruhig gestellt wurde, beginnt er sie genauer zu betrachten, zuerst noch vorsichtig und zurückhaltend, bis er sie konkret anfasst.

Regisseur und Drehbuchautor Eriprando Visconti, ein Neffe Luchino Viscontis, gestaltete die Szenerie in einer Art, die den Betrachter zum Voyeur werden lässt. Als Alice Michele bittet, sich waschen zu dürfen, und ihn damit lockt, sie dabei betrachten zu können, versetzt er den Zuschauer in Micheles Position. Es bleibt spekulativ und ist letztlich unwichtig, ob Visconti nur damals angesagte Schauwerte befriedigen wollte oder sie damit gleichzeitig ins Gegenteil umkehrte. Für Rena Niehaus, ein damals 21jähriges Model, war es die dritte Rolle, die sie, ohne jemals Schauspielunterricht gehabt zu haben, in einer Art spielte, die daran zweifeln lässt, ob ihr Entgegenkommen gegenüber Michele nur Berechnung oder auch Sympathie entspringt. Zeigte sie zu Beginn noch Momente der Verzweiflung, bleibt sie später immer souverän. Man könnte ihr Spiel mangelnden Ausdrucksmöglichkeiten zuschreiben, aber gerade diese Natürlichkeit (Niehaus konnte kein Italienisch und sprach die Worte nach, ohne sie genau zu verstehen) erzeugt ein ambivalentes Bild, das den Betrachter an seine eigenen Empfindungsgrenzen führt.
Bis heute suchen Filme in der Regel Klarheit in der Kontroverse, um damit die Reaktionen der Beteiligten zu begründen. Eine Frau, die sich einem Verbrecher sexuell hingibt, muss vorher einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt worden sein, um nicht als Schlampe zu gelten. Visconti verzichtet auf solche eindeutigen Szenarien, zeigt kleine Gauner, die nicht wissen, auf was sie sich eingelassen haben, und vermittelt keinen Moment eine direkte Gefahr für Alice. Dadurch dass Michele zudem als leicht naiver Junge aus dem Süden noch ein sympathischerer Typ ist, als eine hochnäsige Reiche-Leute-Tochter, kippt die gesamte Situation in ihr Gegenteil. Auch die Wahl einer unbekannten deutschen Darstellerin für die Rolle der Alice, verstärkte noch diese Empfindung, denn sie minderte die Identifikation mit dieser Figur aus Sicht eines italienischen Publikums.
Durch Alices entgegenkommende, offene Art vergisst nicht nur Michele, dass er sie vergewaltigte und nach wie vor, ans Bett gefesselt, gefangen hält, sondern auch der Beobachter dieser Situation. Visconti manipuliert damit den Betrachter in eine Richtung, die eine prinzipiell klare Situation umkehrt, indem eigene Moralvorstellungen in die einzelnen Personen impliziert werden. Alice wird so vom Opfer zur Täterin, als wenn die moralischen Regeln unserer Gesellschaft in einer solchen extremen Situation noch irgendeine Bedeutung hätten. In diesem Zusammenhang wird der deutsche Titelzusatz "Gefangen, geschändet, erniedrigt" nachvollziehbar, der wirkt, als wollte er etwas betonen, was man leicht angesichts der Storyentwicklung vergessen könnte, der aber letztlich nur die selben Moralvorstellungen mit seiner Sensationsgier bedient, die Visconti dazu nutzt - absichtlich oder nicht - uns den Spiegel vorzuhalten.
"La orca" Italien 1976, Regie: Eriprando Visconti, Drehbuch: Eriprando Visconti, Lisa Morpurgo, Darsteller: Rena Niehaus, Michele Placido, Flavio Bucci, Bruno Corrazzari, Laufzeit: 87 Minuten
- weitere im Blog besprochene Filme von Eriprando Visconti :
"Oedipus orca" (1977)
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