Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Sonntag, 6. September 2009

Lo Straniero (Der Fremde) 1967 Luchino Visconti

Inhalt : Als Arthur Meursault (Marcello Mastroianni) dem ermittelnden Polizeibeamten vorgeführt wird und dieser ihn nach seinem Verteidiger fragt, antwortet Meursault etwas verständnislos, sein Fall wäre doch ganz einfach. Er beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die völlig belanglos ist, aber doch zu einem Mord führt...

Als Luchino Visconti Albert Camus' Werk "Der Fremde" verfilmte, hatte die Popularität des Existentialismus, die in den 50er Jahren ihren Höhepunkt erfuhr, schon nachgelassen. Diese Philosophie ging davon aus, dass die Existenz eines Menschen erst durch den Menschen selbst ihren Sinn erhält und nicht Gott gegeben ist. Daraus folgernd hielt es Camus für notwendig, sich selbst bestimmend gegen jedes System aufzulehnen, dass nur eine Ordnung oder Sicherheit vorgaukelte, die es real nicht geben kann. Erst durch diese Erkenntnis erlangt der Mensch seine innere Freiheit. Konsequenterweise verstand sich Camus selbst nicht als Existentialisten, da auch in dieser Begrifflichkeit wieder der Versuch zu erkennen war, etwas Unbegreiflichem einen Rahmen zu geben.

Die Studentenbewegung der 60er Jahre fand in seiner Denkweise deshalb keine Legitimation, denn nach Camus bestand ein Protest nicht aus einer Gegenbewegung, die letztlich auch nur eigene Ziele verfolgte, sondern aus dem lächelnden Ertragen einer Situation und dem daraus folgenden Entzug der eigenen Person vor den Mächtigen. Vielleicht liegt darin der Grund, dass Viscontis Film heute kaum noch Erwähnung findet, denn "Der Fremde" wirkt angesichts der sonstigen Ereignisse im Jahr 1967 geradezu anachronistisch. Das wehrlose Ertragen einer Situation steht im Verdacht der Passivität und damit der Machterhaltung, doch wer Camus' Historie kennt und seinen Kampf als gebürtiger Franzose für die Unabhängigkeit Algeriens, ahnt, dass diese Einordnung zu einfach ist.

Arthur Meursault (Marcello Mastroianni) hat einen Job als kaufmännischer Angestellter und lebt allein in einer kleinen Wohnung in Algier. Als sein Chef ihm einen attraktiven Job in Paris anbietet, reagiert er unschlüssig. Ähnlich regungslos bleibt er auch bei der Beerdigung seiner Mutter, die in einem Altersheim gestorben ist. Während ein alter Mann vor Kummer zusammenbricht, trinkt er teilnahmslos einen Milchkaffee am aufgebahrten Sarg seiner Mutter. Am nächsten Tag geht er nach der Arbeit wie fast jeden Tag im Meer schwimmen und trifft dabei zufällig die hübsche Marie Cardona (Anna Karina), die früher in seiner Firma angestellt war. Noch am selben Tag beginnen sie ein Liebesverhältnis. Während sie voller Gefühle für ihn ist, verneint er immer ihre Frage, ob er sie auch liebt. Er befreundet sich mit Raymond (Georges Géret) aus der Nachbarschaft, einem Zuhälter, dem er bei der Bestrafung einer Frau hilft, in dem er einerseits die Prügel nicht verhindert, andererseits Raymond mit einer Falschaussage bei der Polizei schützt.

Betrachtet man nur die äußeren Verhaltensmuster, liesse sich leicht auf einen unsympathischen Zeitgenossen schliessen, aber auf Arthur Meursault trifft das keineswegs zu. Das es Visconti gelungen ist, diesen komplexen Charakter im Film zu verdeutlichen, hat er vor allem Marcello Mastroianni zu verdanken, der hier auf einem sehr schmalen Grat agiert. Jede Nuance einer Einordnung oder jeder Moment der Klarheit in Richtung einer üblichen Charakterisierung hätte Camus' Intention widersprochen. Der Betrachter wird mit einer Person konfrontiert, die sich dem Wunsch nach Nachvollziehbarkeit entzieht. Seine äußerliche Teilnahmlosigkeit und Passivität kontert Marsault mit entwaffnender Ehrlichkeit, die auch für ihn unangenehme Wahrheiten offen ausbricht. Mastroianni bleibt in seiner ruhigen Art einerseits sympathisch, gleichzeitig aber auch ungenehm in seiner Uninteressiertheit.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang Viscontis optische Zurückhaltung, die den Film in seinem Gesamtwerk als untypisch erscheinen lässt. Jedes Extrem in der Charakterisierung der Figuren, in der Darstellung des Lebensraums in Algier und auch im Handlungsablauf wird vermieden, als ob sich der Film genauso jeder Einordnung verweigern wollte wie seine Hauptfigur. Ein zu artifizieller Charakter wird ebenso vermieden wie eine Anpassung an Unterhaltungsfilme, für die es in der Handlung genügend Anlässe gegeben hätte.

Den Mord an einem jungen Araber, der die gesamten Ereignisse auslöst, stellt Visconti in den zeitlichen Mittelpunkt des Films. Diese Tat, die in ihrer Entwicklung detailliert gezeigt wird, teilt die Handlung in zwei unterschiedliche Hälften, aber sie entzieht sich ebenso jeder klaren Bewertung wie die Figur des Meursault. Weder liegt ein Vorsatz vor, noch kann man sie als Unfall bezeichnen. Schuld oder Unschuld lässt sich nicht definieren, aber der Versuch einer Einordnung durch die Gesellschaft bestimmt die zweite Hälfte des Films, in der Marseault vor Gericht steht.

Während bis zu dem Mord Marseault und sein unmittelbares Lebensumfeld im Mittelpunkt stand, zieht Visconti im zweiten Teil die Exekutive der französischen Besatzungsmacht hinzu. Weder Marie noch Raymond spielen weiter eine wesentliche Rolle, aber deren Fallenlassen ist signifikant für den Film, denn Marseault hat mit seinem früheren Leben bereits abgeschlossen. Angesichts des Polizeioffiziers, des Staatsanwalts und Richters, deren reaktionäres Weltbild die weitere Handlung bestimmt, wirkt Marseaults Gelassenheit revolutionär. Weder lässt er sich zu verlogener Reue verleiten, noch fleht er göttliche Hilfe an. Selbst Maries Liebesschwüre, die sie ihm bei einem Besuchstag zuschreit, wirken unangenehm, denn zunehmend wird Marseaults innere Freiheit deutlich, die in der Unabhängigkeit von jeder bürgerlichen Regel - und sei sie noch so angenehm - verborgen ist.

Für den Betrachter bleibt seine Person schwer fassbar. Dagegen ist die Reaktion des Staatsanwalts durchaus nachvollziehbar, der ein niederträchtiges Bild des Angeklagten mit Argumenten zeichnet, denen Marseault selbst zustimmt. In seinem Abschlussplädoyer stellt er Marseault in seiner Verabscheuungwürdigkeit über den schlimmsten Verbrecher - aus seiner Sicht einen Vatermörder - weshalb ihm die sonst leidige Pflicht, die Todesstrafe zu verlangen, diesmal geradezu Vergnügen bereitet. Der Tod des Arabers - für den Staatsanwalt ein Mensch zweiter Klasse - spielt dabei keine Rolle, sondern nur die Unbegreiflichkeit gegenüber diesem Mann.

In diesem Moment ist die Stilisierung dieser Figur perfekt, denn es entsteht keinerlei Trauer mehr angesichts des nahenden Todes. Marseault kann durch die Exekutive nicht mehr bestraft werden, weil er sich deren Regeln entzogen hat und der Priester, der in der Todeszelle vehement sein Flehen nach Gnade vor Gott einfordert, trifft auf einen unabhängigen Geist, der ihm stattdessen seine Meinung sagt. Spätestens in diesem Moment wird deutlich, dass Camus' Vorstellung nichts mit Passivität oder gar der Unterstützung eines Systems zu tun hat, sondern mit dessen Selbstzerstörung, wenn es seine Funktion verliert.

"Lo straniero" Italien, Frankreich, Algerien 1967, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi d'Amico, Albert Camus (Roman), Darsteller : Marcello Mastroianni, Anna Karina, Bernard Blier, George Géret, Alfred Adam, Laufzeit : 104 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luchino Visconti:

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Weiß jemand, wie man an den Film kommen kann?
mlinnmann@t-online.de

Anonym hat gesagt…

Hallo!
Ich brauche diesen Film für den Unterricht. Wer kann mir sagen, wo man ihn noch bekommt?
ulrike.wodtke@htp-tel.de

Anonym hat gesagt…

Hallo,
ich suche den Film! Wo kann man ihn bekommen?
ulrike.wodtke@htp-tel.de

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.