
Jeder von ihnen erzählt seine eigene Version des Tages und der Nacht vor dem Mord...
"La commare secca", in der römischen Umgangssprache die Bezeichnung für den Tod, verfügt über unterschiedliche Attribute, die Bernardo Bertoluccis ersten Film in der Wahrnehmung und damit Beurteilung vorbestimmt haben. Selbst das es sein erster Film wäre, wird - obwohl faktisch gegeben - in Zweifel gezogen, da der damals erst 21jährige nur als Ersatz - Regisseur vorgesehen worden war. In unterschiedlichen Publikationen wird deshalb "Prima della revoluzione" (Vor der Revolution) von 1964 gerne als sein erster "echter" Film bezeichnet, weil dazu auch das Drehbuch von ihm stammte.

Neben dieser starken Bindung an Pasolinis Erfahrungen, die dieser hier konkret in der Person eines Homosexuellen verarbeitet, der von zwei jungen Männern am Tiber beraubt wird, und später Zeuge des Mordes wird, belastete den Film die thematische Nähe zu Korosawas "Rashomon", der schon 10 Jahre zuvor ebenfalls ein Verbrechen aus der Sicht verschiedener Menschen beschrieb. Auch wenn Bertolucci glaubhaft versicherte, den Film damals nicht gekannt zu haben, lag der Vergleich nahe, da in beiden Filmen die Aufklärung des Verbrechens letztlich keine Rolle spielt, sondern die Rückschlüsse auf die Psyche der Menschen und ihre von eigenen Bedürfnissen geprägte Sicht auf die Wahrheit. Vielleicht bedurfte es eines gewissen zeitlichen Abstands, um zu erkennen, dass "La commare secca" trotz dieser offensichtlichen Parallelen und Bezüge ein echter Bernardo Bertolucci Film geworden ist, dessen persönliche Handschrift bei der Umsetzung der pasolinischen Thematik ebenso zu erkennen ist, wie die Intention der subjektiven Schilderung des Ereignisses aus der Sicht mehrerer Personen, hier andere Ziele als in "Rashomon" verfolgt.
Schon die erste Kameraeinstellung verdeutlicht Bertoluccis Stil. Sie fängt eine Tiberbrücke von unten ein, erfasst Teile einer zerrissenen Zeitung, die herab geworfen wurden, und schwenkt, diese begleitend, zum Boden, wo die Leiche einer Frau am Ufer liegt. Nicht nur die Länge der Einstellung ist für Pasolinis Stil unüblich, auch die darin verborgene Symbolkraft, mit der Bertolucci optisch die in der Luft tanzenden Zeitungsschnipsel mit dem menschlichen Körper verbindet, betont dessen poetischen Stil. Dieser wird fortgesetzt, als die Kamera einen sehr jungen Mann erfasst, der aus einem heruntergekommenen Gebäude über Brachland zum Parco Paolino läuft, der in der Nähe des Leichenfundortes, seitlich des Tibers liegt. Mit einer sehr langen Kamerafahrt erfasst Bertolucci die gesamte Szenerie und vermittelt damit dem Betrachter einen Überblick, ganz im Gegensatz zu Pasolini, der in „Accattone“ kaum einmal übergeordnete Einblicke gewährte.

Dadurch bekommt der Film einen leichten, manchmal komischen Gestus. Der junge Tagedieb, der beim Klauen erwischt wird und eine Abreibung erhält, der Geldeintreiber, der sich als coolen Typen mit Cabrio präsentiert obwohl er dieses nur seiner Chefin verdankt, der junge Soldat aus dem Süden, der die jungen Frauen belästigt, der Besucher aus dem Friaul (Pasolinis Heimat) oder die beiden Teenager, die zwei junge Mädchen im Park kennen lernen – sie alle versuchen ihren Status zu überhöhen, ihre kleinen Gaunereien zu verheimlichen oder schlicht Peinlichkeiten zu verbergen. Es entsteht ein komplexes Bild einer Lebensart, die durch Armut geprägt ist und die mit jeder Gelegenheit versucht, dieser zu entkommen. Die Tragik dahinter wird nicht nur im fehlenden Selbstbewusstsein erkennbar, sondern auch an der schmalen Grenze zum Tod.

Die Stadt Rom, die in diesem Randbezirk lebenden Menschen und ihre Lebensweise sind in ihrer dichten Charakterisierung sicherlich ein typischer Pasolini, aber Bertoluccis Interpretation nimmt dieser einen Teil ihrer Ernsthaftigkeit. Trotz aller darin verwobenen Tragik, überrascht das hohe Tempo des Films, dem auch zum Schluss, als der Mörder ganz genregerecht von der Polizei verhaftet wird, nichts pathetisches anhaftet. Die religiösen Bezüge, die ein wesentlicher Wesenszug Pasolinis sind, fehlen hier fast völlig und insgesamt wirkt der Film, trotz der inhaltlichen Verwandtschaft zu „Mamma Roma“ und „Accattone“, weniger fatalistisch und Lebens bejahender, was im letzten Bild kulminiert. Es zeigt ein Steinrelief mit dem Tod, „La commare secca“, als Skelett mit Engelsflügeln – ein Symbol dafür, das der Tod zum Leben gehört.
"La commare secca " Italien 1962, Regie: Bernardo Bertolucci, Drehbuch: Pier Paolo Pasolini, Darsteller : Carlotta Barilli, Alvaro D'Ercole, Giancarlo De Rosa, Silvio Laurenzi, Wanda Rocci, Laufzeit : 92 Minuten
- weitere im Blog besprochene Filme von Bernardo Bertolucci :
"Amore e rabbia" (1969)
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