Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Mittwoch, 30. Januar 2013

Faccia a faccia (Von Angesicht zu Angesicht) 1967 Sergio Sollima

Inhalt: Professor Fletcher (Gian Maria Volonté), der als Lehrer im Norden der USA lebt und arbeitet, wird auf Grund seiner angeschlagenen Gesundheit gezwungen, in den Süden des Landes überzusiedeln. An dem kühlen Abschied von Elisabeth, die er heimlich liebt, wird sein freudloses, nur den Studien gewidmetes Leben deutlich. Als er Wochen später in Erinnerung daran in einem kleinen Ort, nahe der mexikanischen Grenze, in der Sonne schwitzt, wird er Zeuge, wie einem Strafgefangenen Trinkwasser verweigert wird, um ihn zu quälen. Spontan gibt er ihm zu trinken, was dieser dazu nutzt, die Polizisten zu überwältigen und mit ihm als Geisel zu fliehen.

"Beauregard" (Tomas Milian) Bennet ist ein berüchtigter Bandenchef, der von einem Standort in den Bergen aus die benachbarten Gemeinden überfallen hatte. Auch die anderen Bandenmitglieder wurden getötet, festgenommen oder vertrieben, aber „Beauregard“ will die Übriggebliebenen wieder zusammenbringen. Einen Moment überlegt er, Professor Fletcher zu töten, aber er sieht keinen Sinn darin. Im Gegenteil nimmt er sich des kränklichen Mannes an, der ihm geholfen hatte, und bringt ihm nicht nur das Schießen bei, sondern wie man sonst noch in der Wildnis überlebt. Auch Fletcher besinnt sich wieder auf seine Fähigkeiten und beginnt, Bennets Rolle als Verbrecher in Frage zu stellen…

Sergio Sollimas erster Italo-Western "La resa dei conti" (Der Gehetzte der Sierra Madre, 1966) nutzte die Verfolgung eines des Mordes bezichtigten Mexikaners durch einen vom us-amerikanischen Großkapital eingesetzten Kopfgeldjäger zu einer grundsätzlichen Abhandlung über Machtmissbrauch und Rassismus, blieb aber innerhalb der Genre-typischen Grenzen und stellte zwei Protagonisten in den Mittelpunkt, die sich als Identifikationsfiguren anboten, da sie sich trotz ihrer Verschiedenheit und ihres nicht eindeutigen Charakters moralisch von ihrer Umgebung abhoben. "Faccia a faccia" (Von Angesicht zu Angesicht) schien einen ähnlichen Weg einzuschlagen, stellte auch eine Auseinandersetzung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Männern in den Mittelpunkt, verzahnte diese aber mit einer Vielzahl weiterer prototypischer Charaktere, um ein differenziertes Abbild des politischen Klimas seiner Entstehungszeit zu entwerfen, dass das Western-Genre nur als äußeren Rahmen verwendete.

Die Kommune

Zum zentralen Ort des Geschehens wird eine Lebensgemeinschaft inmitten einer Gebirgslandschaft, die sich schon optisch von typischen Ansiedlungen unterscheidet. Leichte, provisorisch wirkende Bauten bilden die Grundlage für ein Leben in der Natur, dass Männer, Frauen und Kinder in Freiheit vereint, jenseits der vorherrschenden Regeln. Sollima lässt diesen Eindruck nur langsam entstehen, ohne sie als Ideal zu betonen. Im Gegenteil wirkt dieser Ort zuerst, als Salomon Bennet, genannt "Beauregard" (Tomas Milian), nach seiner Flucht aus dem Polizeigewahrsam mit einigen Kumpanen wieder dahin zurückkehrt, wie der Stützpunkt einer Gangsterbande.

Als solcher wird er auch von den Bürgern und Gesetzesvertretern der umliegenden Gemeinden angesehen, die die Raubzüge der von "Beauregard" angeführten Männer fürchten. Tatsächlich sind es nur Wenige, die aktiv daran beteiligt sind, um damit die Gemeinschaft mit Nahrung und wichtigen Gütern zu versorgen, während persönliche Bereicherung oder Machtausübung von der Gruppe nicht geduldet werden. Damit verklausulierte Sollima den 1967 zunehmenden Konflikt zwischen einer konservativ geprägten bürgerlichen Gesellschaft und einer Studenten- und Hippie-Bewegung, die bewusst gegen bürgerliche Regeln und Gesetze verstieß, die aus ihrer Sicht nur dem Erhalt bestehender Machtstrukturen dienten. Funktionieren konnte diese Vorgehensweise nur mit einem idealisierten Typus als Leitfigur, dessen Intentionen übergeordneten Zielen galten.

Rebell und Freiheitskämpfer

Die Ähnlichkeit der von Milian verkörperten Figur des humanen Banditen zu "Che Guevara", einem Vorbild der damaligen Jugendbewegung, ist kein Zufall. Wie dieser scheut er sich nicht davor, Gewalt anzuwenden, um seine Ziele zu verfolgen, aber niemals aus egoistischen Beweggründen. Die häufig vertretene These, beide Protagonisten - hier der Bandit "Beauregard" Bennet, dort Professor Fletcher (Gian Maria Volonté) aus dem Norden - entwickelten sich jeweils in gegensätzlicher Richtung - ist nicht korrekt. Zwar wird der instinktiv reagierende Bennet durch den intellektuellen Professor dazu provoziert, seine Methoden in Frage zu stellen, aber damit verfolgte Sollima nur die damals bis heute gültige Diskussion nach der Legitimation der Mittel zur Durchsetzung von Zielen.

An "Beauregard" Bennets menschlichen Qualitäten gibt es hingegen von Beginn an keinen Zweifel, auch wenn er einen Moment in Erwägung zu ziehen scheint, Fletcher zu erschießen, nachdem dieser ihm unfreiwillig zur Flucht verholfen hatte. Die Art wie er sich des einsamen Mannes annimmt, den seine Krankheit dazu gezwungen hatte, den zivilisierten Norden zu verlassen, zeugt von einer zutiefst humanistischen Haltung, die durch seine Offenheit gegenüber dessen Kritik noch gesteigert wird. Sollima geht nicht ins Detail hinsichtlich seiner früheren Verbrechen, aber angesichts seiner Aktionen, die ausschließlich der Befreiung von Kameraden gelten, entsteht der Eindruck eines Mannes, der nur nach den Regeln des bürgerlichen Gesetzbuches als Bandit gilt. An Milians Rolle als Identifikationsfigur besteht entsprechend kein Zweifel, aber Sergio Sollima, der gemeinsam mit seinem häufigen Mitstreiter Sergio Donati das Drehbuch erarbeitete, der auch an Sergio Leones Filmen (unter anderen "C'era una volta il west" (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968)) mitwirkte und Corbuccis "Il bestione" (Die cleveren Zwei, 1974) schrieb, lag nicht an einem Heldenepos, sondern an einer Konfrontation dieses Ideals mit der Realität.

Der Verführte

Im Gegensatz zu dem zumindest in emotionaler Hinsicht verlässlichen "Beauregard" Bennet, ist der von Volonté gespielte Professor die zwiespältigere, für Sollimas Intention entscheidende Figur. Von einer charakterlichen Veränderung zu sprechen wäre auch in seinem Fall falsch, viel mehr zeigen sich die Auswirkungen seines Denkens und Empfindens innerhalb einer veränderten Situation. Im Norden der USA führte er ein von klaren Regeln bestimmtes Leben, dass ihm zwar viel Zeit für seine Studien bot, aber seine Persönlichkeit stark einschränkte. Obwohl der Film nur eine Szene dieses Vorlebens zeigt, wird an seinem gehemmten Abschied von Elizabeth, deren Bild er in einem seiner Bücher verwahrt, deutlich, wie wenig er gewagt hatte, aus den bestehenden Grenzen auszubrechen.

Großartig gelingt es Volonté, den Prozess eines Mannes wiederzugeben, der langsam seine neue Situation begreift. Sein Gefühl geistiger Überlegenheit war immer schon vorhanden, trat aber hinter seiner körperlichen Unzulänglichkeit und dem daraus resultierenden fehlenden Mut zurück. Mit gesteigertem Selbstbewusstsein erlebt Fletcher, wozu er in der Lage ist, aber er kann der Verführung der daraus resultierenden Macht nicht widerstehen. Keine Bösartigkeit wird darin sichtbar, sondern die Tragik eines Mannes, dessen gewachsenen Möglichkeiten nicht mit dem dafür notwendigen Verantwortungsgefühl einhergehen. Die offene, keinen hierarchischen Regeln unterworfene Struktur der Kommune, macht es ihm leicht, diese diktatorisch durch Unterdrückung zu vereinnahmen und für seine Zwecke zu missbrauchen.

Mit dem brutalen, sinnlos Gewalt gegen Wehrlose ausübenden Angriff eines entfesselnden Mob, verfolgte Sergio Sollima mehrere Ziele. Äußerlich wurde dieser gesetzlich legitimierte Massenmord durch einen weit überlegenen Angreifer von der Kritik am us-amerikanischen Engagement in Vietnam beeinflusst, entsprach aber auch der Aggression, mit der damals die Bürgerschicht auf die Hippie-Bewegung reagierte. Gleichzeitig zeigte sich daran die zwingende Notwendigkeit von Solidarität und Homogenität innerhalb der Gruppe, denn erst der Verrat eines früheren Mitglieds der Gemeinschaft, einhergehend mit der Zerstörung ihrer friedlichen Absichten durch Professor Fletcher, ermöglichte den Angriff. Auch der jeder Verführung widerstehende „Beauregard“ kann diese Konsequenzen nicht verhindern, denn sein Instinkt und seine humanen Absichten werden als Naivität entlarvt. Nur einer Figur gelingt es, den Schaden zumindest einzugrenzen und eine gewisse Gerechtigkeit walten zu lassen.

Der Pragmatiker

Der von William Berger gespielte Charley Siringo entspricht äußerlich einem cool auftretenden Pistolero, hinter dem sich aber ein Undercover-Agent der Detektei Pinkerton verbirgt. Die Zwiespältigkeit seines Charakters basiert nicht wie bei Professor Fletcher auf emotionalen Reaktionen, sondern in einem Verhalten, dass jede Situation nach ihrem pragmatischen Nutzen bewertet. So scheut sich Siringo nicht, einen Sheriff kaltblütig zu erschießen, um damit „Beauregards“ Vertrauen zu gewinnen, ihn aber sofort zu verraten, als die Bande einen Banküberfall begehen will, um damit deren gemeinsame Verhaftung zu ermöglichen.

Sein Erschleichen von Vertrauen durch Vortäuschung einer falschen Identität, lässt ihn negativ erscheinen, aber anders als eine Bürgerschicht, deren Handeln von Hass und Besitzdenken bestimmt wird, agiert er ohne persönliche Animositäten auf der Basis des bürgerlichen Gesetzbuches. Siringo ist, allerdings reduzierter und weniger charismatisch angelegt, eine Variation der Rolle Lee van Cleefs als Kopfgeldjäger in „La resa dei conti“ – ein konservativ denkender Pragmatiker, der beginnt, auch andere Kriterien in seinem Weltbild zuzulassen, angesichts des offensichtlichen Unrechts, dass die Menschen begehen, für deren Belange er sich bislang einsetzte. Sein Verhalten ist in „Faccia a faccia“ nicht mehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Western oder Politfilm?

Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, womit die trotz der generell positiven Reaktion fehlende angemessene Anerkennung dieses singulären Werks erklärbar wird. Sergio Sollima selbst erwähnte in einem Interview den Freiraum, den ihm das Western-Genre ermöglichte. Dank der dort archaisch anmutenden Strukturen in der menschlichen Sozialisation, lassen sich deren innere Abläufe an wenigen zugespitzt gestalteten Situationen verdeutlichen, ohne in die Gefahr einer zu großen Nähe zu realen Begebenheiten oder Ideologien der Gegenwart zu geraten, die häufig einen offenen Umgang mit dem Gesehenen verhindern.

„Faccia a faccia“, der trotz seiner komplexen psychologischen Anlage klar strukturiert und jederzeit nachvollziehbar bleibt, ist für einen Western sehr sprachlastig und setzt nur auf wenige typische Actionszenen, die meist einen ernsthaften Hintergrund haben. Für einen Politfilm bleibt der Film dagegen zu verklausuliert, um eine eindeutige gegenwartsbezogene Gesellschaftskritik auszuüben. Doch erst dank dieser untypischen Kombination entfaltet „Faccia a faccia“ seine Faszination, der sich ein Betrachter nur schwer entziehen kann.

"Faccia a faccia" Italien, Spanien 1967, Regie: Sergio Sollima, Drehbuch: Sergio Sollima. Sergio Donati, Darsteller : Gian Maria Volonté, Tomas Milian, William Berger, Aldo Sambrell, Jolanda Modio, Laufzeit : 107 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Sergio Sollima:

Samstag, 26. Januar 2013

La polizia chiede aiuto (Der Tod trägt schwarzes Leder) 1974 Massimo Dallamano


Inhalt: Eine Mädchenleiche wird erhängt in einer Dachwohnung aufgefunden. Da die Minderjährige, eine eigensinnige Tochter aus wohlhabendem Hause, die Wohnung selbst angemietet hatte, glaubt Commissario Valentini (Mario Adorf) und die stellvertretende Staatsanwältin Vittoria Stori (Giovanna Ralli) zuerst an Selbstmord. Doch die näheren Untersuchungen ergeben nicht nur, dass die nicht einmal 15jährige Sex vor ihrem Tod hatte, sondern dass dieser an einem anderen Ort eingetreten war
.
Der für Mord zuständige Commissario Silvestri (Claudio Cassinelli) übernimmt ab diesem Zeitpunkt den Fall und entdeckt Verbindungen zu einer Organisation, die minderjährige Mädchen an potente Kunden vermittelt. Doch Silvestri ist nicht allein auf seiner Jagd nach dem Mörder, ein geheimnisvoller Motorradfahrer kommt ihm regelmäßig in die Quere. Der mit einem Helm und einer Ledermontur bekleidete Mann tötet nicht nur mögliche Zeugen mit einem Schlachtermesser, sondern hat es auch auf die Staatsanwältin Stori abgesehen… 


Leider wurde schon der erste mit "La polizia..." beginnende Titel - "La polizia ringrazia" (Das Syndikat, 1972) - nicht entsprechend ins Deutsche übersetzt, so dass die im Poliziesco häufig angewendete Sitte, schon im Filmtitel auf die Situation der Polizei hinzuweisen - mal ironisch, mal ernsthaft - nicht übernommen wurde. "Der Tod trägt schwarzes Leder" hat zwar seine Berechtigung, da ein Mann in einer schwarzen Motorradkluft Morde mit einem Schlachtermesser begeht, aber im Gesamtkontext des Films bleibt er eine letztlich austauschbare Randfigur.

"La polizia chiede aiuto" (wörtlich "Die Polizei ersucht um Hilfe") beginnt mit den Bildern von ausgelassen wirkenden Jugendlichen nach Schulschluss, begleitet von Stelvio Ciprianis mit hellen Kinderstimmen angereicherter Musik. Es ist die einzige fröhliche Szene eines Films, der unmittelbar danach zu dem erhängten, entblößten Körper eines nicht einmal 15jährigen Mädchens wechselt. Bei einer wiederholten Betrachtung der zu Beginn gezeigten Schüler, fällt auf, dass der positive Eindruck der Szene über die tatsächlichen inneren Abläufe hinwegtäuschte. Es ist die Illusion einer heilen Welt, mit der Regisseur und Autor Massimo Dallamano seinen Film beginnt - eine Illusion, die unzerstörbar bleiben muss.

Dallamano hatte viele Jahre als Kameramann gearbeitet - darunter auch bei den ersten Sergio Leone Western "Per un pugno di dollari" (Für eine Handvoll Dollar, 1964) und "Per qualche dollaro in più" (Für ein paar Dollar mehr, 1965) - bevor er mit "Bandidos" 1967 seinen ersten Film und einzigen Italo-Western drehte. Nach Ausflügen ins Giallo-Fach ("Cosa avete fatto a Solange?" (Das Geheimnis der grünen Stecknadel, 1972)) drehte Dallamano mit "Si può essere più bastardi dell'ispettore Cliff?" (Super-Bitch) 1973 seinen ersten Poliziesco, der noch einen starken Mix aus unterschiedlichen Genres darstellte. Diese Horror- und Giallo-Einflüsse blieben auch in "La polizia chiede aiuto" noch spürbar, die Grundlage bildete aber ein detailliert vorgehender Polizeifilm, der sich einer schwierigen Thematik seriös annahm.

Da die Polizei nach dem Auffinden der Mädchenleiche zuerst von Selbstmord ausgeht, ermittelt der dafür zuständige Commissario Valentini (Mario Adorf) gemeinsam mit der stellvertretenden Staatsanwältin Vittoria Stori (Giovanna Ralli) in dieser Sache. Schon bald müssen sie feststellen, dass der Selbstmord nur fingiert wurde und das Mädchen nicht in dem Dachraum starb, den sie als Refugium gemietet hatte. Ab diesem Zeitpunkt übernimmt Claudio Cassinelli, der mit dieser Rolle zu einem wichtigen Vertreter des Genres aufstieg, als Commissario Silvestri den Fall. Dieser Wechsel in der Zuständigkeit betont einerseits die Genauigkeit in der Beschreibung der Polizeiarbeit, gibt dem Film aber auch die Gelegenheit, zwei unterschiedliche Männer mit der Tatsache zu konfrontieren, dass eine Minderjährige nach sexuellem Missbrauch ermordet wurde. Während Silvestri die Suche nach dem Mörder mit Vehemenz geradlinig angeht, ist Valentini als Vater einer minderjährigen Tochter auch persönlich betroffen. Adorf gelingt es in seiner kleinen Rolle großartig, seine innere Wut auszudrücken, ohne dabei in Stammtischparolen zu verfallen.

Ähnliches gilt für die Rolle des Staatsanwältin, die ohne persönliche Ressentiments vorgeht, auch als sie und Silvestri langsam feststellen, dass eine Organisation dahinter steckt, die die Mädchen an potente Geldgeber aus gehobenen Kreisen zum Sex vermittelt. Dank dieses seriösen, sich an die Gesetze haltenden Umgangs (als Silvestri einmal dagegen verstößt, bekommt er sofort Ärger mit der Staatsanwältin), entsteht erst der moralische Gegensatz zur Haltung ihrer Vorgesetzten, die versuchen, die Täter vor der Strafverfolgung zu beschützen. Entsprechend sensibel und gleichzeitig unmissverständlich beschreibt Dallamano, was den Mädchen angetan wurde. Minutenlang werden Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen wieder gegeben, die heimlich von einem Detektiv aufgenommen wurden, der die Pädophilen damit erpressen wollte. Die zu hörenden sanften, sich einschmeichelnden Stimmen, mit denen sie die Mädchen zu beeinflussen versuchen, lassen den Horror erst im Kopf entstehen.

Der konkrete Horror des Motorradfahrers, über dessen Intentionen und Hintergründe der Film wenig preisgibt, wirkt dagegen wie die Versinnbildlichungen dieser Verbrechen, deren Existenz mit aller Macht vertuscht werden sollen. Doch so atemberaubend spannend die Szenen mit dem Killer inszeniert wurden, so leicht ist letztlich der Umgang mit ihnen. Man kann nach dem Mörder fahnden, ihn jagen und die Bevölkerung um Hilfe bitten - bei der Ermittlung der pädophilen Freier kann man das nicht. Die ungewöhnliche Konsequenz, diese Figur nicht näher zu charakterisieren und ihr damit kein Gesicht zu geben, lässt Dallamanos Intention erst deutlich werden, denn der Mann in der schwarzen Lederkleidung dient nur der Ablenkung. Er wird der Bevölkerung zum Fraß vorwerfen und sein Ergreifen als Fahndungserfolg verkauft, um die tatsächlichen Täter nicht bloßstellen zu müssen.

Der gesellschaftskritische Gestus des Films ist entsprechend weniger politischer, denn genereller Natur. Auch wenn die Täter teilweise aus höchsten politischen Kreisen stammen, gilt ihr Schutz nicht der damit verbundenen Machtposition oder einer Ideologie, sondern einer moralischen Illusion, die vor der Gesellschaft zwingend aufrecht erhalten werden muss. "La polizia chiede aiuto" gelingt es, das schwierige und besetzte Thema der Pädophilie konsequent und intelligent in ein überzeugend gestaltetes Action-Szenario zu integrieren.

"La polizia chiede aiuto" Italien 1974, Regie: Massimo Dallamano, Drehbuch: Massimo Dallamano, Ettore Sanzò, Darsteller : Claudio Cassinelli, Giovanna Ralli, Mario Adorf, Franco Fabrizi, Farley Granger, Laufzeit : 87 Minuten

Mittwoch, 23. Januar 2013

Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger) 1970 Elio Petri

Inhalt: Ein Mann wartet vor einem Haus, bis ihm eine Frau (Florinda Bolkan) durch ein Fenster ein Zeichen gibt, herein zu kommen. Sie begrüßt ihn mit der Frage, wie er sie heute denn umbringen möchte, aber dieser Scherz stellt sich kurz danach als bitterer Ernst heraus, als er sie beim Sex mit einem Schnitt durch die Kehle tötet. Anstatt seine Spuren zu verwischen, sorgt er noch zusätzlich für Indizien, benachrichtigt selbst die Polizei und redet ungeniert mit einem im Haus wohnenden Nachbarn, als er dieses verlässt.

Daraufhin fährt er direkt zum Polizeiquartier, wo er freudig erwartet wird, denn "Il Dottore" (Gian Maria Volonté), wie er genannt wird, wird an diesem Tag vom Chef der Mordkommission zu einem Bereichsleiter der Polizei befördert. Streng befiehlt er noch seinen bisherigen Untergebenen, den gerade gemeldeten Vorfall zu untersuchen, bevor er selbst zum Tatort schreitet...


In seinem ersten Film "L'assassino" (Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?, 1961) hatte Elio Petri einen Kriminalfall als Basis gewählt, dessen kritischer Blick auf die Vorgehensweise der Polizei ein Nebenaspekt blieb, damit aber trotzdem schon Argwohn bei der Zensur erzeugte. Auch in seinen folgenden Filmen nutzte er populäre Genres oder signifikante Stile als Grundlage, um seine Sicht auf die menschliche Sozialisation unterschwellig zu entfalten. "I giorni contati" (1962) war purer Realismus, "Il maestro di Vigevano" (1963), den er im Tausch mit Dino Risi statt des auf seiner Idee basierenden "I mostri" (Die Monster, 1963) drehte, gehörte zur "Commedia all'italiana" und "La decima vittima" (Das zehnte Opfer, 1965) nahm Anleihen beim Science-Fiction-Film. "A ciascuna il suo" (Zwei Särge auf Bestellung, 1967) wählte die Mafia-Thematik und "Un tranquillo posto di campagna" (Das verfluchte Haus, 1968) verfügte über Horror-Elemente - eine Vorgehensweise, die Petris Intention, das Publikum immer auch unterhalten zu wollen, förderte, die von der zeitgenössischen Filmkritik aber als zu konventionell bewertet wurde.

"Kurz gesagt, wir waren auf der Schwelle zur Zeit der 68er und es war mein letzter Film vor "Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto" (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger). Es war bevor ich versuchte, mit Filmen etwas zu bewegen" (Elio Petri)

Trotzdem blieb Petri seiner gestalterischen Linie treu und entwarf, gemeinsam mit Ugo Pirro, einen Film, der sein kritisches Potential unmissverständlich, aber indirekt entfaltete, ohne konkrete Anklagen oder Argumente vorbringen zu müssen. Der überzeugte Kommunist Elio Petri wandte sich damit gegen die Diskussionskultur seiner Zeit, die sich durch ihre sprachliche Vehemenz auszeichnete und damit die Unvereinbarkeit in der Haltung der verschiedenen Lager nur noch zementierte. Wegen dieser äußerlichen Zurückhaltung wurde sein Film nicht nur ein Publikumserfolg und dank des großen Zuspruchs in seiner generellen Kritik an autoritären Strukturen und Machtmissbrauch entsprechend unbequem, sondern bewahrte sich auch seine Zeitlosigkeit. Nach wie vor hat die Darstellung der Auswirkungen von Macht auf die menschliche Psyche nichts von ihrer Wirkung verloren, genauso wie das Verhalten einer von Karrieredenken und Obrigkeitshörigkeit bestimmten Sozialisation von Jedem - unabhängig von seiner politischen Haltung - nachvollzogen werden kann. Nur die Gefahr, der sich Petri und seine Mitstreiter damals mit diesem Film aussetzten, ist nur noch schwer nachzuempfinden. Nachdem sich Regie-Kollegen den Film vor seiner Premiere angesehen hatten, empfahlen sie die Flucht aus Rom, um dem Gefängnis zu entkommen.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht der von Gian Maria Volonté gespielte „Il dottore“ - bisher Leiter der Mordkommission, der an diesem Tag seine Beförderung in eine übergeordnete, der politischen Führung des Landes unmittelbar unterstellte Sicherheitsabteilung erlebt. Es kommt zu den üblichen Feierlichkeiten - erst gibt der „Dottore“ seinen Ausstand unter den Männern seiner Abteilung, später hält er eine Antrittsrede vor der Versammlung seiner zukünftigen Mitarbeiter. Beide Vorgänge laufen nach den gewohnten Mechanismen ab, getragen von freundlichen Floskeln und motivierenden Ausblicken. Dabei lässt Elio Petri den Dottore Zahlen und Statistiken vortragen, die nicht nur die aktuelle Situation Italiens belegen, sondern das Land für das nächste Jahrzehnt in Atem halten sollten. Es geht nicht mehr um die Aufklärung von Mordfällen, bei der sich die frühere Abteilung des Dottore durch sehr gute Quoten hervorgetan hatte, sondern um den Zustand des Landes allgemein – Studentenproteste, Streiks und Sachbeschädigungen durch auf Wände gemalte Parolen vermischen sich mit Terrorakten und Schwerverbrechen, von der Führung des Landes keineswegs getrennt betrachtet. Die heute häufig geäußerte Ansicht, es handelte sich bei dem Dottore um einen Mann mit stark rechts gerichteten Ansichten, ist falsch – Streiks und Studentenproteste wurden generell von bürgerlich konservativer Seite als Bedrohung verstanden und die von ihm angekündigten Maßnahmen lagen ganz auf der damaligen Linie des Staates.

Mit dieser unmittelbar auf die Ereignisse in Italien reagierenden Rede des Dottore, in der er eine rigorose Vorgehensweise zum Erhalt der Demokratie ankündigte, traf Petri den Nerv seiner Zeit – Marco Risi, selbst Regisseur und der Sohn Dino Risis, erzählte, mit welcher Wucht der Film ihn als damals 19jährigen traf - und bereitete damit die Grundlage nicht nur für den politischen Film, sondern auch für dessen populärere Variante, den Poliziesco, der sich zwar vordergründig als Unterhaltungsfilm verstand, letztlich aber nicht weniger kritisch die Mechanismen des Staates und des Polizeiapparates betrachtete. Selbst Francesco Rosi, dessen Filme „Salvatore Giuliano“ (1961) und „Le mani sulla città“ (Die Hände über der Stadt, 1963) Petri als vorbildhafte, große Filme benannte, hatte diese konkrete Kritik an den Machtstrukturen des Landes noch nicht gewagt, sondern bildete bewusst lokalere Situationen ab. Und Bernardo Bertoluccis im selben Jahr gedrehter Film „Il conformista“ (Der große Betrug, 1970) verklausulierte seine Kritik noch, indem er die Handlung während des Faschismus spielen ließ.

Doch allein die Beschreibung der sozialen Mechanismen innerhalb einer Behörde, der polizeilichen Verhörmethoden, der Abhörzentrale oder einer modernen computergestützten Datenspeicherung, hätte wenig bewirkt – Niemand wird deren Realität bezweifeln – entscheidend für die Wirkung des Films ist der Mord, den der Dottore zu Beginn an seiner Geliebten Augusta Terzi (Florinda Bolkan) begeht. Offensichtlich diente das Spiel mit tödlichen Absichten ihrem gemeinsamen Lustgewinn, wie eine Vielzahl entsprechend arrangierter Fotos beweisen, aber diesmal meint es der Dottore ernst, als er ihr auf ihre Frage nach der heutigen Tötungsmethode androht, ihr den Hals aufzuschneiden. Doch anstatt seine Spuren zu verwischen, erzeugt er noch zusätzliche Indizien und lässt sich von einem jungen Mann, Antonio Pace (Sergio Tramonti), sehen, der im selben Haus wohnt.

Dieses Verhalten schlüsselte Petri mit Rückblenden langsam auf, parallel zu den Ereignissen in der Polizeibehörde, und erzeugte damit den Charakter eines Mannes, der gleichzeitig von seinem Machtbewusstsein und seinem Minderwertigkeitsgefühl bestimmt wird. Einerseits versucht er seine Position dafür zu nutzen, für einen offensichtlich von ihm begangenen Mord nicht belangt zu werden, andererseits fühlt er sich dem Staat und seinen Gesetzen so verpflichtet, dass er es nicht ertragen kann, nicht dafür bestraft zu werden. Volonté gelingt es, diese Figur nicht als Karikatur entstehen zu lassen, sondern ihr menschliche Züge zu verleihen. Der Film erzählt auch die tragische Geschichte eines Mannes, der seiner schönen Geliebten nicht gewachsen ist. Sie ist es, die den Gedanken äußert, er könnte in seiner Position jedes Verbrechen begehen, ohne dafür bestraft zu werden, sie durchschaut seine Kleinmütigkeit und macht sich über sein wenig männliches Verhalten beim Sex lustig, weshalb sie ihn ungeniert betrügt. Mit Antonio Pace, dessen Attraktivität sie auch mit dessen revolutionärer, linker Attitüde begründet.

Erst durch diese vordergründigen Ereignisse erhält der Subtext seiner Beförderung und der damit zusammenhängenden Mechanismen die kritische Bewertung. Das beginnt im Kleinen, wenn er die zwei Flaschen Sekt, mit denen er seinen Ausstand gibt, noch aus dem Kühlschrank der gerade ermordeten Geliebten mitnimmt, nimmt unangenehme Züge an, wenn der Dottore einen unbeteiligten Klempner (Salvo Randone) – eine direkte Anspielung auf Petris Film „I giorni contati“ von 1963, in dem Randone ebenfalls einen Klempner spielte – in seine Spielchen mit einbezieht und damit seine Macht gegenüber einem einfachen Arbeiter ausspielt, und verdeutlicht die Verlogenheit, wenn Studenten nach einem Protest in Massen verhaftet werden, aber ein Mörder, selbst als er seine Tat gesteht, von seinen Kollegen in Schutz genommen. Es ist nicht sein Individuum, das sie schützen, sondern seine Funktion als Vertreter des Staates und seiner Gesetze. Petri gibt seinem Protagonisten deshalb keinen Namen, sondern nur die Bezeichnung „Il dottore“ – ein Prädikat für Anstand, Bürgerlichkeit und Gesetzestreue.

"Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto" Italien 1970, Regie: Elio Petri, Drehbuch: Elio Petri, Ugo Pirro, Darsteller : Gian Maria Volonté, Florinda Bolkan, Gianni Santuccio, Sergio Tramonti, Salvo Randone, Laufzeit : 110 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Elio Petri:

Sonntag, 20. Januar 2013

Pane, amore e fantasia (Liebe, Brot und Fantasie) 1953 Luigi Comencini


Inhalt: Der aus der Gegend um Neapel stammende Maresciallo Carotenuto (Vittorio De Sica) wird als Leiter einer kleinen Carabinieri-Station in ein Dorf in die Abruzzen versetzt. Dass es sich bei dem 50jährigen noch um einen Junggesellen handelt, sorgt in der kleinen Gemeinde sofort für Aufruhr, denn dem attraktiven, charmanten Carotenuto wird allerhand zugetraut. Besonders die junge, aus einer armen Familie stammende Maria (Gina Lollobrigida), genannt "Bersagliera", fällt dem alten Schwerenöter ins Auge, ohne dass er ahnt, dass ein junger Brigadier (Roberto Rossi) in sie verliebt ist. Dem schüchternen jungen Mann war es in acht Monaten nicht gelungen, die kecke "Bersagliera" anzusprechen, weshalb sie sich von ihm zurückgewiesen fühlt.

Doch auch eine andere Frau weckt Carenutos Interesse, die Hebamme Annarella (Marisa Merlini), die aber regelmäßig für ein paar Tage nach Rom verschwindet, weshalb er befürchtet, dass sie dort schon vergeben ist. Da er nicht weiß, dass "Bersagliera" ebenfalls den Brigadier liebt, hält er ihre freche, offene Art ihm gegenüber für ein Entgegenkommen und macht sich Hoffnungen...







Luigi Comencini hatte schon seit Mitte der 40er Jahre als Drehbuchautor gearbeitet, bevor er 1948 mit "Proibito rubato" (Razzia in Neapel) seinen ersten Film drehte, an dem mit Suso Cecchi D'Amico eine wichtige Autorin des Neorealismus ("Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe, 1948)) beteiligt war. Obwohl "Proibito rubato" neorealistische Elemente aufwies, zählt der Film in seiner optimistischeren Anlage nicht zum inneren Kreis des Genres, wies aber schon auf Comencinis späteren Durchbruch als Regisseur mit "Pane, amore e fantasia" (Liebe, Brot und Fantasie) hin.

Als dieser 1953 entstand, lag die Hochphase des kritischen, marxistisch geprägten Neorealismus schon einige Jahre zurück. Vittorio De Sicas hatte ein Jahr zuvor in "Umberto D.", einem der letzten exemplarischen Werke des Neorealismus, von dem Schicksal eines alternden Mannes innerhalb einer sich erneuernden Gesellschaft erzählt, die den Krieg hinter sich lassen wollte. Der enorme Erfolg von "Pane, amore e fantasia", dem Comencini mit "Pane, amore e gelosia" (Liebe, Brot und Eifersucht, 1954) ein Jahr später eine inhaltlich unmittelbar anschließende Fortsetzung folgen ließ, lässt darauf schließen, dass inzwischen generell ein humorvoller, optimistischer Umgang mit der Realität gefragt war. Mit "Pane, amore e ..." (Liebe, Brot und tausend Küsse) wurde 1955 sogar noch ein weiterer Film nach der Erfolgsformel gedreht, an dem allerdings nur noch Vittorio De Sica und der Co-Autor Ettore Margadonna von der Stammbesetzung dabei waren (die sogar noch an dem 1958 gedrehten spanischen Ableger "Pan, amor y ...Andalucia" beteiligt waren). Sophia Loren hatte unter der Regie von Dino Risi den Part des schönen italienischen Mädchens von Gina Lollobrigida übernommen, inhaltlich und formal hatte sich der komödiantischer angelegte Film aber von seinen beiden Vorgängern entfernt.

"Pane, amore e fantasia" weist dagegen noch eine deutliche Nähe zum Neorealismus auf. Das kleine Dorf in den Bergen der Abruzzen, in dem die Story spielt, wurde zwar für die Filmhandlung erfunden, könnte aber real existieren. Als der Maresciallo Carotenuto (Vittorio De Sica) dort seine Stelle als Leiter einer Carabinieri-Station antritt, fallen ihm die Ruinen mitten im Ort auf. Auf seine Frage, ob das noch die Folge eines Bombardements aus dem Krieg wäre, wird ihm als Ursache ein Erdbeben genannt. Als er entsprechend bei einer weiteren Ruine mutmaßt, sie wäre ebenfalls bei einem Erdbeben entstanden, heißt es diesmal, das Haus wäre von Bomben zerstört worden. Dieser trocken vorgetragene Humor ist signifikant für einen Film, der die Missstände nicht leugnet, sie aber nicht mehr tragisch nimmt. Das gilt ebenso für die "Fantasie" im Filmtitel, die einem Dialog des Maresciallo mit einem alten Mann zu verdanken ist, der auf seine Frage, welchen Belag er auf seinem Brot hätte, die beiden Hälften auseinander nimmt und die Leere als "Fantasie" bezeichnet. Die Menschen sind arm und haben nur wenig zu essen, aber sie verlieren deshalb noch lange nicht ihre gute Laune.

Doch weniger dieser lässige Umgang mit den äußerlichen Realitäten erzeugte den Erfolg an den Kinokassen, als die Konzentration auf die eher zwischenmenschlichen "Realitäten", zusätzlich noch mit einer spezifisch italienischen Eigenart gewürzt. Schon der zu Beginn eingeblendete Text weist auf die Situation der Carabinieri hin, die zwar normale Männer mit üblichen Bedürfnissen wären, gleichzeitig aber den Regeln und Gesetzen der Armee verpflichtet sind. Obwohl die Carabinieri zivile Aufgaben als Polizisten übernahmen, gehörten sie zu den italienischen Streitkräften (seit 2000 als eigenständige Teilstreitkraft), weshalb die Männer für einige Jahre an den Ort in den Abbruzzen versetzt wurden, selbst aber aus entfernten Regionen stammen. Die sich daraus ergebenden sprachlichen und moralischen Verwicklungen, sind wesentlich für die Wirkung des Films, denn der zwar schon leicht gealterte, aber sehr charmante Maresciallo, der aus Sorrento in der Nähe von Neapel stammt, wird mit den altertümlichen Regeln des Bergdorfes konfrontiert und gerät zunehmend in Schwierigkeiten. Wie die beiden berühmten Figuren Statler und Waldorf viele Jahre später in der "Muppet Show", kommentieren zudem in "Pane, amore e fantasia" drei kauzige Greise, teilweise mit Fernrohr bewaffnet, von ihrer Bank aus alle Regungen ihrer Mitbürger, selbstverständlich ganz ihrer erzkonservativen Haltung verpflichtet.

Entscheidend für die Popularität des Film, aber auch für ihren eigenen Aufstieg zu "Gina nazionale" im Herzen der Italiener, ist die von Gina Lollobrigida gespielte Rolle der Maria, genannt "La Bersagliera" (etwa "die Freche, Aufmüpfige"). Sie hatte schon unter Carlo Lizzani in dem neorealistischen Film "Achtung! Banditi!" (1951) die Hauptrolle gespielt, zudem in zwei internationalen Produktionen mitgewirkt ("Fanfan, la tulipe" (Fanfan, der Husar, 1952) und "Beat the devil" (Schach dem Teufel, 1953) unter John Huston, aber erst die Rolle des schönsten und gleichzeitig ärmsten Mädchens des Dorfes, ließ sie zum großen Star werden.

In ihrer Figur verbanden sich Realität und die Sehnsüchte ihrer Zeit. Barfuß in einem schäbigen Kleid herumlaufend oder auf einem Esel, ihrem einzigen Besitz, reitend, versucht sie mit nicht immer ganz legalen Methoden ihre Mutter zu unterstützen, die alleine eine Vielzahl von Kindern durchbringen muss. Gleichzeitig tritt sie selbstbewusst und emotional auf und ist dem einflussreichen Pfarrer Don Emidio (Virgilio Riento) ein Dorn im Auge, da er ihre Schönheit und gleichzeitige Bedürftigkeit als große Versuchung für die Männer ansieht. Doch Maria hat nur Augen für den schüchternen Carabinieri Pietro (Roberto Russo), der heimlich in sie verliebt ist, von dem sie sich wegen dessen Tatenlosigkeit, aber auch wegen ihrer Armut abgelehnt fühlt, weshalb sie ihn bewusst schlecht behandelt. Maresciallo Carotenuto, dessen Single-Dasein bei den Bewohnern des Ortes sofort Misstrauen auslöste, hat dagegen weniger Probleme, sich dem weiblichen Geschlecht zu nähern. Natürlich gefällt ihm „La Bersagliera“, aber auch die Hebamme Annarella (Marisa Merlini) besitzt seine Aufmerksamkeit, allerdings irritiert es ihn, dass sie regelmäßig für ein Wochenende nach Rom fährt – hat sie dort einen Verehrer?

„Pane, amore e fantasia“ wird häufig als erster Vorläufer der „Commedia all'italiana“ bezeichnet, fügt sich aber stimmig in eine Entwicklung ein, die in den späten 40er Jahren begann. Schon die unter der gemeinsamen Regie von Steno und Mario Monicelli entstandenen Filme mit Totò in der Hauptrolle (unter anderen „Guardi e ladri“ (Räuber und Gendarm, 1951)), verbanden Alltagsrealität mit Humor. Auch Comencinis Film verliert trotz seiner Leichtigkeit und den im Mittelpunkt stehenden Liebesverwirrungen nie die Realität aus den Augen – selbst das Happy-End wird ein wenig einschränkt – vorherrschender Eindruck blieb aber die allgemeine Lebensfreude, während eine Komödie wie „I soliti ignoti“ (Diebe haben's schwer, 1958) von Mario Monicelli, die heute als Beginn der „Commedia all'italiana“ in ihrer bissig, ironischen Form gilt, ihr kritisches Potential nicht verloren hat.

Zeitgenössisch betrachtet war Comencinis Kritik an der damals vorherrschenden Moral sicherlich gewagt, so wie Gina Lollobrigidas Auftreten erste Anzeichen einer weiblichen Emanzipation aufwies, auch wenn sie sich letztlich noch in ihre Rolle als anständige junge Frau fügte. Doch damit ebnete der Film eher den Weg in Richtung leichterer Komödien, die die folkloristisch italienischen Eigenarten betonten, wie die zweite Fortsetzung „Pane, Amore e...“ oder der ähnlich geartete  „It started in Naples“ (Es begann in Neapel, 1960), jeweils mit Sophia Loren und Vittorio De Sica in wichtigen Rollen, dessen Karriere als Regisseur sich später in eine vergleichbar oberflächliche Richtung entwickelte. Doch das ändert nichts an dem sehr guten Gesamteindruck eines auch unbequeme Konsequenzen nicht scheuenden Films, dem es gelang einer harten Realität Hoffnung und Freude abzuringen. Und der damit den Nerv seiner Zeit und seiner Landsleute traf.

"Pane, amore e fantasia" Italien 1953, Regie: Luigi Comencini, Drehbuch: Luigi Comencini, Ettore Maria Mergadonna, Darsteller : Gina Lollobrigida, Vittorio De Sica, Marisa Merlini, Roberto Risso, Maria Pia Casilio, Virgilio Riento, Laufzeit : 87 Minuten


weitere im Blog besprochene Filme von Luigi Comencini:

Samstag, 19. Januar 2013

100 film italiani di salvare - 100 zu bewahrende italienische Filme 1942 - 1978

Die Aufstellung einer Liste der besten Filme, egal unter welchen Vorzeichen, war schon immer eine beliebte Spielerei unter Filmfreunden, die mehr über den Verfasser einer solchen Tabelle aussagte, als über die Qualität der Filme selbst. Neben diesem legitimen Versuch, die eigenen individuellen Vorlieben zu erfassen - in der Regel eine Momentaufnahme - gab es auch immer wieder das Bestreben, einen bleibenden, quasi allgemein gültigen Kanon der besten Filme aufzustellen. 

In Italien wurde dieses Projekt von der "Cinecittà Holding" in Zusammenarbeit mit den "Filmfestspielen Venedig" in Angriff genommen, gefördert durch das "Ministerium der schönen Künste". Neun Journalisten, Historiker und Filmschaffende kamen zusammen und stellten eine chronologische Liste der aus ihrer Sicht bewahrenswertesten italienischen Filme der Jahre 1942 bis 1978 auf, eine zeitliche Begrenzung, die einen gewissen endgültigen Charakter ausstrahlen sollte. Diese Liste spiegelt meine persönliche Meinung nicht wider, auch wenn eine Vielzahl ausgezeichneter Filme darunter sind, die zu meinen Favoriten gehören. Entscheidender ist weniger, welche Filme aufgelistet sind - 100 zu bewahrende Filme dieser beinahe 40jährigen Epoche aufzuführen, ist nicht schwierig - sondern welche fehlen. Auch ist diese Liste in der Hinsicht interessant, wie italienische Künstler und Intellektuelle das Filmschaffen ihres Landes beurteilen.

Zur besseren Übersicht wurden die 100 Filme nach den vier Jahrzehnten aufgegliedert, jeweils von mir hinsichtlich ihrer inneren Struktur kommentiert. Die schon im Blog besprochenen Filme sind entsprechend verlinkt.

1. Die 40er Jahre (1942 - 1950)

01 "Quattro passi fra le nuvole" (Lüge einer Sommernacht) Alessandro Blasetti (1942)
02 "Ossessione" Luchino Visconti (1943)
03 "Roma città aperta" (Rom, offene Stadt) Roberto Rossellini (1945)
04 "Paisà" Roberto Rossellini (1946)
05 "Sciuscià" (Schuhputzer) Vittorio De Sica (1946)
06 "L'onorevole Angelina" (Abgeordnete Angelina) Luigi Zampa (1947)
07 "Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe) Vittorio De Sica (1948)
08 "La terra trema" (Die Erde bebt) Luchino Visconti (1948)
09 "Riso amaro" (Bitterer Reis) Giuseppe De Santis (1949)
10 "La città dolente" Mario Bonnard (1949)
11 "Cielo sulla palude" (Himmel über den Sümpfen) Augusto Genina (1949)
12 "Stromboli, terra di Dio" (Stromboli) Roberto Rossellini (1949)
13 "Catene" (Sühne ohne Sünde) Raffaello Matarazzo (1949)
14 "Il cammino della speranza" (Der Weg der Hoffnung) Pietro Germi (1950)
15 "Domenica d'agosto" (Ein Sonntag im August) Luciano Emmer (1950)
16 "Cronaca di un amore" (Chronik einer Liebe) Michelangelo Antonioni (1950)
17 "Luci del varietà" (Lichter des Varieté) Alberto Lattuada / Federico Fellini (1950)
18 "Prima comunione" (Der Göttergatte) Alessandro Blasetti (1950)

Es ist wenig erstaunlich, dass die frühesten Filme bis 1949 alle dem Stil des Neorealismus verpflichtet sind, obwohl diese nur einen geringen Teil am damaligen Filmschaffen ausmachten, das sonst größtenteils in Vergessenheit geraten ist. Es ließe sich diskutieren, warum mit "Riso amaro" ein plakativer, wenig kritischer Film den Vorzug vor Giuseppe De Santis "Caccia tragica" (Tragische Jagd, 1947) erhielt, aber daran wird eine signifikante Eigenschaften der Liste deutlich. Nicht nur die Qualität des Films war ausschlaggebend, auch seine historische Bedeutung spielte eine Rolle bei der Bewertung - diese sprach eindeutig für "Riso amaro"


2. Die 50er Jahre (1951 - 1960):

19 "Bellissima" Luchino Visconti (1951)
20 "Due soldi di speranza" (Für zwei Groschen Hoffnung) Renato Castellani (1951)
21 "Guardie e ladri" (Räuber und Gendarm) Steno / Mario Monicelli (1951)
22 "Miracolo a Milano" (Das Wunder von Mailand) Vittorio De Sica (1951)
23 "La famiglia Passaguai" (Aufruhr im Familienbad) Aldo Fabrizi (1951)
24 "Umberto D." Vittorio De Sica (1952)
25 "Europa '51" Roberto Rossellini (1952)
26 "Lo sceicco bianco" (Die bittere Liebe) Federico Fellini (1952)
27 "Totò a colori" (Toto in Farbe) Steno (1952)
28 "Don Camillo" (Don Camillo und Peppone) Julien Duvivier (1952)
29 "Pane, amore e fantasia" (Liebe, Brot und Fantasie) Luigi Comencini (1953)
30 "I vitelloni" (Die Müßiggänger) Federico Fellini (1953)
31 "Napoletani a Milano" Eduardo De Filippo (1953)
32 "Febbre di vivere" ( Die Lust des Bösen) Claudio Gora (1953)
33 "La provinciale" (Gefährliche Schönheit) Mario Soldati (1953)
34 "Carosello napoletano" (Karussel Neapel) Ettore Giannini (1953)
35 "Il sole negli occhi" (Die Sonne in den Augen) Antonio Pietrangeli (1953)
36 "La spiaggia" (Der Skandal) Alberto Lattuada (1954)
37 "L'oro di Napoli" (Das Gold von Neapel) Vittorio De Sica (1954)
38 "Un Americano a Roma" (Ein Amerikaner in Rom) Steno (1954)
39 "L'arte di arrangiarsi" (Die Kanaille von Catania) Luigi Zampa (1954)
40 "Senso" (Sehnsucht) Luchino Visconti (1954)
41 "La strada" (La strada - das Lied der Straße) Federico Fellini (1954)
42 "Una donna libera" Vittorio Cottafavi (1954)
43 "Gli sbandati" (Die Verirrten) Francesco Maselli (1955)
44 "Un eroe dei nostri tempi" (Ein Held unserer Tage) Mario Monicelli (1955)
45 "Poveri ma belli" (Ich lass' mich nicht verführen) Dino Risi (1956)
46 "Il grido" (Der Schrei) Michelangelo Antonioni (1957)
47 "Le notti di Cabiria" (Die Nächte der Cabiria) Federico Fellini (1957)
48 "I soliti ignoti" (Diebe haben's schwer) Mario Monicelli (1958)
49 "Arrangiatevi!" Mauro Bolognini (1959)
50 "La grande guerra" (Man nannte es den großen Krieg) Mario Monicelli (1959)
51 "I magliari" (Auf St.Pauli ist der Teufel los) Francesco Rosi (1959)
52 "Tutti a casa" (Der Weg zurück) Luigi Comencini (1960)
53 "La dolce vita" (Das süße Leben) Federico Fellini (1960)
54 "Rocco e i suoi fratelli" (Rocco und seine Brüder) Luchino Visconti (1960)
55 "La ragazza con la valigia" (Das Mädchen mit dem leichten Gepäck) Valerio Zurlini (1960)
56 "La lunga notte del '43" (Die lange Nacht von Ferrara) Florestano Vancini (1960)
57 "Il bell'Antonio" (Bel Antonio) Mauro Bolognini (1960)

Die Liste der 50er Jahre entspricht den Erwartungen. Beginnend mit den Spätwerken des Neorealismus von Vittorio De Sica und Roberto Rossellini, werden die Filme der bekanntesten Regisseure Michelangelo Antonioni, Federico Fellini oder Luchino Visconti größtenteils berücksichtigt. Auch die führenden Vertreter der "Commedia all'Italiana" Mario Monicelli, Steno (mit dem Volksschauspieler Totò), Dino Risi, Mauro Bolognini und Luigi Comencini wurden ausreichend bedacht. Überraschend ist, dass Antonio Pietrangelis Frühwerk "Il sole negli occhi" (Die Sonne in den Augen) den Vorzug vor "Adua e le compagne" (Adua und ihre Gefährtinnen, 1960) erhielt, aber insgesamt gibt es wenige ausgefallene Vorschläge. Auffällig ist, dass die frühen Auftritte von Gina Lollobrigida, Marcello Mastroianni oder Claudia Cardinale zur Liste gehören, aber kein Film, indem Sophia Loren eine Hauptrolle spielte - eine Ansicht, die ich nachvollziehen kann. Dass die Liste der 50er Jahre verhältnismäßig viele Strömungen und Regisseure berücksichtigt - darunter als "Don Camillo"-Regisseur auch den Franzosen Julien Duvivier - liegt daran, dass diese Phase mit 39 Filmen innerhalb der Gesamtliste überdurchschnittlich stark repräsentiert ist.


3. Die 60er Jahre (1961 - 1970):

58 "Una vita difficile" (Das Leben ist schwer) Dino Risi (1961)
59 "Divorzio all'italiana" (Scheidung auf italienisch) Pietro Germi (1961)
60 "Il posto" (Der Job) Ermanno Olmi (1961)
61 "Accattone" Pier Paolo Pasolini (1961)
62 "Leoni al sole" Vittorio Caprioli (1961)
63 "Il sorpasso" (Verliebt in scharfe Kurven) Dino Risi (1962)
64 "Salvatore Giuliano" Francesco Rosi (1962)
65 "L'eclisse" (Liebe 1962) Michelangelo Antonioni (1962)
66 "Mafioso" Alberto Lattuada (1962)
67 "I mostri" (Die Monster) Dino Risi (1963)
68 "Le mani sulla città" (Hände über der Stadt) Francesco Rosi (1963)
69 "Otto e mezzo" (Achteinhalb) Federico Fellini (1963)
70 "Il gattopardo" (Der Leopard) Luchino Visconti (1963)
71 "La donna scimmia" Marco Ferreri (1963)
72 "Chi lavora è perduto" (Wer arbeitet, ist verloren) Tinto Brass (1963)
73 "La vita agra" Carlo Lizzani (1964)
74 "I pugni in tasca" (Mit der Faust in der Tasche) Marco Bellocchio (1965)
75 "Io la conoscevo bene" (Ich habe sie gut gekannt) Antonio Pietrangeli (1965)
76 "Comizi d'amore" (Gastmahl der Liebe) Pier Paolo Pasolini (1965)
77 "Signore & signori" Pietro Germi (1966)
78 "Uccellacci e uccellini" (Große Vögel, kleine Vögel) Pier Paolo Pasolini (1966)
79 "La battaglia di Algeri" (Die Schlacht von Algier) Gillo Pontecorvo (1966)
80 "La Cina è vicina" Marco Bellocchio (1967)
81 "Dillinger è morto" (Dillinger ist tot) Marco Ferreri (1968)
82 "Banditi a Milano" (Die Banditen von Mailand) Carlo Lizzani (1968)
83 "Il medico della mutua" Luigi Zampa (1968)
                         (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger) Elio Petri (1970)
85 "Il conformista" (Der große Betrug) Bernardo Bertolucci (1970)

Das nur 28 Filme der 60er Jahre in die Liste aufgenommen wurden im Vergleich zu den 39 Filmen der 50er Jahre wirkt unverhältnismäßig, besonders wenn man bedenkt, dass mit Pier Paolo Pasolini, Francesco Rosi und Pietro Germi drei Regisseure neu hinzu gekommen waren, die neben den etablierten Kräften Antonioni, Visconti, Risi und Fellini stark repräsentiert sind. Für junge Regisseure wie Tinto Brass, Elio Petri, Antonio Pietrangeli, Marco Ferreri oder Bernardo Bertolucci blieben nur einzelne beispielhafte Erwähnungen. Aber auch Luchino Viscontis spätere Filme nach "Il gattopardo" fanden keine Aufnahme mehr in die Liste, vielleicht weil sie sich weniger spezifisch italienischen Themen widmeten. Mit dieser Argumentation ließe sich auch die vollständige Abwesenheit des "Italo-Western" begründen, aber dann hätte auch Pontecorvos "La battaglia di Algeri" fehlen müssen. 

Während die Liste der 50er Jahre noch die Bandbreite zwischen neorealistischem Drama und volkstümlicher Komödie abdeckte, fällt bei den Filmen der 60er Jahre auf, dass ganze Genres nicht berücksichtigt wurden. Nicht nur die Klassiker des Horrorfilms, Giallo oder Western existieren nicht, auch Elio Petris originelle Genre-Ausflüge finden keine Anerkennung wie auch Mario Monicellis "L'armata Brancaleone" für die "Commedia all'Italiana" und Damiano Damiani für den Polit-Film wahrscheinlich zu grob oder plakativ waren. Man könnte es als ausgleichende Gerechtigkeit ansehen, dass auch Michelangelo Antonioni nach "L'eclisse" (1962) nicht mehr berücksichtigt wurde, aber insgesamt verliert die Liste der zu bewahrenden italienischen Filme stark an Gehalt, angesichts der extremen Unterrepräsentierung der produktivsten Jahre des italienischen Films. 


4. Die 70er Jahre (1971 - 1978):


86 "L'udienza" Marco Ferreri (1971)
87 "Diario di un maestro" Vittorio De Seta (1972)
88 "Il caso Mattei" (Der Fall Mattei) Francesco Rosi (1972)
89 "Lo scopone scientifico" (Teuflisches Spiel) Luigi Comencini (1972)
90 "Nel nome del padre" Marco Bellocchio (1972)
91 "Amarcord" Federico Fellini (1974)
92 "C'eravamo tanto amati" (Wir waren so verliebt) Ettore Scola (1974)
93 "Pane e cioccolata" (Brot und Schokolade) Franco Brusati (1974)
94 "Fantozzi" (Das größte Rindvieh weit und breit) Luciano Salce (1975)
95 "Novecento" (1900) Bernardo Bertolucci (1976)
96 "Cadaveri eccellenti" (Die Macht und ihr Preis) Francesco Rosi (1976)
97 "Una giornata particolare" (Ein besonderer Tag) Ettore Scola (1977)
98 "Un borghese piccolo piccolo" Mario Monicelli (1977)
99 "Padre padrone" Paolo e Vittorio Taviani (1977)
100 "L'albero degli zoccoli"(Der Holzschuhbaum) Ermanno Olmi (1978)

Auf Grund der wenigen Filme, die es aus den 70er Jahren noch in die Liste schafften, entsteht der Eindruck, das italienische Kino wäre schon in den späten 60er Jahren in die Krise geraten und nicht erst in den 80er Jahren. Zwar verfügen die aufgeführten Filme über eine gewisse Bandbreite, aber wieder fanden die gröberen, plakativeren Werke wie "La grande bouffe" (Das große Fressen, 1973) und "L'ultima donna" (Die letzte Frau, 1976) von Marco Ferreri oder "Brutti, sporchi e cattivi" (Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen, 1976) von Ettore Scola keine Aufnahme in die Liste, obwohl beide Regisseure vertreten sind. Kaum noch erwähnenswert ist, dass der Poliziesco nicht existent ist, obwohl es wenige Genres gab, die dem italienischen Alltag näher kamen - von den erotischen Filmen ganz abgesehen, die trotz ihrer nicht unwesentlichen Bedeutung in der Spiegelung der sich verändernden Sozialisation keine Rolle in dieser Liste spielen.

Ohne Zweifel besteht die Liste der 100 erhaltenswerten italienischen Filme größtenteils aus qualitativ hochwertigen Werken. Doch während bei der Auswahl der frühen Jahre noch der Spagat zwischen populären und künstlerisch ambitionierten Werken gelang, blieb der Blick der letzten zwei Jahrzehnte zu sehr beschränkt auf das gediegene intellektuelle Kino. Provokative, plakative, politisch relevante Filme wie es auch die frühen Filme des Neorealismus oder der "Commedia all'italiana" waren, blieben unberücksichtigt.

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.