Entsprechend bestimmt er auch, dass sie zusätzlich die 14jährige Tochter Nenè (Leonora Fani) seines im Sterben liegenden Bruders aufnehmen, obwohl Platz und Nahrungsmittel knapp sind. Vor allem für Ju erweist sich die Anwesenheit seiner Cousine als willkommene Bereicherung, denn seine zunehmende Neugier auf das weibliche Geschlecht, wird von ihr verständnisvoll erwidert...
Die ersten freien, demokratischen Wahlen in Italien am 18. April 1948 bilden den historischen Hintergrund, vor dem die Handlung in "Nenè" angesiedelt ist. Trotzdem ist dem Film seine Entstehung in den 70er Jahre deutlich anzumerken. Regisseur Salvatore Samperi, der nach Cesare Lanzas Roman auch das Drehbuch verfasste, blieb zwar inhaltlich im historischen Kontext, doch nicht nur die Parallelen zur Politik Italiens, sondern besonders der provokative Umgang mit der Sexualität verweisen auf die Entstehungszeit des Films. Zudem entsprachen die Frisuren der Kinder, aber auch des Friseurs „Baffo“ (Ugo Tognazzi) dem 70er Jahre Zeitgeschmack - für Samperi typisch, dem mehr Wert auf eine stimmige Atmosphäre legte, als auf die exakte Wiedergabe einer historischen Phase.
Obwohl im Film immer wieder die Auswirkungen des erst wenige Jahre zuvor beendeten 2. Weltkriegs erwähnt werden, vermittelte Samperi in "Nenè" von Beginn an ein Bild der italienischen Gesellschaft, das auch in der Entstehungszeit des Films vorstellbar gewesen wäre. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Ju (Sven Valsecchi), ein neunjähriger Junge, aus dessen Blickwinkel die Geschichte erzählt wird. Seine Neugierde, besonders seine erwachende Sexualität, trägt den gesamten Film. Während Ju ständig auf der Suche ist, die Umgebung erkundet und Fragen stellt, verweilen die übrigen Familienmitglieder in ihren tradierten Rollen. Seine Mutter (Paola Senatore), die sich mit dem Haushalt abplagt und versucht, mit dem wenigen Geld, dass ihr zur Verfügung steht, die Familie zu versorgen, beklagt dauernd ihr Schicksal. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie und wirft ihrem Mann vor, sie in diese Situation gebracht zu haben. Jus Vater (Tino Schirinzi), einerseits durch die Erlebnisse im Krieg traumatisiert, andererseits selbst frustriert über seine materiell schwache Position, versucht seine Rolle als Familienvorstand souverän auszufüllen, verfällt aber immer wieder in übertriebene Autorität, die er mit Stockschlägen auslebt. Auch Jus ältere Schwester Pa ist in ihrer Passivität, die ihre Mutter noch durch ihre Tiraden gegenüber Männern fördert, ganz dem konservativen Rollenmuster verpflichtet.

Allein durch die Tatsache, dass er als Sohn die Solidarität des Vaters genießt, der seine Aggressionen ausschließlich gegenüber den weiblichen Mitgliedern der Familie auslebt, kann sein Freiraum nicht erklärt werden. Viel mehr ist seine Rolle als Kommentar aus der Sicht eines intelligenten, aber noch unbelasteten Menschen zu verstehen. Zwar plappert auch er die Vorurteile seiner Umgebung nach – wie bei der ersten Begegnung mit Rodi (Alberto Cancemi ), dem „Mulatten“ – aber sie haben seinen Geist noch nicht vernebelt, weshalb er schnell davon ablässt und anders handelt.
Neben Ju gibt es eine zweite „naive“ Rolle, die noch deutlicher auf die politische Situation in den 70er Jahren hinweist. Ugo Tognazzi spielt einen Barbier, der voller Enthusiasmus für die kommunistische Partei eintritt und zu den Wahlen am 18. April ein großes Fest veranstaltet, bei dem er den Wahlsieg feiern will. Diese Erwartungshaltung ergab sich aus der Solidarität zwischen den Widerstandskämpfern und der Bevölkerung nach dem 2.Weltkrieg. Fast zwingend schien die kommunistische Partei an der Reihe zu sein, angesichts eines jahrzehntelangen Rechtsradikalismus, der Italien ins Unglück gestürzt hatte, aber längst waren wieder andere Kräfte im Spiel - wie der Priester in der gut besuchten Ortskirche, der sehr deutlich werden lässt, welche Partei ein gläubiger Christ zu wählen hat. Dieses scheinbare Erstarken der kommunistischen Partei, die die Wahl überraschend klar gegen die Christdemokraten verlor, erinnerte auch an die Situation der Partei Mitte der 70er Jahre, als sie sich – ebenfalls vergeblich – ein zweites Mal der Regierungsverantwortung annäherte. Ugo Tognazzis abschließende Rede ist dann auch mehr ein Manifest der persönlichen Enttäuschung als des trotzigen Aufbegehrens. Sein Glauben an die Bevölkerung scheint verloren gegangen zu sein und es wäre interessant zu erfahren, warum er – trotz seiner prägnanten Rolle – in den Credits nicht aufgeführt wird.


Wirklich in Erinnerung bleiben aber Tognazzis Schlussplädoyer und besonders der kleine Ju, dessen Neugier ihn unfreiwillig die Realitäten der Welt lehren lässt – am Ende des Films haben Beide ihre Naivität verloren.
"Nenè" Italien 1977, Regie: Salvatore Samperi, Drehbuch: Salvatore Samperi, Cesare Lanza (Roman), Darsteller : Leonora Fani, Tino Schirinzi, Paola Senatore, Alberto Cancemi, Laufzeit : 93 Minuten
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