Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Donnerstag, 28. April 2011

Le secret (Il segreto/ Das Netz der tausend Augen) 1974 Robert Enrico

Inhalt: Davide (Jean-Louis Trintignant) entkommt aus einem Keller, wo er gefangen gehalten und gefoltert wurde, indem er einen Wärter tötet und sich mit dessen Schlüsseln befreien kann. Er wird von einem Autofahrer nach Paris mitgenommen, dass nur eine halbe Stunde entfernt liegt. Bei einer Frau, die er zuvor nur einmal getroffen hatte, besorgt er sich Kleidung und Geld. Sie gibt es ihm im Wissen, es nicht zurück zu bekommen, denn Niemand darf von ihrem Kontakt zu ihm erfahren. 

So ausgerüstet flieht er in eine entlegene, wenig besiedelte Gegend, um vor seinen Verfolgern unterzutauchen. Doch zu seiner Überraschung begegnet er dort einem Künstler-Paar, Julie (Marlène Jobert) und Thomas (Philipp Noiret), das alleine in einem alten Schloß lebt. Er will wieder verschwinden, aber Thomas überredet den Fremden, bei ihnen im Schloss zu übernachten, obwohl dieser keine Informationen preis gibt und nervös auf jedes Geräusch reagiert. Sein Verhalten wirkt merkwürdig, aber als plötzlich die französische Armee auftaucht, scheinen sich seine Befürchtungen zu bewahrheiten... 


Robert Enricos Film "Le secret" scheint in vielerlei Hinsicht ein typischer Vertreter des Paranoia-Kinos der 70er Jahre zu sein, das nicht nur den Diktaturen, sondern auch den demokratisch gewählten Regierungen totalitäre Methoden unterstellte und blieb doch einmalig in seiner Anlage. Anders als Costa-Gavras, der in "État de siége" (Der unsichtbare Aufstand, 1973) die USA anprangerte, die aus eigenen Machtinteressen die Diktaturen in Südamerika unterstützte, verzichtete Enrico hier vollständig auf einen Realitätsbezug und verwendete das Stilmittel des Unterhaltungskinos, für das er seit den 60er Jahren mit Filmen wie "Les aventurier" (Die Abenteurer, 1967) oder "Les grandes gueules" (Die großen Schnauzen, 1965) bekannt wurde. Im Mittelpunkt stehen Davide (Jean-Louis Trintignant), der aus einem Gefängnis ausgebrochen war, und das Paar Julie (Marlène Jobert) und Thomas (Philipp Noiret), auf die er bei seiner Flucht trifft. Deren Verhältnis untereinander spielt eine ebenso wichtige Rolle, wie die äußere Bedrohung, an der es von Beginn an keinen Zweifel gibt, denn "Le secret" beginnt mit der detaillierten Darstellung der Folter - und damit einer Methode, die in einem demokratischen Staat durch nichts legitimiert sein sollte.

"Le secret" behält damit zwei parallele Ebenen - die Innenansicht menschlichen Verhaltens, das mit höchster Emotionalität auf eine nicht einschätzbare Situation reagiert, und die Methodik eines Staates, der geradezu mechanisch die aus seiner Sicht notwendigen Schritte unternimmt. Das Geheimnis, das der Filmtitel andeutet, bekommt so eine doppelte Funktion. Zum Einen wird damit die Information bezeichnet, durch deren Verbreitung sich der Staat in Gefahr sieht, weshalb er Jeden aus dem Verkehr zieht, der als Mitwisser verdächtigt wird, zum Anderen verweigert sich der Film damit selbst jeder konkreten Einordnung, indem er konsequenterweise das Geheimnis nicht verrät. Die Intelligenz des Films liegt darin, dass es letztlich keine Rolle mehr spielt, ob man die hier formulierten, außerhalb der demokratischen Gesetzgebung stehenden Methoden, für real oder paranoid hält, denn allein die Interaktion der drei Protagonisten genügt schon, um die Selbstzerstörung deutlich werden zu lassen, die allein durch Desinformation entsteht.

Der 1974 in Frankreich entstandene, auch von der italienischen Firma EIA, die schon an Elio Petris "La classe oparaia va in paradiso" (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies, 1971) und Costa-Gavras "Ètat de siege" mitgewirkt hatte, produzierte Film – leider auf deutsch „Das Netz der tausend Augen“ getitelt, was eher an einen Dr. Mabuse - Kriminalfilm erinnert – sollte nicht als alleinige Anklage gegen den französischen Staat verstanden werden, sondern ganz generell die Gefahr verdeutlichen, in die jeder Bürger geraten kann, auch wenn er keineswegs politisch handeln will. Entsprechend stellen die drei Protagonisten verschiedene Typen dar, stellvertretend für die unterschiedliche Haltung einer Gesellschaft, ohne auf extreme Charaktere zuzugreifen oder zu polarisieren:

- Trintignant ist gleichzeitig Opfer und Täter. Der Film vermeidet eine politische Zuordnung seiner Person, die nie ideologische Meinungen vertritt und einmal sogar Verständnis für das Verhalten des Staates äußert. 
Dazu wirkt Davide jederzeit ernst und ist nie bemüht, etwas aufzuklären oder sich emotional zu verhalten. Seine Figur bleibt neutral, erzeugt bewusst keine Sympathien und ist indifferent in ihren Intentionen. Ob er tatsächlich wahnsinnig ist, wie die offiziellen Stellen behaupten, oder im Gegenteil von besonderem Bewusstsein, bleibt im Film lange Zeit offen. Diese Konstellation spiegelt eine klassische Informationssituation wider, deren Wahrheitsgehalt für den Außenstehenden nicht überprüfbar ist, und somit gegensätzliche Reaktionen auslösen muss

- darunter die von Thomas, der sich ohne ideologischen Hintergrund mit Davide solidarisiert. Er glaubt ihm und hilft ihm. Obwohl dieser nichts macht, was zu einer Freundschaft beiträgt, ist er für Thomas ein Freund. Dieses Verhalten macht ihn zu einer sympathischen Figur, verleiht ihm aber auch eine gewisse Naivität

- besonders aus Julias Blickwinkel, denn sie ist die Skeptikerin. Ihr macht Davide Angst ,obwohl sie ihn als Mann faszinierend findet. Zwischen ihr und Davide gibt es erotische Spannungen, aber das erhöht eher ihre Skepsis und so zieht sie es zumindest in Betracht, daß er ein Verbrecher sein könnte. Um das heraus zu bekommen, forscht sie nach und schaltet ihren Bruder ein, womit sie Davides Warnung, Niemanden zu informieren, ignoriert. Marlène Joberts Spiel ist deshalb so überzeugend, weil ihr Verhalten jederzeit nachvollziehbar ist, sie nie wie eine Verräterin oder Mitläuferin wirkt, sondern nur entsprechend ihrer Ängste handelt. Betrachtet man die Situation der drei Protagonisten objektiv, ist ihre Reaktion die vernünftigste, was am Ende auch Thomas bestätigt, der sie zärtlich in den Arm nimmt.


Im Gegensatz zu diesem Verhalten, steht die Rolle der staatlichen Stellen, die nie genau definiert werden und deren Vorgehensweise im Unklaren bleibt. Wo sie ihn genau suchen, ob sie schon seine Spur gefunden haben und welche Schritte sie planen, bleibt für den Betrachter genauso ungewiss wie für Davide. Die paranoide, klaustrophobische Situation der Protagonisten wird so unmittelbar erfahrbar und damit auch das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber einem übermächtigen Gegner.

Dass "Le secret" keine ideologischen Angriffe gegen eine personalisierte Institution äußerte, und sich an keinen realen Ereignissen dieser Zeit orientierte, von denen es genügend gegeben hätte, ist aus heutiger Sicht seine Stärke. Auch durch die Betonung des inneren Verhältnisses der drei Protagonisten gegenüber einem durchaus möglichen Action-Szenario, vermeidet der Film jede konkrete Zuordnung  von Schuldigen und macht gleichzeitig die Atmosphäre einer Angst deutlich, die unter dem Eindruck entsteht, das Jeder, auch ohne eigenes Verschulden, in diese Situation geraten kann. Ob das in einer Folter endet oder dem Wegschließen in einem Gefängnis, ließe sich als paranoide Spekulation bezeichnen, nicht aber die generelle Situation. 

"Le secret" Frankreich, Italien 1974Regie: Robert EnricoDrehbuch: Robert Enrico, Francis Ryck (Novelle)Darsteller : Jean-Louis Trintignant, Marlène Jobert, Philipp Noiret, Solange Pradel, Jean-Francois AdamLaufzeit : 92 Minuten

Montag, 18. April 2011

Senso (Sehnsucht) 1954 Luchino Visconti

Inhalt: Venedig 1866 - Während einer Aufführung im Opernhaus von Venedig "La Fenice" kommt es nach dem 3.Akt von Verdis "Il trovatore" zu einem Eklat, als die italienischen Patrioten, die von der Niederlage Österreichs gegen das mit Italien verbündete Preußen gehört hatten, gegen die österreichische Besatzungsmacht protestiert. Dabei wird Roberto Ussoni (Massimo Girotti) von dem österreichischen Offizier Franz Mahler (Farley Granger) beleidigt, worauf er diesen zu einem Duell fordert. Um das zu verhindern, bittet Ussonis Cousine, Gräfin Livia Serpieri (Alida Valli), Mahlers Vorgesetzten um ein Gespräch mit dem als Frauenheld bekannten Mann. 

Da Duelle verboten sind, hat sich das Problem schnell gelöst und Ussoni wird ausgewiesen, aber Livia verfällt zunehmend dem Charme des jüngeren Mannes und trifft sich heimlich mit ihm. Als sie wieder am verabredeten Ort auf ihn wartet, erscheint Mahler nicht. Auch ihr Versuch, ihn bei den anderen Offizieren anzutreffen scheitert. Zudem muss die Gedemütigte feststellen, dass ihre Haarlocke, die sie ihm in einem Anhänger geschenkt hatte, lieblos auf dem Tisch liegt.

Als sich die Ereignisse zwischen Italien und Österreich in Venedig zuspitzen, wird sie von ihrem Ehemann zu ihrem Landhaus in Sicherheit gebracht. Sie versucht Franz Mahler zu vergessen, aber plötzlich, während die Hunde noch anschlagen, steht er in ihrem Schlafzimmer...



"Senso" (Sehnsucht) wird filmhistorisch eine entscheidende Funktion zugeschrieben, denn nach verbreiteter Auffassung beendete Luchino Visconti damit die Phase des italienischen "Neorealismus", wie er sie mit "Ossessione" 1941 begonnen haben soll. Diese Meinung kann nur dem Versuch, zeitgenössische Entwicklungen greifbarer und damit katalogisierbar werden zu lassen, entsprungen sein, denn - unabhängig davon, dass der Realismus im italienischen Film weiter stilbildend blieb - handelt es sich bei "Senso" eher um einen Beginn als einen Abschluss in Viscontis Werk, denn hier setzte er sich das erste Mal intensiv mit der italienischen Geschichte und der Rolle des Adels auseinander - und damit mit seiner eigenen adeligen Herkunft.

"Senso" weist schon signifikante Parallelen zu "Il gattopardo" von 1963 auf. Da ist zum Einen der historische Hintergrund der Gründung eines vereinigten Italiens 1861, hier aus dem Blickwinkel Venedigs, dort von Sizilien aus gesehen, zum Anderen die Rolle des Adels innerhalb einer Entwicklung, die das Bürgertum stärkte, ihre eigene Machtposition aber schwächte. "Senso" ist zeitlich ein wenig später angesiedelt als "Il gattopardo", der die Anfänge der Vereinigung schildert, während Venedig und Triest noch von den Österreichern besetzt waren.

Die Handlung setzt ein, als sich 1866 - also 5 Jahre nach der offiziellen Gründung des italienischen Staates - herum sprach, dass Österreich von dem mit Italien verbündeten Preußen besiegt worden war. Gleich zu Beginn des Films kommt es nach dem dritten Akt von Verdis "Il trovatore" zu einem Tumult im venezianischen Opernhaus "La Fenice", in dessen Folge der adlige Freiheitskämpfer Roberto Ussoni (Massimo Girotti) den österreichischen Offizier Franz Mahler (Farley Granger) zu einem Duell fordert. Dadurch kommt Ussonis Cousine, Gräfin Livia Serpieri (Alida Valli), ins Spiel, die Mahler überreden will, auf das Duell zu verzichten. Dabei wäre ihr Bemühen gar nicht notwendig gewesen, denn noch besitzen die Österreicher die Kontrolle und weisen den aufmüpfigen Ussoni einfach aus.

Während "Il gattopardo" seinen Blick deutlich weiter in die Zukunft legte, und negative Entwicklungen aufzeigte, deren Auswirkungen schon auf den Faschismus unter Mussolini hinwiesen, verblieb Visconti in "Senso" noch ganz in der damaligen historischen Situation. Ähnlichkeit besteht wiederum darin, die unterschiedliche Reaktion des Adels durch die handelnden Personen wider zu spiegeln. Während Ussoni ganz auf der Seite der Befürworter eines vereinigten Italiens gegen die österreichische Besatzungsmacht kämpft, hat sich der Graf Serpieri (Heinz Moog), Livias Mann, mit dieser arrangiert und hält sich heraus. Er ist zwar Patriot, aber er misstraut dem neuen italienischen Staat.

Der entscheidende Unterschied zu "Il gattopardo" liegt aber darin, dass die Rolle Ussonis oder des Grafen, die ganzen detailliert dargestellten Befreiungskämpfe und Schlachten, denen man das Prädikat "historischer Realismus" verlieh - als ob nicht alle Filme Viscontis diese Qualität aufweisen - letztlich nur die Funktion einer Nebenhandlung einnehmen, denn wirklich im Mittelpunkt steht die Liebesgeschichte zwischen der Gräfin Livia und dem österreichischen Offizier Franz Mahler. Darin liegt keine Abwertung der Historie, sondern Viscontis legitimer Versuch, sich einer wichtigen Entwicklungsphase weniger durch die Beschreibung historischer Fakten zu nähern, als sie auf diese Weise emotional erfahrbar werden zu lassen.

Beide Protagonisten bestechen durch eine Ambivalenz, die weniger mit den Gefühlen für einander zu tun hat, als mit ihrer Position innerhalb der Gesellschaft. Livia führt eine kinderlose, standesgemäße Ehe mit einem deutlich älteren Mann, mit dem sie sonst wenig verbindet. Ihr Herz schlägt für ihren Cousin, dessen Ideale sie teilt, weshalb ihr auch das Geld der Freiheitskämpfer anvertraut wird. Ihre Liebe zu dem jüngeren Franz Mahler ist in mehrerer Hinsicht ein Verstoß gegen die Traditionen - nicht nur der Ehebruch an sich, sondern das Einlassen mit dem Feind und letztlich sogar der Verrat an den Verbündeten. Alida Valli gelingt es, ihren inneren Kampf spürbar werden zu lassen, weshalb sie nie die Sympathien verliert, aber zunehmend zu einer tragischen Figur wird. In ihr symbolisiert Visconti eine Phase wachsender Unsicherheit, die dazu führt, dass sie sich nicht mehr auf die Regeln verlassen kann, die ihre Position bisher bestimmten.

Ähnliches lässt sich auch zu Franz Mahler feststellen. Dass er mit Livia anbändelt, ist noch kein Bruch mit seiner Rolle, denn Mahler hatte schon vor der ersten Begegnung mit ihr den weit reichenden Ruf eines Verführers, aber als Offizier hat ihn der soldatische Ehrgeiz und die Lust auf den Kampf gegen den Feind längst verlassen. Farley Granger wirkt, trotz seiner scheinbar berechnenden Art, nie geradeheraus oder brachial. Auch wenn seine Liebesversprechungen gegenüber Livia zunehmend unglaubwürdig werden, bleibt sein Gesichtsausdruck merkwürdig somnambul - der Blick eines Menschen, der keine echte Lebensfreude mehr hat. Das nimmt seinem Umgang mit Livia und ihrer vermeintlich naiven Reaktion die Schärfe, denn Franz wirkt wie ein Mensch, der selbst nicht weiß, was er will.

Zwar ist der deutsche Titel "Sehnsucht" nicht exakt übersetzt (wörtlich "Gefühl"), aber er trifft den Inhalt genau. Nur sollte man das nicht allein auf die Liebesgeschichte beziehen, die Visconti aus dem Blickwinkel der Frau schildert, denn diese bedeutet vor allem Flucht - aus einer Tradition, die sich überholt hat, aber auch vor einer Moderne, deren Auswirkungen man nicht kennt. Daraus erwächst eine Sehnsucht nach vermeintlicher Sicherheit, die Livia noch in eine Beziehung zu Franz treibt, als deren Scheitern schon lange offensichtlich ist, während dieser wie ein Selbstmörder auf sein Ende hin zuwandelt - in beiden manifestiert Visconti eine Zeit des Umbruchs, deren Folgen noch nicht absehbar sind.

"Senso" Italien 1954, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi d'Amico, Camillo Boito (Roman), Darsteller : Alida Valli, Farley Granger, Heinz Moog, Rina Morelli, Massimo Girotti, Laufzeit : 114 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luchino Visconti:

Samstag, 2. April 2011

La decima vittima (Das zehnte Opfer) 1965 Elio Petri

Inhalt:  Caroline Meredith (Ursula Andress) wird von einem Mann verfolgt, der mitten in New York auf sie schießt. Das stört sie allerdings genauso wenig, wie den Polizisten, der nur überprüft, ob der Schießwütige auch die notwendige Lizenz als "Jäger" hat. Nachdem er diese vorgezeigt hatte, darf er Caroline weiter verfolgen, die ihn geschickt in einen "Masochisten-Club" lockt. Dort erkennt er nicht, dass es sich bei ihr um die Striptease-Tänzerin handelt, weshalb sie ihm so nah kommt, dass sie ihn mit zwei Pistolen aus ihrem BH erschießen kann. Damit hat Caroline auch ihre neunte Aufgabe erfüllt, weshalb sie nur noch einmal als Jägerin erfolgreich sein muss, um eine Million Dollar Preisgeld zu verdienen.

Bei ihrem "Opfer" handelt es sich um Marcello Polletti in Rom, der von den Computern ausgewählt wurde. Er hatte gerade zuvor einen deutschen Reiter als Jäger getötet, und befindet sich nun wieder in der "Opfer" - Situation, in der er seinen Gegner nicht kennt. Er muss darauf achten, nicht überraschend erschossen zu werden, darf aber gleichzeitig auch nicht den Falschen erschießen, da er sonst 30 Jahre lang ins Gefängnis muss. Als er Caroline, die mit ihrer Crew nach Rom geflogen ist, kennen lernt, ahnt er noch nicht, dass sie ihn töten will...


Wie bestimmte Informationen zustande gekommen sind, die dann bis in die Gegenwart ohne sie zu hinterfragen weiter getragen werden, lässt sich im Nachhinein oft nur schwer feststellen. Vielleicht lag es an der deutschen Synchronisation, die die Handlung einfach in das Jahr 2066 und damit um hundert Jahre in die Zukunft versetzte. Tatsächlich gibt es in "La decima vittima" (Das zehnte Opfer) weder eine Jahresangabe, noch einen Hinweis auf eine zukünftige Entwicklung, sondern nur die Zustandsbeschreibung einer Gegenwart, die futuristische Züge an sich hat.

Man könnte das als nebensächlich erachten, aber das Versetzen einer Handlung in eine so weit entfernte Zukunft, hat zur Folge, dass die Betrachter das Geschehen nur als fiktiv, und damit ohne Bezug zur Gegenwart ansehen. Zwar hatte Elio Petri für sein Drehbuch die Erzählung "La settima vittima" (Das siebte Opfer) des Science-Fiction Autors Robert Sheckley zur Grundlage genommen, und damit dessen Idee von legitimen Morden innerhalb klarer Spielregeln zur Kanalisation von Aggressionen aufgenommen, erweiterte diesen Gedanken aber so stark, dass Sheckley später - wiederum auf der Basis des Films - noch den Roman "Das zehnte Opfer" herausbrachte. Das lässt deutlich werden, das "La decima vittima" weniger die Verfilmung einer literarischen Vorlage ist, als das genuine Werk Elio Petris - und dieser zielte in seinen Filmen immer auf die Gegenwart.

Wenn es dafür noch eines Beweises gebraucht hätte, dann liefert diesen die Ausstattung und das gewählte Ambiente. Die futuristische Wirkung erzielte Petri nur mit der Verwendung des damals aktuellen Designs. Einzig die unmittelbar mit dem Spiel zusammen hängenden Computer, wurden speziell für den Film entworfen. "La decima vittima" sog sämtliche aktuellen Design-Strömungen der Zeit, Mitte der 60er Jahre, in sich auf, die den damals vorherrschenden Optimismus, und damit einen unbedingten Zukunftsglauben in solcher Konsequenz verkörperten, dass die Anmutung des Films noch aus heutiger Sicht hyper-modern wirkt. Das gilt auch für die Optik der beiden Hauptdarsteller - Ursula Andress und Marcello Mastroianni - aber die gesellschaftliche Sozialisation der 60er Jahre blieb deutlich hinter diesem futuristischen Ambiente zurück.

Shekley's Idee eines Spiels, in dem legitim gemordet werden darf, war Anfang der 50er Jahre unter dem Eindruck des zweiten Weltkriegs entstanden. So lässt Petri im Film die These verlauten, dass Hitler nicht mit dem Krieg begonnen hätte, hätte er schon die Möglichkeit gehabt, derart seine Aggressionen auszuleben. Doch diese Bemerkung wirkt in Petris Film eher wie eine Reminiszens an Shekley's Original, als das sie viel mit seinem Film zu tun hätte. Denn aggressiv ist hier Niemand. Im Gegenteil wirkt schon der Beginn spielerisch, wenn sich Caroline (Ursula Andress) immer neckisch als Opfer zur Verfügung stellt, um dann den Schüssen ihres Jägers leichtfüssig auszuweichen, bevor sie ihn in einem New Yorker Masochisten-Club quasi mit ihren Brüsten niederstreckt. Damit hat sie fast ihr Ziel, eine Million Dollar zu gewinnen, erreicht, denn jetzt muss sie nur noch einmal als Jäger antreten, nachdem sie zuvor schon neun Runden, darunter fünfmal als Opfer, überstanden hatte.

Als ihr Opfer - allerdings erst in seiner siebten Runde - wurde Marcello Polletti (Marcello Mastroianni) von den Computern ausgewählt, nachdem dieser zuvor einen deutschen Reiter per Bombe umbrachte, die dieser durch zackiges Hackenzusammenschlagen selbst auslöste. Schon in dieser ironischen Tötungsart wird Marcellos eher ruhiges, keineswegs aggressives Wesen deutlich. Er hatte sich bei diesem Spiel nur angemeldet, um die Trennung von seiner aktuellen Frau bezahlen zu können. Olga (Elsa Martinelli), seine zukünftige Frau, wartet schon auf die Annullierung der Ehe.

Bei Elio Petri wandelt sich der zynisch geplante Aggressionsabbau zu einer Auseinandersetzung über die menschliche Sozialisation, speziell über das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Es ist eine veritable Fehlinterpretation, die aufkeimenden Gefühle zwischen Meredith und Marcello als unvorhergesehenen Faktor der Menschlichkeit im seelenlosen Charakter des Mord-Spiels anzusehen, denn bei Petri geht es gar nicht um den Moment des Tötens, der wie ein Nebenprodukt wirkt und keinerlei Emotionen auslöst, sondern ausschließlich um dessen Begleiterscheinungen. Wer die beginnende Beziehung zwischen Meredith und Marcello als romantisch empfindet, hat nicht begriffen, dass hier alles zu einer Inszenierung gehört, aus der sich jeder Beteiligte den möglichst größten materiellen Vorteil verspricht. So makaber die Momente wirken, wenn die Polizei nach einem Tötungsdelikt nur prüft, ob die Spielregeln auch korrekt eingehalten wurden, wirklich modern und für seine Zeit sehr weit voraus gedacht, ist der Film in den Momenten, in denen noch Werbesprüche aufgesagt werden, bevor man abdrückt, um dabei - zusätzlich zum ausgelobten Preisgeld - Gewinn einzustreichen.

"La decima vittima" leistet sich über die gesamte Laufzeit einen schnellen, spielerischen Rhythmus, der nur scheinbar satirisch ein makaberes Zukunftsszenario durchspielt. Hinter seiner unterhaltenden Fassade verbirgt sich ein zutiefst pessimistischer Blick auf eine Gegenwart, in der der kapitalistische Zukunftsglaube und die sozialen Verhältnisse immer weiter auseinander driften. In dieser Intention wird auch die Linie zu späteren Werken wie "La classe oparia va in paradiso" (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies) von 1971 erkennbar, in der letztlich nicht weniger absurd die Abkehr der italienischen Gesellschaft von Petris kommunistischen Idealen verdeutlicht werden. Wer die am Ende vollzogene Hochzeit der beiden Protagonisten, bei vorgehaltener Pistole, deshalb noch für ein Happy-End hält, glaubt auch daran, dass wirklich Blumen daraus hervor schießen - Elio Petris ganz spezielle Version des "Flower-Power".

"La decima vittima" Italien 1965, Regie: Elio Petrio, Drehbuch: Elio Petri, Tonino Guerra, Ernesto Gastaldi, Robert Sheckley (Erzählung), Darsteller : Ursula Andress, Marcello Mastroianni, Salvo Randone, Elsa Martinelli, Luce Bonifassy, Laufzeit : 92 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Elio Petri:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.