Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Donnerstag, 28. April 2011

Le secret (Il segreto/ Das Netz der tausend Augen) 1974 Robert Enrico

Inhalt: Davide (Jean-Louis Trintignant) entkommt aus einem Keller, wo er gefangen gehalten und gefoltert wurde, indem er einen Wärter tötet und sich mit dessen Schlüsseln befreien kann. Er wird von einem Autofahrer nach Paris mitgenommen, dass nur eine halbe Stunde entfernt liegt. Bei einer Frau, die er zuvor nur einmal getroffen hatte, besorgt er sich Kleidung und Geld. Sie gibt es ihm im Wissen, es nicht zurück zu bekommen, denn Niemand darf von ihrem Kontakt zu ihm erfahren. 

So ausgerüstet flieht er in eine entlegene, wenig besiedelte Gegend, um vor seinen Verfolgern unterzutauchen. Doch zu seiner Überraschung begegnet er dort einem Künstler-Paar, Julie (Marlène Jobert) und Thomas (Philipp Noiret), das alleine in einem alten Schloß lebt. Er will wieder verschwinden, aber Thomas überredet den Fremden, bei ihnen im Schloss zu übernachten, obwohl dieser keine Informationen preis gibt und nervös auf jedes Geräusch reagiert. Sein Verhalten wirkt merkwürdig, aber als plötzlich die französische Armee auftaucht, scheinen sich seine Befürchtungen zu bewahrheiten... 


Robert Enricos Film "Le secret" scheint in vielerlei Hinsicht ein typischer Vertreter des Paranoia-Kinos der 70er Jahre zu sein, das nicht nur den Diktaturen, sondern auch den demokratisch gewählten Regierungen totalitäre Methoden unterstellte und blieb doch einmalig in seiner Anlage. Anders als Costa-Gavras, der in "État de siége" (Der unsichtbare Aufstand, 1973) die USA anprangerte, die aus eigenen Machtinteressen die Diktaturen in Südamerika unterstützte, verzichtete Enrico hier vollständig auf einen Realitätsbezug und verwendete das Stilmittel des Unterhaltungskinos, für das er seit den 60er Jahren mit Filmen wie "Les aventurier" (Die Abenteurer, 1967) oder "Les grandes gueules" (Die großen Schnauzen, 1965) bekannt wurde. Im Mittelpunkt stehen Davide (Jean-Louis Trintignant), der aus einem Gefängnis ausgebrochen war, und das Paar Julie (Marlène Jobert) und Thomas (Philipp Noiret), auf die er bei seiner Flucht trifft. Deren Verhältnis untereinander spielt eine ebenso wichtige Rolle, wie die äußere Bedrohung, an der es von Beginn an keinen Zweifel gibt, denn "Le secret" beginnt mit der detaillierten Darstellung der Folter - und damit einer Methode, die in einem demokratischen Staat durch nichts legitimiert sein sollte.

"Le secret" behält damit zwei parallele Ebenen - die Innenansicht menschlichen Verhaltens, das mit höchster Emotionalität auf eine nicht einschätzbare Situation reagiert, und die Methodik eines Staates, der geradezu mechanisch die aus seiner Sicht notwendigen Schritte unternimmt. Das Geheimnis, das der Filmtitel andeutet, bekommt so eine doppelte Funktion. Zum Einen wird damit die Information bezeichnet, durch deren Verbreitung sich der Staat in Gefahr sieht, weshalb er Jeden aus dem Verkehr zieht, der als Mitwisser verdächtigt wird, zum Anderen verweigert sich der Film damit selbst jeder konkreten Einordnung, indem er konsequenterweise das Geheimnis nicht verrät. Die Intelligenz des Films liegt darin, dass es letztlich keine Rolle mehr spielt, ob man die hier formulierten, außerhalb der demokratischen Gesetzgebung stehenden Methoden, für real oder paranoid hält, denn allein die Interaktion der drei Protagonisten genügt schon, um die Selbstzerstörung deutlich werden zu lassen, die allein durch Desinformation entsteht.

Der 1974 in Frankreich entstandene, auch von der italienischen Firma EIA, die schon an Elio Petris "La classe oparaia va in paradiso" (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies, 1971) und Costa-Gavras "Ètat de siege" mitgewirkt hatte, produzierte Film – leider auf deutsch „Das Netz der tausend Augen“ getitelt, was eher an einen Dr. Mabuse - Kriminalfilm erinnert – sollte nicht als alleinige Anklage gegen den französischen Staat verstanden werden, sondern ganz generell die Gefahr verdeutlichen, in die jeder Bürger geraten kann, auch wenn er keineswegs politisch handeln will. Entsprechend stellen die drei Protagonisten verschiedene Typen dar, stellvertretend für die unterschiedliche Haltung einer Gesellschaft, ohne auf extreme Charaktere zuzugreifen oder zu polarisieren:

- Trintignant ist gleichzeitig Opfer und Täter. Der Film vermeidet eine politische Zuordnung seiner Person, die nie ideologische Meinungen vertritt und einmal sogar Verständnis für das Verhalten des Staates äußert. 
Dazu wirkt Davide jederzeit ernst und ist nie bemüht, etwas aufzuklären oder sich emotional zu verhalten. Seine Figur bleibt neutral, erzeugt bewusst keine Sympathien und ist indifferent in ihren Intentionen. Ob er tatsächlich wahnsinnig ist, wie die offiziellen Stellen behaupten, oder im Gegenteil von besonderem Bewusstsein, bleibt im Film lange Zeit offen. Diese Konstellation spiegelt eine klassische Informationssituation wider, deren Wahrheitsgehalt für den Außenstehenden nicht überprüfbar ist, und somit gegensätzliche Reaktionen auslösen muss

- darunter die von Thomas, der sich ohne ideologischen Hintergrund mit Davide solidarisiert. Er glaubt ihm und hilft ihm. Obwohl dieser nichts macht, was zu einer Freundschaft beiträgt, ist er für Thomas ein Freund. Dieses Verhalten macht ihn zu einer sympathischen Figur, verleiht ihm aber auch eine gewisse Naivität

- besonders aus Julias Blickwinkel, denn sie ist die Skeptikerin. Ihr macht Davide Angst ,obwohl sie ihn als Mann faszinierend findet. Zwischen ihr und Davide gibt es erotische Spannungen, aber das erhöht eher ihre Skepsis und so zieht sie es zumindest in Betracht, daß er ein Verbrecher sein könnte. Um das heraus zu bekommen, forscht sie nach und schaltet ihren Bruder ein, womit sie Davides Warnung, Niemanden zu informieren, ignoriert. Marlène Joberts Spiel ist deshalb so überzeugend, weil ihr Verhalten jederzeit nachvollziehbar ist, sie nie wie eine Verräterin oder Mitläuferin wirkt, sondern nur entsprechend ihrer Ängste handelt. Betrachtet man die Situation der drei Protagonisten objektiv, ist ihre Reaktion die vernünftigste, was am Ende auch Thomas bestätigt, der sie zärtlich in den Arm nimmt.


Im Gegensatz zu diesem Verhalten, steht die Rolle der staatlichen Stellen, die nie genau definiert werden und deren Vorgehensweise im Unklaren bleibt. Wo sie ihn genau suchen, ob sie schon seine Spur gefunden haben und welche Schritte sie planen, bleibt für den Betrachter genauso ungewiss wie für Davide. Die paranoide, klaustrophobische Situation der Protagonisten wird so unmittelbar erfahrbar und damit auch das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber einem übermächtigen Gegner.

Dass "Le secret" keine ideologischen Angriffe gegen eine personalisierte Institution äußerte, und sich an keinen realen Ereignissen dieser Zeit orientierte, von denen es genügend gegeben hätte, ist aus heutiger Sicht seine Stärke. Auch durch die Betonung des inneren Verhältnisses der drei Protagonisten gegenüber einem durchaus möglichen Action-Szenario, vermeidet der Film jede konkrete Zuordnung  von Schuldigen und macht gleichzeitig die Atmosphäre einer Angst deutlich, die unter dem Eindruck entsteht, das Jeder, auch ohne eigenes Verschulden, in diese Situation geraten kann. Ob das in einer Folter endet oder dem Wegschließen in einem Gefängnis, ließe sich als paranoide Spekulation bezeichnen, nicht aber die generelle Situation. 

"Le secret" Frankreich, Italien 1974Regie: Robert EnricoDrehbuch: Robert Enrico, Francis Ryck (Novelle)Darsteller : Jean-Louis Trintignant, Marlène Jobert, Philipp Noiret, Solange Pradel, Jean-Francois AdamLaufzeit : 92 Minuten

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Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.