Schon etwas irritiert reagiert der Großstädter auf Pinas altertümliches Auto und die nicht befestigten Straßen, aber besonders das irre Verhalten eines männlichen Einwohners, genannt "Cucaracha" (Mario Adorf), der offen seine negative Meinung über den Besucher ausdrückt, lässt Adolfo, Mitarbeiter einer anspruchsvollen Buchhandlung, am Verstand der Landbevölkerung zweifeln. Aber da gibt es schliesslich noch die optischen Vorzüge Pinas und ihre möglichen Ersparnisse, die ihn erst einmal über eine, aus seiner Sicht, Vielzahl von Unzulänglichkeiten hinweg sehen lassen...

Tatsächlich befand sich diese Entwicklung in den frühen 60er Jahren noch in ihren Anfängen, aber Pietrangeli und seine Co-Autoren begriffen die Auswirkungen auf die Psyche des Einzelnen in einer Phase des Übergangs zwischen konservativen Wertvorstellungen der Zeit vor dem 2.Weltkrieg, die noch von Disziplin und Enthaltsamkeit geprägt waren, in eine Zukunft, die Wohlstand und Freiheit versprach. Durch den komödiantischen Grundton, der Pietrangelis Filme prägte, und den Verzicht auf die Darstellung konkreter Missstände, standen seine Filme im Ruch des gesellschaftskritischen Harmlosigkeit - zu Unrecht, denn Pietrangeli verband darin eine ironische, schonungslose Demaskierung alter Denkmuster, ohne die negativen Auswirkungen der zukünftigen Freiheiten zu vernachlässigen.
Die Beschränkung auf das Verhältnis Mann und Frau in der Beobachtung der sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse hat zudem aus heutiger Sicht den Vorteil, dass die hier geschilderten Ereignisse - losgelöst vom historischen Kontext – nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Dass die Protagonisten dabei fast immer ihr Lächeln im Gesicht behielten, sollte nicht über ihren wahren Gefühlszustand hinwegtäuschen - besonders für Ettore Scola blieb es auch in seinen eigenen Regie-Arbeiten ein Stilelement, dass entweder die Unfähigkeit im Erkennen der eigenen Situation oder selbstverliebte Arroganz symbolisierte. In seinem 1976 entstandenen Film "Brutti, sporchi e cattivi" trieb er es damit auf die Spitze. Auch "La visita" endet mit einem Lächeln im Gesicht seiner zwei Protagonisten, aber das sollte nicht über deren tatsächlichen Empfindungen hinwegtäuschen.

Der sich intellektuell gebende Buchhändler aus der Großstadt, der unter seinem Chef leidet, macht von Beginn an kein Geheimnis aus seiner Haltung gegenüber der aus seiner Sicht rückständigen Landbevölkerung und deren Lebensgewohnheiten. Sobald die patente und selbstständige Pina ihm den Rücken kehrt, tritt er die Haustiere, verrückt Möbel und sinniert über ihre Ersparnisse. Zunehmend alkoholisiert verliert er die Kontrolle über sich, legt sich beim abendlichen Tanzvergnügen mit den anderen Dorfbewohnern an und beginnt, Pina zu befingern. Leicht könnte man den Film als einseitige Kritik am selbstgefälligen männlichen Geschlecht oder arroganten Großstädter verstehen, aber Pina ist nur äußerlich disziplinierter, hat heimlich einen verheirateten Geliebten und leidet vor allem unter ihrem Status, als Frau Mitte 30 noch keinen Mann zu haben. Ihre sehr geordnete kleine Welt vermittelt zudem wenig Bereitschaft, etwas Neues riskieren zu wollen.

"La Visita" Italien, Frankreich 1963, Regie: Antonio Pietrangeli, Drehbuch: Antonio Pietrangeli, Ettore Scola, Ruggero Maccari, Darsteller : Sandra Milo, Francois Périer, Gastone Moschin, Mario Adorf, Angela Minervini, Laufzeit : 104 Minuten
"Porträt Antonio Pietrangeli"
- weitere im Blog besprochene Filme von Antonio Pietrangeli :
"Il sole negli occhi" (1953)
"Amori di mezzo secolo" (1954)
"Adua e le compagne" (1960)
"La parmigiana" (1963)
"Io la conoscevo bene" (1965)
"Le fate" (1966)
"Come, quando, perché" (1969)
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