Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Mittwoch, 17. Februar 2010

L'ultima donna (Die letzte Frau) 1976 Marco Ferreri

Inhalt: Der Ingenieur Gerard (Gerard Depardieu) ist sauer, als er erfährt, dass seine Firma für einen Monat den Betrieb einstellt und um Kosten zu sparen, seine Angestellten in den Zwangsurlaub schickt. Doch seine Laune verbessert sich, als er im Kindergarten der Firma Valerie (Ornella Muti) kennenlernt, die gerade seinen kleinen Sohn tröstet, den er als alleinerziehender Vater abholen wollte. Spontan finden sie sich anziehend und er fragt die Kindergärtnerin, ob er sie nicht auf seinem Motorrad mitnehmen könnte. Als sie zusammen an Valeries Freund Michel (Michel Piccoli) vorbei fahren, der auf Valerie wartete, um mit ihr in Urlaub zu fahren, entscheidet sie spontan, bei Gerard zu bleiben. 

Nachdem sie sich zusammen in seiner Wohnung um den kleinen Sohn gekümmert haben, haben sie das erste Mal Sex miteinander. Doch die Phase des Kennenlernens hat gerade erst begonnen...


Marco Ferreris "Die letzte Frau" scheint einer weit entfernten Zeit entsprungen, so sehr ist dieser sogenannte "Skandalfilm" in Vergessenheit geraten. Anders als Ferreris drei Jahre zuvor enstandener Film "Das grosse Fressen" fehlt ihm nicht nur die abstrakte Erhöhung der Geschichte von den vier Männern, die sich freiwillig zu Tode fressen, sondern stellt in seiner Reduktion auf das Alltagsleben zweier Menschen in einer typischen Satellitenstadt am Rande von Paris, das formale Gegenteil zu dessen optischer Völlerei dar.

Die Story ist deshalb schnell erzählt - Gerard (Gerard Depardieu) bekommt einen Monat Zwangsurlaub verpasst, weil seine Firma für diesen Zeitraum stillsteht. Dieses Detail ist von Bedeutung, denn anders als bei einer Arbeitslosigkeit, die auch immer von der Suche nach einer neuen Aufgabe geprägt ist, fällt der Ingenieur, der sich zu Hause allein um seinen Sohn kümmert, in ein Vakuum des Abwartens. So gesehen ist es ein glücklicher Zufall, dass er Valerie (Ornella Muti) an dem Tag kennenlernt, als er das letzte Mal seinen Jungen vom firmeneigenen Kindergarten abholt. Unmittelbar spüren sie eine gegenseitige Anziehungkraft und anstatt mit ihrem Freund Michel (Michel Piccoli) in den Urlaub zu fahren, entschliesst sich die junge Kindergärtnerin, spontan mit Gerard mitzukommen.


Alles was in den folgenden 100 Minuten geschieht ist von völliger Normalität - der erste Sex, die langsame Annäherung, die Zweifel über die eigenen Gefühle, Auseinandersetzungen mit Ex- oder noch vorhandenen Partnern, Streit und unerfüllte Erwartungshaltungen, Unsicherheit über die eigene Zukunft und die vielen kleinen Komponenten, die 
Partnerschaften in ihrer Entstehungszeit auszuhalten haben. Durch die fehlende Ablenkung mit Arbeit durchlaufen Valerie und Gerard diesen Prozess mit atemberaubender Geschwindigkeit, stehen in einem Moment kurz vor ihrer Trennung, um im nächsten Augenblick Glück und Vertrauen zu empfinden. Durch die Anwesenheit des knapp einjährigen Kindes, die zwar moderne und saubere, aber wenig Ablenkung bietende Umgebung und den Handlungszeitraum im kühlen Oktober, erreicht Ferreri den generalistischen Ansatz einer Realität, der sich das Paar nicht durch Alltagsflucht entziehen kann.

Es ist vor allem Gerard Derpardieu, aber auch der in ihrer zurückhaltenden Art überzeugenden Ornella Muti zu verdanken, dass diese Abläufe jeden Moment ihre Faszination beibehalten, die auf exemplarische Weise den Versuch einer Frau und eines Mannes darstellen, miteinander zurecht kommen zu wollen. Um so mehr stellt sich die Frage, warum sich dieser Film genau den gegenteiligen Ruf zu seinem realistischen Ansatz erworben hat - radikal, tabubrechend und schockierend zu sein.


In diesem Zusammenhang wird oft auch Gerard Depardieus Darstellung eines egoistischen, nur auf seinen Penis bezogenen Mannes betont, dem die Sensibilität gegenüber seiner Partnerin fehlt - eine in jeder Hinsicht falsche Interpretation. Im Gegenteil spürt man, neben seinen männlich geprägten Verhaltensmustern, auch immer seinen Wunsch nach Liebe und Vertrauen und seine Verzweiflung darüber, sich selbst dabei im Wege zu stehen. Seine letztliche Konsequenz ist deshalb viel weniger schockierend, als aus seinem Empfinden heraus folgerichtig. Ebenso ist die sehr schöne Valerie in ihrer jugendlichen Art nicht nur etwas naiv und leichtfertig, sondern sich ihrer Freiheit auch sehr bewusst. Dazu lebt sie ihre Gefühle offen aus. Mal sehr sanftmütig, liebevoll und auch aus Mitleid handelnd, ein anderes Mal überraschend in ihrer Aggressivität - ihr plötzlicher Schlag mit dem Hammer auf seine Schulter ist weniger vorauszusehen, als seine oft sehr typischen Verhaltensmuster.

Dem Film Misogynie vorzuwerfen ist genauso gerechtfertigt, wie darin die Degradierung des männlichen Geschlechts auf seine primitivsten Verhaltensmuster zu erkennen. Ferreri beschreibt damit nur den Alltag zwischen Mann und Frau, ihre jeweilige Meinung über den Anderen und ihren gegenseitigen Versuch, Macht über den anderen zu erlangen. Trotz dieser Komplexität bleibt der männliche Standpunkt offensichtlich, aus dem der Film heraus gedreht wurde, weshalb Depardieus Darstellung eines äußerlich sich selbstbewusst gebenden, aber zutiefst verunsicherten Mannes, eindeutig im Mittelpunkt der Handlung steht. Ferreri reagiert damit unmittelbar auf die Emanzipationsbewegung, die die Rolle zwischen Mann und Frau in den 60er Jahren neu definierte, was Mitte der 70er Jahre immer mehr auch das Verhalten der bürgerlichen Schichten prägte.

Man könnte "L'ultima donna" als Kritik an diesen Veränderungen verstehen, aber darum geht es Ferreri nicht, denn er nimmt sie nur zum Anlass, zu zeigen, dass diese Äußerlichkeiten an der eigentlichen Problematik nichts ändern können. Sehr detailliert geht der Film auf das Empfinden der eigenen Vergangenheit, Zugehörigkeit zu anderen Menschen und der eigenen Familie, Wunsch nach Nähe und Sexualität ein, als das man diese unterschiedlichen Gefühle einfach mit gesellschaftlichen Veränderungen vereinbaren und die Probleme daraus lösen könnte. Gerard und Valerie sind zuerst einmal Individuen, die sowohl passiv als auch aktiv auf ihre Umgebung reagieren. Und Gerards Kampf gilt vor allem der Kontrolle über seine eigenen Empfindungen - ein hoffnungsloses Unterfangen.

Die eigentliche Radikalität des Films liegt in seiner bedingungslosen Reduktion auf die Realität, was leider den Blick auf die tatsächlichen Intentionen für viele Betrachter bis heute verstellt. Depardieus ständige Nacktheit entspringt einzig der Tatsache, dass der Film größtenteils in seiner Wohnung spielt. Der Unbefangenheit, mir der er entweder mit einem Handtuch umwickelt oder gleich nackt herumläuft, fehlt jede Obszönität, genauso wie den wenigen Sexszenen jegliche Stilisierung abgeht. Angesichts des normalen Körperbaus Depardieus und Mutis, niemals voyeuristische Blicke herausfordernde, natürlicher Nacktheit, fragt man sich, warum dem Film noch dieser provokative Ruf anhaftet. Selbst die Szenen mit Depardieus eregiertem Penis bleiben immer im Zusammenhang nachvollziehbar und vermitteln erst die Authentiziät seiner Gefühle, an denen er genauso Freude hat, wie er darunter leidet.

Angesichts moderner Filme, in denen jede Frau auch in Alltagsklamotten Erotik ausstrahlen muss, Männer immer einen wohltrainierten Körper zur Schau stellen und Geschlechtsakte - unter Vermeidung der noralgischen Stellen - als perfekt ausgeleuchtetes Spektakel inszeniert
werden, sei die Bemerkung erlaubt, worin die eigentliche Obszenität liegt, abgesehen davon, dass diese Stilisierung den Blick darauf verstellt, welche Nähe gerade in der Unterschiedlichkeit zwischen Mann und Frau entstehen kann. Ferreris Film einfach auf die Unvereinbarkeit der Geschlechter zu reduzieren, greift deshalb ebenso zu kurz, denn gleichzeitig betont er die gegenseitige Anziehungskraft und schildert Momente des Glücks. "Die letzte Frau" versteht sich deshalb vor allem als Zustandsbeschreibung, Antworten will sie nicht geben.

Der Schock des radikalen Endes liegt deshalb nicht in der überraschenden Konsequenz, die sich im Gegenteil schon angedeutet hatte, sondern in der Stille, aus der es heraus entsteht. Nicht die laute Katastrophe, sondern nur Verzweiflung und Sprachlosigkeit prägen den letzten Eindruck.




"L'ultima donna" Italien, Frankreich 1976, Regie: Marco Ferreri, Drehbuch: Marco Ferreri, Rafael Ascona, Darsteller: Gerard Depardieu, Ornella Muti, Michel Piccoli, Renato Salvatori, Giuliana Calandra, Laufzeit: 103 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Marco Ferreri:

Mittwoch, 10. Februar 2010

L'amante del vampiro (Die Geliebte des Vampirs) 1960 Renato Polselli

Inhalt: Als die Magd Brigita verletzt aufgefunden wird, wissen die Landarbeiter des Gutsbesitzers, genannt "der Professor" (Pier Ugo Gragnani), sofort, dass sie ein Opfer eines Vampirs wurde - schon das Dritte in diesem Jahr. Die Gruppe von Ballerinas, die unter der Leitung von Gorgio (John Turner) als Gäste in seinem Landhaus trainieren, werden vom Professor und dem herbeigeholten Arzt beruhigt. Auch als Brigita wenig später stirbt, obwohl sie sich zuvor gut erholt hatte, bezeichnen sie die Geschichten vom Vampir als Aberglaube der Landbevölkerung.

Als Luca (Isarco Ravaioli), der Neffe des Gutsbesitzers, mit Francesca (Tina Gloriani), der er zuvor einen Heiratsantrag machte, und Louisa (Hélène Rémy) vor einem Sturm in die falsche Richtung fliehen, sind sie gezwungen, in einer seit Jahrhunderten verwaisten Burg Zuflucht zu suchen. Doch zu ihrer Überraschung werden sie dort freundlich von Contessa Alda (María Luisa Rolando) empfangen, die durch ihren Diener Herman (Walter Brandi) Tee servieren lässt...



Es bedarf nur wenige Minuten, um sich sowohl mit den optischen und atmosphärischen Qualitäten, als auch den storytechnischen Schwächen von Renato Polsellis Beitrag zur wieder aufebbenden Vampir - Welle, Anfang der 60er Jahre, vertraut zu machen.

Die Kamera lässt ihren Blick über ein Panorama streichen, dessen aufsteigende Nebelschwaden im ersten Licht der Morgensonne glänzen. Die Magd Brigita geht in der noch vorhandenen Dunkelheit zu einem Wasserfall, um ihren Eimer zu füllen. Auf dem Rückweg wirft ihr ausgeprägt geformter Körper einen langgezogenen Schatten auf eine Anhebung, die kurz danach von einem anderen Schatten verfolgt wird. Nachdem das Monster über sie hergefallen ist, eilen die Landarbeiter der schreienden Frau zu Hilfe, kommen aber zu spät und können die Bewusstlose nur noch zum Haus des Gutsbesitzers, genannt "Der Professor" (Pier Ugo Gragnani), bringen.


Dort beklagen sie schon das dritte Opfer des Vampirs in diesem Jahr, aber der Professor und der herbeigeeilte Arzt, bezeichnen diese Geschichten als Aberglauben und beschwichtigen die Beteiligten. Während dieser Diskussion eilen die Gäste des Hauses, eine Gruppe Ballerinas und ihr Tanzlehrer, herbei, was die Kamera dazu nutzt, die nur leicht verhüllten Mädchen aus der hinteren Froschperspektive zu beobachten. Die Saga über die blutsaugenden Vampire beinhaltete neben den üblichen Ingredenzien, wie Knoblauch, Kreuzen oder Holzpflöcken, vor allem die erotische Komponente, denn deren Biss machte bekanntlich das weibliche Geschlecht gefügig. Auf diese verklausulierte Weise war es möglich, das freie Ausleben von Sexualität auf der Leinwand darzustellen, ohne damit moralische Regeln des Normalbürgers zu verletzen, denn die hier so freizügig Handelnden standen bekanntlich unter dem Einfluss einer finsteren Macht.

Diese Macht interessiert Polselli in seinem Film weniger, denn selten wurde ein Vampir ungefährlicher und lächerlicher dargestellt. Stattdessen liegt bei ihm das Schwergewicht auf der sexuellen Komponente. Das zeigt sich schon vordergründig an der großen Schar der weiblichen Darsteller, die als Tanztruppe etwa eine Minute lang versucht, den Eindruck eines klassischen Balletts vorzutäuschen, glücklicherweise aber schnell in Jazz - Dance - artige Bewegungen verfällt, denn Polsellis Intention liegt eindeutig in der Darstellung erotischer Bewegungen in eng geschnittenen Trikots - der Verzicht auf Nacktheit ist dabei einzig der Zeit um 1960 geschuldet.

Aber es gibt auch noch eine Story, die allerdings über einige logische Schwächen verfügt. War schon der Beginn in dieser Hinsicht fragwürdig, da es nicht nachvollziehbar war, dass ein Vampir, der das Tageslicht fürchten muss, ausgerechnet bei aufgehender Sonne noch auf Jagd geht, bleiben auch die wechselnden Versuche, Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Protagonisten herzustellen, Stückwerk. Als Luca (Isarco Ravaioli), Neffe des Gutsbesitzers, zusammen mit seiner Verlobten Francesca (Tina Gloriani) und Louisa (Hélène Rémy), beide Mitglieder der Tanzgruppe, auf dem Zuflucht vor einem Sturm in eine verlassen scheinende Burg geraten, müssen sie überrascht feststellen, dass diese doch bewohnt ist.

Sie werden von Contessa Alda (María Luisa Rolando) und ihrem Diener Herman (Walter Brandi) empfangen und trinken gemeinsam einen Tee. Natürlich ist es schnell klar, dass es sich bei den Beiden um Vampire handelt, aber warum Luca sofort der Einladung Aldas für ein heimliches Rendezvous folgt, obwohl sie ihn nicht gebissen hatte und er kurz vorher Francesca einen Heiratsantrag machte, wird nicht offensichtlich. Da genügte wohl schon der Anblick ihrer nackten Beine und ein vielversprechender Blick. Auch die Funktion Hermans bleibt variabel. Nachvollziehbar ist es, dass er die jungen Frauen aussaugt, damit dann Alda von ihm Naschen kann und selber jung bleibt. Nur sieht der dann selbst Ausgesaugte nicht nur sehr hässlich mit seiner dilettantischen Gummimaske aus, sondern soll angeblich in diesem Zustand weniger gefährlich und entkräftet sein, wie Alda einmal bemerkt. Blöd nur, dass er ausgerechnet dann immer auf Jagd gehen muss.

"L'amante del vampiro" auf seine Story zu reduzieren, wäre grundlegend falsch, denn dann verlöre man den Blick für die atmosphärische Dichte, in der Polselli seine Geschichte spielen lässt - und den Blick für Details. Nicht nur die wehenden Baumwipfel, die in stark konturiertes Schwarz-Weiß-Licht getauchten Wälder und Innenräume der Burg, die orchestrale Begleitmusik und die Tanzdarbietungen der Elevinnen gingen dann verloren, sondern auch der Blick auf die beiden hübschen, blonden Hauptdarstellerinnen, die sich in ihren enganliegenden Kostümen auch auf den holprigsten Waldpfaden und den steinigsten Böden der Burg, mit ihren hohen Absätzen nicht vom Weg abbringen lassen.

"L'amante del vampiro" Italien 1960, Regie: Renato Polselli, Drehbuch: Renato Polselli, Guiseppe Pellegrini, Ernesto Gastaldi, Darsteller: Hélène Rémy, Maria Luisa Rolando, Tina Gloriani, Walter Brandi, Isarco Ravaioli, Laufzeit: 83 Minuten

Mittwoch, 3. Februar 2010

Oedipus orca (Wilde Früchte) 1977 Eriprando Visconti

Inhalt:  Nach ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft, wird Alice (Rena Niehaus) wieder zu ihrem Elternhaus gebracht. Zwar kehrt äußerlich Ruhe in ihr Leben ein, aber die traumatischen Erlebnisse der Entführung lassen Alice nicht los. So sehr sich auch ihr Freund Umberto (Miguel Bosé) um sie bemüht, ist sie nicht mehr in der Lage, sich auf ihn einzulassen. Und eine Rückkehr an den Ort ihrer Gefangenschaft, lässt die Erinnerungen eher quälend erscheinen. So stimmt sie gleich begeistert zu, als ihre Mutter Irene (Carmen Scarpitta) vorschlägt, den Sommer in ihrem Landhaus zu verbringen, um Abstand vom Alltag zu gewinnen...

Inhaltlich hat sie nur geringe Bedeutung, aber für die Intention Eriprando Viscontis ist sie eine Schlüsselszene des Films - Alices (Rena Niehaus) Eltern, Irene (Carmen Scarpitta) und Valerio (Gabriele Farzetti), sitzen gemeinsam mit seinem besten Freund Lucio (Piero Faggioni) in ihrem Landhaus vor dem Fernseher und sehen sich Roberto Rossellinis Film "Viaggo in Italia" (Reise in Italien) an. Der Film spielt konkret auf Irenes und Lucios gemeinsame Vergangenheit an, als sie im Jahr vor Alices Geburt an den Ausgrabungsstätten von Pompeji waren, aber entscheidender für "Oedipus Orca" ist das künstlerische Zitat dieses Klassikers auf dem Weg vom Neorealismus zur Moderne, als wollte sich Visconti für seine Plakativität in "La orca" entschuldigen.

Faktisch ist "Oedipus Orca" die unmittelbare Fortsetzung von "La orca", aber gestalterisch bedeutet er die völlige Abkehr. Das der Film so zeitnah nach dem überraschenden Erfolg "La Orca" herauskam, mag wirtschaftlichen Überlegungen entsprungen sein, aber deshalb entsprach der Film keineswegs den Erwartungshaltungen. Wurden schon in "La orca" die Nacktszenen der Inszenierung untergeordnet, waren aber durch die unmittelbare Nähe zur Gewalt gegenüber der weiblichen Person emotional besetzt, wird hier auf jegliche erotisierende Stilisierung verzichtet. Nicht nur das keine der Nacktszenen überlang ausgespielt wurden, was im Erotikfilm der 70er Jahre üblich war, auch Rena Niehaus wirkt fast ungeschminkt in ihrer Natürlichkeit, mit der sie deutlich seltener nackt im Bild zu sehen ist, als in "La orca".

Nur dadurch, dass einige Szenen aus „La orca“ in den ersten Minuten nochmals als Alices Erinnerungen zitiert werden, entsteht anfänglich ein anderer Eindruck, aber gerade diese Form der Inszenierung verdeutlicht noch, dass sich Visconti zunehmend von "La orca" entfernte, denn nur zu Beginn gibt es noch konkrete Bezüge auf den ersten Film. Auch der Charakter der Protagonistin bekommt hier eine andere Richtung, denn während Visconti in "La orca" bewusst zwiespältige Gefühle beim Betrachter provozierte, indem er Alices promiskuitive Veranlagung betonte, inszeniert er sie in "Oedipus Orca" als junge Frau, die unter ihren Erinnerungen leidet und Schwierigkeiten hat, wieder Sexualität mit ihrem Freund Umberto (Miguel Bosé) zu erleben. Fast wirkt es so, als wollte er die Provokation, die die eigentliche Qualität von "La orca" ausmachte, damit wieder abschwächen, denn an der Interpretation, dass Alice das Opfer war und das sie Michele (Michele Placido) zurecht tötete, lässt er hier keinen Zweifel mehr.

Glücklicherweise macht der Film nicht den Fehler, die innere Geschlossenheit des ersten Films im Nachhinein aufzubrechen. In einer frühen Szene wirft Alice ihrem Stiefvater zwar vor, er hätte nicht zahlen wollen, aber sein Versuch, ihr zu erzählen, wie es wirklich gewesen war, scheitert daran, dass sie ihm nicht zuhören will. Sie zitiert bei diesem Vorwurf, was sie von ihren Entführern gehört hatte, aber deren Aussagen basierten nur auf Vermutungen, da sie in die eigentlichen Vorgänge nicht eingebunden waren, sondern nur durch einen blinden Kontaktmann informiert wurden. Der Mord an diesem Kontaktmann und die Suche nach weiteren Hintermännern, wird in „Oedipus Orca“ weder von der Polizei noch der Presse thematisiert, als ob der Fall abgeschlossen wäre. Alleine dieser Fakt zeigt schon, dass „La orca“ hier nur noch als Hintergrund für Alices emotionalen Zustand dienen soll, seinen Charakter als Kriminalfilm aber verloren hat.

Entsprechend gibt es in „Oedipus orca“ weder spannende noch übermäßig dramatische Szenen, sondern ein eher gemächlich dahin plätscherndes Abbild des sommerlichen Lebens einer wohlhabenden Familie auf dem Land.
Der Film lässt sich in drei Themenbereiche unterteilen – das erste Drittel gilt noch einer Art Aufarbeitung der Entführung, das zweite zeigt Alice im Landhaus ihrer Eltern, während der dritte Teil sich dem Titel gebenden Oedipus – Komplex annimmt, als Alice feststellt, dass Lucio ihr richtiger Vater sein könnte und sie auf unkonventionelle Weise versucht, hinter das Geheimnis zu kommen. Insgesamt wirkt der Film dadurch uneinheitlich, weil der erste Teil wie ein Kompromiss wirkt, mit dem man die bewusst geschürte Erwartungshaltung eines Publikums an eine „echte Fortsetzung“ noch erfüllen will, während das eigentliche Thema – die Auseinandersetzung mit Lucio – zu kurz kommt.

Nicht erstaunlich ist es deshalb, das dem Film aus der Sicht der Gegenwart Intentionen wie Inzest oder gar Schauwerte für Pädophile unterstellt werden – als wollte man heute krampfhaft nach Kontroversität suchen. „Oedipus orca“ reiht sich mit der Darstellung einer etwa Zwölfjährigen, die nackt neben ihrer Halbschwester Alice vor einem Spiegel steht, oder die Alice mit ihren Eltern im Bad zeigt, während sie in der Badewanne liegt, in ein typisches Bild der 70er Jahre ein, das einen bewusst natürlichen Umgang unter Familienmitgliedern propagierte, um sich damit von den prüden Nachkriegsjahren abzugrenzen. In Zeiten, in denen Fotobücher entstanden, die Familien in ihrer Gemeinsamkeit nackt ablichteten oder eine 12jährigen Eva Ionesco in aufreizenden Klamotten auf dem Cover des „Spiegel“ erschien, galt das nicht als Provokation, sondern nur als Untermauerung dessen, was der Film hier insgesamt anstrebt und welches das gesamte Auftreten von Rena Niehaus bestimmt.

Im Gegenteil betont „Oedipus orca“ noch damit, dass er eine Sensationsgier nicht (mehr) unterstützen wollte, so ruhig und letztlich ohne Antworten zu geben, verläuft der gesamte Film. Die kurzen dokumentarischen Ausschnitte der Tötung und Zerteilung von Rindern in einem Schlachthaus wirken in ihrer rüden Plakativität zwar deplaziert, sollten sicherlich den inneren Gefühlsstreit Alices symbolisieren, verfehlen aber ihre Wirkung, wie der gesamte Film, der aus einigen viel versprechenden Details besteht, letztlich aber in seiner Gesamtheit daran scheitert, das Vorbild „La orca“ nicht hinter sich lassen zu können.

"Oedipus orca" Italien 1977, Regie: Eriprando Visconti, Drehbuch: Eriprando Visconti, Roberto Gandus, Darsteller: Rena Niehaus, Gabriele Ferzetti, Carmen Scarpitta, Miguel Bosé, Piero Faggioni, Laufzeit: 93 Minuten

- weitere im Blog besprochene Filme von Eriprando Visconti :

"La orca" (1976)

Sonntag, 31. Januar 2010

La orca (La Orca - Gefangen, geschändet, erniedrigt) 1976 Eriprando Visconti


Inhalt : Drei Männer kommen aus unterschiedlichen Richtungen zusammen, setzen sich in ein Auto und entführen ein Mädchen unmittelbar vor ihrer Schule. Zwei von ihnen bringen Alice (Rena Niehaus), nachdem sie den Wagen gewechselt haben, zu einem einsam gelegenen Bauernhof, wo Michele (Michele Placido) auf sie aufpassen soll. Weder er noch die zwei anderen Männer haben Kontakt zu den Eltern Alices. Sie erhalten ihre Befehle und Informationen von einem blinden Pianisten, der als Kontaktmann dient.

Als sich die Entführung mehr als zwei Wochen statt der angeblichen drei Tage hinzieht, werden die Männer nervös. Vor allem Michele, der die meiste Zeit allein mit Alice an dem abgelegenen Ort verbringt, beginnt, sich nicht mehr an die Regeln zu halten...


Es sind vier Handlungsfäden, die sich zu einem kurzen explosiven Moment zusammen finden. Ein Mann mit einer Aktentasche steigt aus einem Zug, tritt aus dem Bahnhof und fährt mit dem davor geparkten Auto davon. Ein anderer Mann verlässt mit seinem Firmenwagen das Industriegelände, während ein Dritter in einer Bar einen Flipperautomaten repariert. Als er dort von dem Auto des ersten Fahrers abgeholt wird, befindet sich der zweite Mann ebenfalls schon in diesem Fahrzeug. Eine junge Frau begibt sich auf den Weg zur Schule und trifft kurz vor dem Erreichen des Schulgebäudes eine Klassenkameradin, doch bevor sie dort ankommt, wird sie vor den Augen vieler Zeugen von den drei Männern in deren Fahrzeug gezogen. Auf schnellstem Weg begeben sie sich zu dem Firmenwagen, der mit zwei Männern und der jungen Frau weiter zu dem vorbereiteten Versteck fährt.

So lakonisch die Beschreibung klingt, so kühl und professionell wird der Ablauf der Entführung im Film geschildert. Keine Emotionen oder Gespräche begleiten diese Vorgänge, die erst bei der Fahrt zum Versteck einen Moment des Scheiterns hervorrufen. Weil Gino, der Fahrer des Firmenwagens, auf einer Brücke aus Ungeduld ein langsames Fahrzeug überholte, wird er von einem Polizisten angehalten, kommt aber mit einem geringen Bussgeld davon. Trotz des glimpflichen Ablaufs dieser Situation, zeigen sich hier schon erste Risse in der Professionalität, denn mit einer solchen Ladung an Bord, hätte er kein Risiko eingehen dürfen. Bei dem Versteck handelt es sich um einen alten, einsam gelegenen Bauernhof, in dem schon Michele (Michele Placido) auf die Entführer wartet. Sein Job ist es, auf Alice (Rena Niehaus) aufzupassen.

Die ungewöhnliche Idee, die Geschehnisse nur aus der Sicht der unmittelbaren Entführer und ihres Opfers zu erzählen, wird aus dem Entstehungszeitraum des Films verständlich. Mitte der 70er Jahre waren Entführungen in Italien eine gern gewählte Methode, schnell zu Geld zu kommen. Anders als in den üblichen Fällen, in denen die Entführer sämtliche Schritte bis zur Geldübergabe unter eigener Kontrolle behalten, nutzte man kleine Gauner für die Drecksarbeit, die nach Erfolg bezahlt wurden. Weder Gino, der über einen blinden Kontaktmann seine Befehle erhält, noch Paolo (Flavio Bucci), der zusammen mit Michele auf Alice aufpassen soll, wissen irgendetwas über die Hintergründe. Selbst untereinander gibt es keinen Informationsaustausch, weshalb Gino den Vorschuss, den er erhält, beim Billard verzockt und Paolo seine Freundin besucht, anstatt im Versteck zu bleiben.

Als sich die Entführung mehr als zwei Wochen hinzieht, obwohl vorher von drei Tagen gesprochen wurde, verstärkt sich die Unsicherheit der Entführer. Paolo, der dringend Geld für die kranke Tochter seiner Freundin braucht, kann dieser kaum noch erklären, warum er so selten da ist, Gino bekommt Schwierigkeiten mit der Polizei wegen seines Glücksspiels und Michele, der nicht aus dem Bauernhof herauskommt, wird mit dem Opfer allein gelassen. In einem Gespräch mit Alice, begründet er den langen Entführungszeitraum damit, dass ihr Vater nicht zahlen würde, aber das ist rein spekulativ. Diese Aussage, aber auch Informationen aus dem Nachfolgefilm "Oedipus Orca", hatten zur Folge, dass es eine Vielzahl von Interpretationen dieser Situation gibt, obwohl die eigentliche Qualität des Films darin liegt, sich jeder Information zu verweigern. Theoretisch wäre es genauso möglich, dass der Vater längst bezahlt hat, die unbekannten Drahtzieher das Geld für sich behielten und ihre Mitarbeiter einfach mit dem Entführungsopfer zurückließen.

Entscheidend für den Film ist das Vakuum, dass er hier entfaltet und in dem die vier Protagonisten wie weiße Mäuse in einem Versuchslabor agieren, die nicht mehr in der Lage sind, sich ihrem Naturell zu entziehen. Während das Verhalten von Gino und Paolo noch dadurch bestimmt wird, dass sie sich im Außenraum aufhalten, werden Alice und Michele allein auf sich zurückgeworfen. Diese Konstellation ist der eigentliche kontroverse Mittelpunkt des Geschehens, der auch zum deutschen Verleihtitel "Gefangen, geschändet, erniedrigt" führte, der dem, in seiner Einfachheit genialen Titel "Orca", zugefügt wurde.

Dieser benennt die Marke der Designerklamotte, die die blonde Schönheit aus wohlhabendem Haus trägt, was sich vordergründig wie ein unwichtiges Details anhört. Der Name bezieht sich, wie Alice erklärt, auf den Killer - Wal aus "Moby Dick" und ist weniger in seiner direkten Bedeutung, sondern in seiner unwirklichen Bedrohlichkeit signifikant für den Film. Es ist die gesellschaftliche Diskrepanz zwischen dem einfachen, aus Süditalien stammenden Fischer Michele und der norditalienischen Blondine, die in dieser Bezeichnung kulminiert. In einer Phase, Mitte der 70er Jahre, die immer mehr Nacktheit und Frivolität auch ins kommerzielle Kino spülte, nutzte der Film im immer noch sehr katholisch geprägten Italien, Vorurteile über die Promiskuität wohlhabender Bürgertöchter aus dem moderneren Norden.

Michele liest Alices Briefe, die er in ihrer Handtasche findet, und entdeckt, dass sie schon mit mehreren Männern geschlafen hat. Vor seinem geistigen Auge sieht er sie nackt auf einer Yacht stehen und gerät in einen Zwiespalt zwischen körperlicher Anziehung und gleichzeitiger Verachtung für sie. Da sie mit Tabletten ruhig gestellt wurde, beginnt er sie genauer zu betrachten, zuerst noch vorsichtig und zurückhaltend, bis er sie konkret anfasst.

Dieser Szene, der einzig expliziten des Films, kommt in ihrer konkreten Darstellung eine wesentliche Funktion zu, weshalb es sinnentstellend war, sie herauszuschneiden (was für den deutschsprachigen Markt geschah). Während er die betäubte Frau mit seinem Finger stimuliert, befriedigt er sich selbst. Erst danach, nachdem sie die Tabletten verweigerte, und sich der Kontakt zwischen ihnen verbessert, bekommt Micheles Verhalten ihr gegenüber einen gutmütigen Charakter, während er hier noch ganz bei sich ist und sich von keinem sonstigen Vergewaltiger unterscheidet. Diese negative Gewichtung der männlichen Hauptperson ist von wesentlicher Bedeutung, weil sich die Beziehung zwischen ihm und Alice ohne diese rigorose Szene zunehmend zu seinen Gunsten entwickelt.

Regisseur und Drehbuchautor Eriprando Visconti, ein Neffe Luchino Viscontis, gestaltete die Szenerie in einer Art, die den Betrachter zum Voyeur werden lässt. Als Alice Michele bittet, sich waschen zu dürfen, und ihn damit lockt, sie dabei betrachten zu können, versetzt er den Zuschauer in Micheles Position. Es bleibt spekulativ und ist letztlich unwichtig, ob Visconti nur damals angesagte Schauwerte befriedigen wollte oder sie damit gleichzeitig ins Gegenteil umkehrte. Für Rena Niehaus, ein damals 21jähriges Model, war es die dritte Rolle, die sie, ohne jemals Schauspielunterricht gehabt zu haben, in einer Art spielte, die daran zweifeln lässt, ob ihr Entgegenkommen gegenüber Michele nur Berechnung oder auch Sympathie entspringt. Zeigte sie zu Beginn noch Momente der Verzweiflung, bleibt sie später immer souverän. Man könnte ihr Spiel mangelnden Ausdrucksmöglichkeiten zuschreiben, aber gerade diese Natürlichkeit (Niehaus konnte kein Italienisch und sprach die Worte nach, ohne sie genau zu verstehen) erzeugt ein ambivalentes Bild, das den Betrachter an seine eigenen Empfindungsgrenzen führt.

Bis heute suchen Filme in der Regel Klarheit in der Kontroverse, um damit die Reaktionen der Beteiligten zu begründen. Eine Frau, die sich einem Verbrecher sexuell hingibt, muss vorher einer tödlichen Bedrohung ausgesetzt worden sein, um nicht als Schlampe zu gelten. Visconti verzichtet auf solche eindeutigen Szenarien, zeigt kleine Gauner, die nicht wissen, auf was sie sich eingelassen haben, und vermittelt keinen Moment eine direkte Gefahr für Alice. Dadurch dass Michele zudem als leicht naiver Junge aus dem Süden noch ein sympathischerer Typ ist, als eine hochnäsige Reiche-Leute-Tochter, kippt die gesamte Situation in ihr Gegenteil. Auch die Wahl einer unbekannten deutschen Darstellerin für die Rolle der Alice, verstärkte noch diese Empfindung, denn sie minderte die Identifikation mit dieser Figur aus Sicht eines italienischen Publikums.

Durch Alices entgegenkommende, offene Art vergisst nicht nur Michele, dass er sie vergewaltigte und nach wie vor, ans Bett gefesselt, gefangen hält, sondern auch der Beobachter dieser Situation. Visconti manipuliert damit den Betrachter in eine Richtung, die eine prinzipiell klare Situation umkehrt, indem eigene Moralvorstellungen in die einzelnen Personen impliziert werden. Alice wird so vom Opfer zur Täterin, als wenn die moralischen Regeln unserer Gesellschaft in einer solchen extremen Situation noch irgendeine Bedeutung hätten. In diesem Zusammenhang wird der deutsche Titelzusatz "Gefangen, geschändet, erniedrigt" nachvollziehbar, der wirkt, als wollte er etwas betonen, was man leicht angesichts der Storyentwicklung vergessen könnte, der aber letztlich nur die selben Moralvorstellungen mit seiner Sensationsgier bedient, die Visconti dazu nutzt - absichtlich oder nicht - uns den Spiegel vorzuhalten.

"La orca" Italien 1976, Regie: Eriprando Visconti, Drehbuch: Eriprando Visconti, Lisa Morpurgo, Darsteller: Rena Niehaus, Michele Placido, Flavio Bucci, Bruno Corrazzari, Laufzeit: 87 Minuten


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Dienstag, 26. Januar 2010

La notte dei dannati (Sexuelle Gelüste triebhafter Mädchen) 1971 Walter Ratti

Inhalt: Jean Duprey (Pierre Brice), ein erfolgreicher Journalist, der sich für schwierige Kriminalfälle interessiert, erhält eines Abends einen seltsamen Brief von seinem alten Freund Guillaume de Saint Lambert (Mario Carra), den er schon mehr als 10 Jahre nicht mehr gesehen hatte. Verklausuliert bittet dieser ihn um Hilfe, aber als Duprey mit seiner Frau (Patrizia Viotti) auf dessen Schloß ankommt, muss er feststellen, dass er ihm nicht mehr helfen kann.

Guillaume leidet an einer Krankheit, dessen Ursache selbst sein Arzt, Professor Berry (Alessandro Tedeschi), scheinbar nicht feststellen kann. Rita (Angela De Leo), Guillaumes Frau, hat den Doktor geholt und behält auch sonst alle Fäden in der Hand. Als Guillaume nach zwei Tagen stirbt, wollen Duprey und seine Frau nach der Beerdigung möglichst schnell wieder abreisen, aber am nächsten Morgen wird in der Nähe des Schlosses eine Frauenleiche gefunden. Die Polizei steht vor einem Rätsel, da keine Spuren darauf hindeuten, wie sie an diesen Ort kam, und bittet Duprey um Hilfe...



Den deutschen Titel könnte man als Fluch der bösen Tat verstehen, denn wenn ein Verleih zwei Fassungen eines Films herstellen lässt, bei der die Eine auf beinahe ein Viertel der ursprünglichen Handlung verzichtet, um stattdessen die sexuellen Vorlieben einer Hexe stärker in den Vordergrund zu stellen, muss sich Niemand wundern, dass damit ein Film auf ewig in den Niederungen der Bahnhofkinos verschwindet. Derjenige, der sich allerdings in diesem Zusammenhang "Sexuelle Gelüste triebhafter Mädchen" ausdachte, unterfährt dieses Niveau noch erheblich oder lässt zumindest seine Meinung über die Zielgruppe für diesen Film deutlich werden.

"La notte dei dannati" (Die Nacht der Verdammten) erweist sich stattdessen als ruhiger Film, der seinem Protagonisten Jean Duprey (Pierre Brice), einem erfolgreichen Journalisten, viel Zeit lässt, seine Erkenntnisse zu gewinnen. Das zeigt sich schon in der ersten, knapp 10minütigen Szene, die Duprey gemeinsam mit seiner Frau Danielle (Patrizia Viotti) in deren Pariser Wohnung zeigt. Als sie zu Beginn einen Brief erhalten, der von einem alten Freund Dupreys stammt, den dieser schon mehr als zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte, beginnt vor den Augen des Zuschauers eine detaillierte Analyse des geheimnisvollen Textes.


Das diese letztlich nur dazu führt, Guillaume de Saint Lambert (Mario Carra) zu Hilfe zu eilen, spielt keine Rolle, denn Duprey konnte damit gleich nachweisen, über welch hohen Intellekt er verfügt. Pierre Brice spielt diese Rolle mit souveräner Gelassenheit, die auch nicht vor einer gewissen Arroganz zurückschreckt. Gut zeigt sich diese in der, trotz aller optischen Modernität, noch sehr traditionellen Mann / Frau - Beziehung, denn Dupreys Haltung gegenüber seiner hübschen und in der Realität mehr als 20 Jahre jüngeren Frau, kann man nur als wohlwollend liebevoll bezeichnen. So schreckt er nicht davor zurück - als sie etwas zur Aufklärung des Brieftextes beiträgt - zu erwähnen, dass das Zusammensein mit ihm, positiv auf ihre geistigen Fähigkeiten durchschlagen würde.

Danielles Rolle als zu beschützendes Opfer wird so von Beginn an deutlich, so wie es auch klar ist, dass Duprey auf ihre Wünsche nach sofortiger Abreise aus dem finsteren Schloß seines Freundes, mit pragmatischer Gelassenheit reagiert, die für jede ihrer Erfahrungen und Alpträume eine logische Begründung bereit hält. Allerdings verhält er sich so nur gegenüber seiner Frau, denn als ihm sein alter Freund Guillaume gegenüber tritt, versucht er alles, um diesem zu helfen. Doch es ist zu spät, denn Guillaumes geistiger und körperlicher Zustand ist so sehr von einer geheimnisvollen Krankheit zerfressen, dass dieser kurz nach seiner Ankunft stirbt.


Als Duprey und seine Frau wieder abreisen wollen, werden sie vom Fund einer nackten Frauenleiche daran gehindert, denn die Polizei kann sich deren Anwesenheit an dieser Stelle nicht erklären, weil das Opfer noch kurz vor dem Todeszeitpunkt viele hundert Kilometer entfernt gesehen wurde. Ein Fall für Duprey, der zuvor schon schwierige Kriminalfälle gelöst hatte, und von der Polizei um Mithilfe gebeten wird. Doch während er unterschiedliche Spuren verfolgt, gerät seine allein im Schloß zurückgelassene Frau immer mehr unter den Einfluss von Rita Lernod (Angela De Leo), der Witwe seines verstorbenen Freundes.

Die Faszination des Films liegt in seiner Atmosphäre, die das mittelalterlich wirkende Schloß mit Licht und einem überzeugenden Score in einen unheilvollen Ort wandelt. Dazu trägt auch die Ruhe bei, mit der hier sämtliche Personen agieren und man muss dankbar sein, dass der italienischen Fassung nahezu sämtliche Nacktszenen abhanden gekommen sind, da diese nur den gothischen Charme der Inszenierung stören würden, auch wenn man dafür ein paar etwas abrupte Szenenwechsel in Kauf nehmen muss. Auch das der Film nur über wenige ernsthaft bedrohliche Momente verfügt und zudem keinerlei Gewalttaten konkret zeigt, passt zu der morbiden Atmosphäre.

Bei "La notte dei dannati" handelt es sich sicherlich um kein herausragendes Werk des Genres, da die Story durchschaubar ist und die Charakterisierungen oberflächlich bleiben. Ein gut aufgelegter Pierre Brice, der auch zu selbstironischen Momenten neigt, und eine überzeugende Atmosphäre lassen die "Nacht der Verdammten" trotzdem zu einem entspannten Gruseln werden, so lange man keine triebhaften Mädchen erwartet.

  
"La notte dei dannati" Italien 1971, Regie: Walter Ratti, Drehbuch: Aldo Marcovecchio, Darsteller: Pierre Brice, Mario Carra, Angela De Leo, Patrizia Viotti, Alessandro Tedeschi, Laufzeit: 83 Minuten

Dienstag, 19. Januar 2010

Io la conoscevo bene (Ich habe sie gut gekannt) 1965 Antonio Pietrangeli


Inhalt : Adriana (Stefania Sandrelli) arbeitet als Friseurin und als Platzanweiserin in einem Kino, träumt aber von einer Schauspielkarriere, weshalb sie vom Land nach Rom gezogen ist.
Ihre Wünsche scheinen sich zu konkretisieren, als sie Cianfanna (Nino Manfredi) kennenlernt, der sie als Agent betreut und für sie Engagements vereinbaren will.

Zudem nimmt sie Barbara (Karin Dor) unter ihre Fittiche, besorgt ihr eine Stadtwohnung und Einladungen auf angesagten Partys. Allerdings gibt es da noch Dario (Jean-Claude Brialy), einen charmanten jungen Mann, in den sie sich verliebt hat, der sie aber nach einer Nacht in einem schicken Hotel, ohne zu bezahlen zurück lässt. Als sie bei einem Schauspielunterricht umfällt, erfährt sie, dass sie von ihm schwanger ist. Barbara rät ihr, das Kind abzutreiben...



Es gibt wenige Filme, denen man schon in der ersten Szene den Charakter ansieht, der für die gesamte Laufzeit bestimmend bleiben wird, und dessen viel sagender Titel - der ausnahmsweise wörtlich ins Deutsche übersetzt wurde - zusätzlich die Thematik bereichert.

Vielleicht lag das auch an dem Team, dass hier auf Grund des frühen Todes von Regisseur Antonio Pietrangeli zum letzten Mal zusammenarbeitete, und nach einer Vielzahl hervorragender Filme mit "Ich habe sie gut gekannt" einen abschließenden Höhepunkt erzielte. Wie bei fast allen Filmen Pietrangelis seit den 50er Jahren ("Amore di mezzo secolo") hatte er zusammen mit Ettore Scola und, wie in diesem Fall auch, Ruggero Maccari das Drehbuch geschrieben. Auch wenn Scolas zehn Jahre später entstandener Film "Brutti, sporchi e cattivi" (Die Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen) an Fatalismus und Pessimismus nur schwer zu überbieten war, deuteten seine gemeinsam mit Pietrangeli entworfenen Filme diese Haltung schon an, gaben aber dem Geist der Komödie noch mehr Gewicht.


Dieser komödiantische Geist entsprang dem Neorealismus, an dem Pietrangeli in seinen jahren als Drehbuchautor und Regie-Assistent intensiv mitgearbeitet hatte. Der daraus entstandene Humor hatte sich in den 50er Jahren den Ruf verdient, nicht weniger dezidiert den Finger in die Wunde zu legen, als es die ernsteren Werke taten. Durch die Leichtigkeit, mit der teilweise unerträgliche Zustände geschildert wurden, war man erst in der Lage diese zu betrachten. Pietrangeli hatte sich zudem als Frauen - Regisseur einen sehr guten Ruf erarbeitet, denn das weibliche Geschlecht stand bei seinen Filmen eindeutig im Mittelpunkt. Da es sich bei seinen Darstellerinnen ausnahmslos um schöne Frauen handelte, deren Aussehen nicht unwesentlich für die Inszenierung genutzt wurde, läge der Verdacht nahe, dass eine kritische Story nur dazu herhalten musste, um eine Frau doch als Objekt zu präsentieren. Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall. 

Stefania Sandrelli, damals erst knapp 20 Jahre alt, spielte die Adriana so natürlich, das jeder voyeuristische Abstand unmittelbar verloren geht. Ähnliches gilt für die Story, die sich trotz aller Authentizität optimistisch entwickelt, die kleinen Momente der Tragik sehr sparsam und in ihrer Dramatik nachvollziehbar setzt, und daraus eine ganz persönliche Geschichte entwickelt. Pietrangeli stellt keine zwingend tragischen Zusammenhänge her und verzichtet auch auf besonders üble Zeitgenossen. Natürlich handeln diese häufig egoistisch und rücksichtslos, aber immer in einer für ihre Situation nachvollziehbaren Weise. Letztlich – wenn auch sympathischer in ihrer Passivität – verfolgt auch Adriana keine anderen Ziele.

Entscheidend für die Wirkung des Films, basierend auf dem Respekt vor der Hauptfigur, ist die Individualität und damit Tiefe in der Charaktergestaltung. Adriana ist zwar ein hübsches Mädchen vom Land und möchte in Rom ein Filmstar werden – äußerlich entspricht sie damit einem bis heute gültigen Klischee – aber Pietrangeli und Scola betrachteten den Menschen hinter dieser Fassade. Parallel zu den Mechanismen des Show-Business, die sich vor allem in einer kurzen Szene mit einem großartigen Ugo Tognazzi als alterndem Darsteller offenbaren, setzt der Film aus kurzen Episoden ein Puzzle zusammen, dass zunehmend ein klareres Bild der jungen Frau vermittelt. 

Dabei kommt es zu anrührenden Episoden, etwa als Adriana im schicken Kleid nach Jahren überraschend bei ihren Eltern auf deren Bauernhof bei Pistoia auftaucht. Erst reagiert die Mutter gewohnt kritisch. Noch während der Vater das zu relativieren versucht, legt sie ihrer Tochter eine Jacke über die schmalen Schultern, nicht ohne damit eine Kritik an ihrer „Stadtkleidung“ zu verbinden. Gleichzeitig birgt diese Szene große Zärtlichkeit in sich, die weit von üblichen Klischees über eine harte Kindheit und der damit erzwungenen Landflucht entfernt ist. 
Der Film leugnet nicht die Armut, in der Adriana aufgewachsen ist, aber er verdeutlicht auch, dass sie eine Wahl hatte. 

Das gilt auch für ihre vielen Männergeschichten. Während sie sich in einen Angeber (Jean-Claude Brialy) verliebt, der sie in einem Hotel, ohne die Rechnung zu bezahlen, mit einer gestohlenen Kette (wie sich später herausstellt) sitzen lässt, verschafft sie in einer der schönsten Szenen des Films, als sie nach einer Box - Veranstaltung, bei der sie in der Pause als Model auftrat, dem zuvor unterlegenen Boxer (Mario Adorf) nur mit ihrer Aufmerksamkeit und einem Abschiedskuss einen Moment des Glücks.


Es begegnen ihr noch viele Männer (darunter der junge Franco Nero), aber nie haben diese Beziehungen genug Gewicht, um etwas zu verändern. Selbst ihre Abtreibung, zu der sie ihre Förderin (Karin Dor) in Rom überredet, verkommt so zu einer Fußnote, die der Film quasi nebenbei abhandelt. „Ich habe sie gut gekannt“ enthält sich jeder Bewertung, womit die gesellschaftlichen Regeln, denen sich sämtliche Beteiligte – egal ob als Haupt-, Neben- oder Verliererfigur – unterwerfen, erst deutlich werden.

Adriana selbst wirkt in ihrem unreflektierten, meist passiven Verhalten prototypisch, aber gleichzeitig ist sie in ihrer direkten, fast naiven Art sehr liebenswert. Nicht nur die Vielzahl von Tanzveranstaltungen, Kinobesuchen oder Partys erzeugen ein stimmiges Bild der 60er Jahre, auch die Musik, die mal im Hintergrund, mal ganz direkt als aufgelegte Schallplatte, eine Vielzahl zeitgenössischer Schlager spielt, vermittelt ein authentisches Lebensgefühl der damaligen Jugend. Und den Charakter Adrianas in ihrem persönlichen Musikgeschmack.

In diesem Zusammenhang ist die speziell für den Film geschriebene Musik, die auch die erste Szene untermalt und regelmäßig anklingt, sehr aussagekräftig – sie hat viel von einer fröhlichen, schlagerartigen Musik, aber man spürt auch die Melancholie dahinter. Es ist wie der Strand bei Rom, an dem zu Beginn die schöne Adriana liegt – sonnig, glitzerndes Meer, heller Sand, aber überall liegt Müll herum. Und es ist wie der Weg, den sie vom Strand in die nahe gelegene Stadt nimmt – fröhlich lässt sie sich das Bikini-Oberteil von einem älteren Mann, der an der Straße sitzt, schließen, ein anderer spendet ihr aus einem Wasserschlauch einen kühlen Strahl, bis sie auf ihren hohen Absätzen den Friseurladen erreicht, wo sie zuerst eine mürrische Kundin bedienen muss und später vom Besitzer ganz selbstverständlich belästigt wird.


Der Titel „Ich habe sie gut gekannt“ spricht aus der Sicht des Außenstehenden, der glaubt, eine junge Frau wie Adriana zu kennen, und letztlich meint Pietrangeli damit uns, die Betrachter des Films. Er entwirft hier ein abwechslungsreiches Kaleidoskop, das seinen Unterhaltungswert durchgehend hoch hält, und die Geschichte einer leicht naiven jungen Frau vom Land erzählt, die unbedingt ein Star werden will. Mit allen schönen und schlechten Seiten, die eine solche Zielsetzung mit sich bringt. Der Film wirkt in seiner Lässigkeit undramatisch und Adrianas Verhalten fast folgerichtig, so das man ihr persönliches Schicksal selbstverschuldet empfinden kann.

Doch in Pietrangelis Film geht es nicht um Schuld, sondern um unsere Sozialisation und die Oberflächlichkeit im gegenseitigen Umgang, unter der letztlich Jeder leidet. "Ich habe sie gut gekannt“ - lässt sich schnell dahin sagen, aber selten ist eine Aussage so falsch.

"Io la conoscevo bene" Italien, Frankreich, Deutschland 1965, Regie: Antonio Pietrangeli, Drehbuch: Antonio Pietrangeli, Ettore Scola, Ruggero Maccari, Darsteller : Stefania Sandrelli, Nino Manfredi, Jean-Claude Brialy, Mario Adorf, Karin Dor, Laufzeit : 109 Minuten

"Porträt Antonio Pietrangeli" 

- weitere im Blog besprochene Filme von Antonio Pietrangeli :

"Il sole negli occhi" (1953)
"Amori di mezzo secolo" (1954)
"Adua e le compagne" (1960)
"La parmigiana" (1963) 
"La visita" (1963)
"Le fate" (1966)
"Come, quando, perché" (1969)

Dienstag, 12. Januar 2010

Le mani sulla città (Hände über der Stadt) 1963 Francesco Rosi

Inhalt: Der Spekulant und Inhaber einer großen Baufirma Edoardo Nottola (Rod Steiger) erklärt dem Bürgermeister Neapels, Maglione (Guido Alberti), die Vorteile neuer Landerschliessung am Rand der Stadt. Billiges Ackerland wird durch den Beschluss des Stadtrats zu teurem Bauland. Das bedeutet große Gewinne für die Beteiligten, die man als Wohltaten für die Bevölkerung verkaufen kann, da diese neue, moderne Häuser bekommt.

Währenddessen geschieht auf einer Baustelle in einem alten Stadtteil Neapels ein schreckliches Unglück. Ein Wohnhaus, dass neben einer von Nottolas Baustellen steht, stürzt auf Grund der Erschütterungen ein. Zwei Menschen sterben, ein Junge überlebt schwerverletzt. Der kommunistische Stadtabgeordnete De Vita (Carlo Fermariello) klagt die ungenügenden Sicherheitsmassnahmen an und erreicht, dass ein Untersuchungsausschuss, gebildet aus allen Parteien, den Vorgängen nachgeht. Nottolas Situation scheint sich zu verschlechtern und auch sein Parteifreund, Bürgermeister Maglione, verlangt von ihm, dessen eigene Kandidatur bei den kommenden Stadtparlamentswahlen zurückzuziehen, um die Chancen der Partei nicht zu gefährden...



„Hände über der Stadt“ entwickelt seinen Plot sprunghaft, begleitet von einem akustischen Rhythmus:

Wortreich erklärt der Bauunternehmer Edoardo Nottola (Rod Steiger) den Politikern seine Pläne für die Erweiterung der Stadt mit modernen Wohnhäusern. Ebenso sprachintensiv feiern die Politiker mit salbungsvollen Reden den Beschluss des Flächennutzungsplanes am Rande Neapels, der Nottolas Pläne erst ermöglichen wird. In Anwesenheit einer großen Gruppe von Würdenträgern erfolgt daraufhin die Grundsteinlegung.

Stumm, nur begleitet von einer dramatischen Musik, die den Charakter eines Kriminalfilms annimmt, filmt Rosi minutenlang aus der Vogelperspektive die Stadt Neapel mit ihren alten und neuen Stadtteilen und vermittelt dabei einen genauen Eindruck von der hohen Bebauungsdichte.


Nur die Straßengeräusche einfangend, verbleibt die Kamera auf einer Baustelle inmitten eines alten, heruntergekommenen Stadtteils. Unter großem Lärm werden mit schwerem Gerät neue Fundamente gebohrt. Durch die Erschütterungen fällt ein angrenzender Wohnbau in sich zusammen. Die Menschen fliehen entsetzt, um wieder helfend zu dem Schuttberg zurückzukommen. Polizei und Feuerwehr befinden sich schnell vor Ort und beginnen die Verschütteten auszugraben und die Überlebenden zu evakuieren, darunter auch ein bewusstloser Junge. Man hört nur Schreie, Motorlärm und die Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Einen Moment unterbricht der Film diese Geräuschkulisse, als - für die Allgemeinheit unbemerkt - Nottola seinen Sohn, den verantwortlichen Bauleiter, von der Baustelle fortbringt. Wieder erklingt kurz die an Kriminalfilme erinnernde Musik.

Wortreich streitet das Stadtparlament über diese Vorkommnisse. Edoardo Nottola wird die Schuld an dem Unglück gegeben und der konservativen Partei, die den Bürgermeister Maglione (Guido Alberti) stellt, und deren Parteifreund Nottola ist, wird Bestechlichkeit vorgeworfen. Dem redegewandten Abgeordneten der kommunistischen Partei, De Vita (Carlo Fermariello) gelingt es, einen Untersuchungsausschuss durchzusetzen, der die Verantwortlichen für das Unglück, bei dem zwei Menschen starben und der Junge seine Beine verlor, herausfinden soll.


Erst als der Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufnimmt, wird die Handlung und damit auch die Akustik stringenter, aber die Diskrepanz zwischen den ständigen Diskussionen, Reden und Zusammenkünften der Politiker und der völligen Wortlosigkeit der Bevölkerung bleibt signifikant für den Film und wird von Francesco Rosi konsequent durchgehalten. "Le mani sulla città" endet mit den eingeblendeten Sätzen, dass nichts erfunden wurde und alle geschilderten Abläufe real sind, aber trotz des betont dokumentarischen Charakters, der vor allem bei den Sitzungen des Stadtparlaments von beißender Realität ist, wird in jedem Moment Rosis persönliche Handschrift deutlich. Und damit sein Wille, die äußerliche Handlung von jeder emotionalen Ebene und jedem persönlichen Schicksal zu entschlacken, um sie an jedem Ort als generell vorstellbar zu entwerfen.

Vorstellbar ist dafür - betrachtet man Rosis Umsetzung genau - ein zu schwaches Wort, denn die Art, wie sich der Film entwickelt, ist von ihm so zwingend angelegt, dass sich Widerspruch geradezu verbietet. Rosi zeigt hier – beispielhaft an Hand von Bauspekulationen in Neapel - Abläufe, die in ihrer inneren Logik, dem Verhalten der handelnden Personen und seinen sich daraus ergebenden Konsequenzen signifikant für unser Demokratieverständnis sind. Ganz bewusst verknüpft er das Geschehen mit einer Wahl zum Stadtparlament, die sogar zu einem Machtwechsel führen könnte, um damit das Funktionieren der demokratischen Regeln zu unterstreichen. Er betont damit, dass das, was hier geschieht, nicht auf nach dem Gesetz strafbare kriminelle Machenschaften zurückzuführen ist, sondern im Rahmen des Rechtsstaates geschieht.

Zuerst erscheint der Auslöser der Handlung - der Einsturz des Wohnhauses, in dessen Folge zwei Menschen sterben – widersprüchlich, weil damit normalerweise das genaue Gegenteil erreicht wird - eine emotionale Bindung an die Opfer und die Schuldzuweisung an einen Einzeltäter, hier in der Figur des Baulöwen Nottola. Doch stattdessen nutzt Rosi dieses typische Story-Element, mit dem normalerweise begründet wird, warum Missstände ohne die Schuld der Allgemeinheit entstehen, um seinen generellen Standpunkt zu untermauern. Nicht nur dem Dokumentarstil, in dem das Unglück zwar detailliert, aber ohne Dramatisierung gezeigt wird, sondern vor allem Rod Steigers Leistung ist es zu verdanken, dass sich die generellen Abläufe über ihr beispielhaftes Objekt erheben.

In einer zentral gelegenen Szene wird das besonders deutlich – der Bürgermeister Maglione hatte Nottola aufgesucht, um ihn aufzufordern, seine Kandidatur für das Stadtparlament wieder zurückzuziehen. Die Ereignisse um das Unglück auf der Baustelle gefährdeten die Wahlchancen ihrer Partei, auch wenn der Untersuchungsausschuss bisher keine Unregelmäßigkeiten feststellen konnte. Nach einer gewonnenen Wahl wäre es kein Problem, die gemeinsam begonnenen Projekte weiter zu führen. Nachdem Nottola dieses Ansinnen abgelehnt hatte, verlässt ihn der Bürgermeister mit der Drohung, sollte die Partei ihre Mehrheit verlieren, werde er ihm jede weitere Unterstützung versagen. Es handelt sich um den kritischsten Moment in der Situation dieses Tatmenschen, den er scheinbar nicht mehr selbst beeinflussen kann. Die Kamera verbleibt auf Rod Steiger, der fast regungslos sitzen bleibt. Äußerlich geschieht nichts, aber Steigers Gedanken sind mit Händen zu greifen. Es ist der intimste Moment des gesamten Films, der eine Nähe aufbaut, die ein einseitiges Urteil über den Menschen Nottola verhindert.


Steiger spielt diese Figur ansonsten in der ihm eigenen körperbetonten Art, die keinen Zweifel an Autorität und Durchsetzungswillen zulässt. Dabei spart er keineswegs mit kritischen Bemerkungen, wenn er angesichts des Gebäudeeinsturzes erwähnt, dass man sich damit den Abbruch hätte sparen können. Seine zynische und vor allem am wirtschaftlichen Gewinn orientierte Art führt dazu, dass er unmittelbar auf der Baustelle von De Vita mit Argumenten angegriffen wird, die ihm Bestechung und Vorteilsnahme ohne Rücksicht auf Menschenleben vorwerfen. De Vita musste inzwischen feststellen, dass die gesetzlichen Auflagen alle erfüllt wurden, aber die Tatsache, dass Nottola die Baugenehmigung in drei Tagen erhielt, obwohl das normalerweise mindestens ein halbes Jahr dauert, verdeutlichte die offensichtliche Zusammenarbeit mit einflussreichen Kreisen. Anstatt De Vita mit gleicher Münze zurückzuzahlen, führt er ihn in einen von ihm gefertigten Neubau und zeigt ihm die modernen Sanitärzellen, Küche und sauberen Räume. Er vergleicht diese Wohnungen mit den unzumutbaren Verhältnissen, in denen eine Vielzahl Neapolitaner hausen. Auch De Vita kann sich dieser Argumentation nicht entziehen und beendet das Gespräch mit den hilflosen Worten „Ich habe gar nichts gegen ihre Pläne, sondern ich kritisiere nur die Art der Umsetzung!"

In „Le mani sulla città“ gibt es keine Mafia und keine Verbrecher, sondern nur Personen, die entsprechend ihrer Funktion handeln. Ohne einen Machtmenschen wie Nottola hätte kaum Jemand die Energie, die aufwändigen Projekte zu planen und umzusetzen. Die Bevölkerung, die nie das Wort erhebt, lässt sich mit Geldzahlungen leicht beruhigen und letztlich verkommen zwei Tote nur zu einer Fußnote, angesichts tausender neuer Wohnungen. Die Politiker sind vor allem auf ihre Außenwirkung bedacht, unabhängig davon, ob sie sich als Kämpfer für die gute Sache stilisieren wie De Vita oder neue Koalitionen schließen, um ihre Machtposition zu festigen. Auf einen Mann wie Nottola können sie keinesfalls verzichten, denn nur äußerlich darstellbare Erfolge garantieren auch eine erfolgreiche Wiederwahl. Das dabei viel Geld verdient wird, dass nur in wenigen Taschen landet, wirkt innerhalb dieser Konstellation wie ein nicht zu vermeidender Nebenaspekt.

Diese Doppeldeutigkeit vermittelt schon der Filmtitel, denn „Hände über der Stadt“ können sowohl Schutz und Hilfe, als auch Kontrolle und Vorteilsnahme bedeuten. Letztlich stellt sich die Frage, welche Intention Francesco Rosi mit seinem Film verfolgte? - Als genau beobachtete Zustandsbeschreibung einer demokratischen Ordnung ist der Film exemplarisch, aber gleichzeitig erschreckend in seinem Fatalismus. Auch wenn Rosi dem kommunistischen Abgeordneten sicherlich mehr Sympathien schenkte als den konservativen Politikern, vermied er doch einseitige Verurteilungen. Letztlich gehören die Politiker aller Parteien zum System. Einzig die Diskrepanz zwischen den Palästen, in denen die führenden Politiker der Stadt stolz ihre Kunst - Sammlungen vorzeigen, und den in unendlicher Reihe stehenden, gleichförmigen Wohnblocks - egal ob Alt - oder Neubauten - die Rosi zum Schluss wieder, wie in einer der Eingangssequenzen, wiederholt, wird deutlich, dass er mit dem Film eine Bevölkerung ansprechen will, die sich zu leicht beruhigen lässt und durch ihr Desinteresse den Machtmissbrauch erst mit verursacht.

„Le mani sulla città“ (Hände über der Stadt), der den semi-dokumentarischen Stil seines Vorgängerfilms "Salvatore Giuliano" wieder aufnahm, aber in der damaligen Gegenwart spielte, könnte als Lehrstück dienen, so differenziert und analytisch bringt er die Verhältnisse hier auf den Punkt, aber die gleichzeitige, technologische Kälte, die von Rosis Film nachvollziehbarer Weise ausgehen musste, und nicht zuletzt seine sehr kritische Haltung, verhinderte eine entsprechende Verbreitung.


"Le mani sulla città" Italien 1963, Regie: Francesco Rosi, Drehbuch: Francesco Rosi, Raffaele La Capria, Darsteller : Rod Steiger, Salvo Randone, Guido Alberti, Carlo Fermariello, Angelo D'Allessandro, Laufzeit : 100 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Francesco Rosi:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.