Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Freitag, 26. April 2013

A cavallo della tigre (Vergewaltigt in Ketten) 1961 Luigi Comencini


Inhalt: Nachdem Giacinto (Nino Manfredi) bei dem Versuch, einen Überfall auf sich vorzutäuschen, um seine Familie zu ernähren, erwischt wurde, landet er für drei Jahre im Gefängnis. Dort arbeitet er als „Schwester“ auf der Krankenstation und bemüht sich, von den Schwerverbrechern nicht allzu sehr herumgeschubst zu werden. Als Mario Tagliabue (Mario Adorf), ein für seine Brutalität bekannter Mörder, ihn um einen Gefallen bittet, traut er sich nicht, diesen abzulehnen. Auch als er dessen Zellenkumpanen weitere Dinge, darunter eine Feile, besorgen soll, verweigert er sich nicht.

Offensichtlich haben die Männer vor, auszubrechen, was er dem alten Mithäftling „Il commandante“ anvertraut, der ihm daraufhin den Tipp gibt, den Plan an den Gefängnisdirektor zu verraten, um seine Haftzeit ein halbes Jahr verkürzen zu können. Als Gegenleistung für diesen Vorschlag erwartet der „Commandante“, dass ihm Giacinto seine Wäsche säubert. Aber er bekommt keine Chance, diesen Vorschlag umzusetzen. Bevor er am nächsten Tag beim Direktor vorsprechen kann, sorgen die Häftlinge dafür, dass er in eine andere Zelle umgelegt wird – zu Tagliabue, Papaleo (Gian Maria Volonté) und der „Maus“ (Raymond Bussières), die schon auf ihn warten…


"A cavallo della tigre" (Vergewaltigt in Ketten) brachte 1961 vier führende Vertreter der „Commedia all’italiana“ zusammen. Mario Monicelli, Agenor Incrocci (genannt "Age") und Furio Scarpelli hatten seit "Totò cerca casa" (1950) das tief im Neorealismus verwurzelte komödiantische Genre maßgeblich beeinflusst und einige stilbildende Filme - darunter "I soliti ignoti" (Diebe haben's schwer, 1958) und "Le grande guerra" (Man nannte es den großen Krieg, 1959) - herausgebracht. Auch Regisseur und Mit-Autor Luigi Comencini wurde vom Neorealismus geprägt und war seit "Pane, amore e fantasia" (Liebe,Brot und Fantasie, 1953) für seine leichten Komödien in einem realistischen Umfeld bekannt geworden. Ein Jahr zuvor hatte er gemeinsam mit Scarpelli und Age das Drehbuch zu dem Kriegs-Drama "Tutti a casa" (Zwischen den Fronten, 1960) entwickelt, die Hinzuziehung von Mario Monicelli versprach eine weitere Steigerung der Qualität. Auch die männlichen Hauptrollen waren mit Nino Manfredi, Mario Adorf und Gian Maria Volonté in seiner ersten größeren Rolle ausgezeichnet besetzt, aber „A cavallo della tigre“ taucht nicht nur in keiner repräsentativen Liste der „Commedia all’italiana“ auf, sondern erntete bei seinem Erscheinen heftige Kritik.

Dabei beginnt der Film urkomisch, wenn Giacinto (Nino Manfredi) versucht einen Überfall auf sich selbst vorzutäuschen. Erst vergräbt er seine Tasche mit Habseligkeiten, dann fährt er sein schrottreifes Auto gegen eine herbei gerollte Baumwurzel, um sich mit einem Stein noch selbst zu schlagen, damit seine Verletzung überzeugender ist, bevor er sich selbst fesselt, in dem er sich in ein Seil hineindreht, dass er zuvor am Fahrzeug befestigte. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Polizei davon hätte täuschen lassen, aber dazu kommt es erst gar nicht. Als er einem vorbeigehenden Fischer zuruft, er wäre überfallen worden und er möge bitte Hilfe holen, erzählt dieser der Polizei, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte – darauf, dass der Fischer ihn die gesamte Zeit beobachtet hatte, war Giacinto nicht gekommen. Der Versuch eines Versicherungsbetrugs war eine Verzweiflungstat, um seine Familie zu ernähren, bringt ihm stattdessen aber drei Jahre Gefängnis ein.

Nach dieser kurzen Vorgeschichte wird Giacinto auf der Krankenstation des Gefängnisses gezeigt, wo er im weißen Kittel als „Krankenschwester“ arbeitet – einen Job, den er schon während des Krieges in der Armee innehatte. Manfredi spielt die Figur des Giacinto als sympathischen und gutmütigen Naivling, der alles richtig machen will und sich ohne Egoismus für eine Sache einsetzt. Das er immer mehr in Schwierigkeiten gerät, verdankt er seinem fehlenden Durchsetzungsvermögen und der Unfähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen. Von dem brutalen Mörder Mario Tagliabue (Mario Adorf), dessen Zellengenossen Papaleo (Gian Maria Volonté) - trotz seines intellektuellen Gehabes ein gefährlicher Gewalttäter - und einem kleinen, älteren Mann (Raymond Bussières), genannt „Il sorcio“ (Die Maus), wird er dazu gezwungen, Dinge zu organisieren, die sie für einen Ausbruch benötigen. Als er das dem „Commandante“ erzählt, einem älteren von Tagliabue misshandelten Häftling, rät dieser Giacinto, damit zum Gefängnisdirektor zu gehen, da er dann ein halbes Jahr früher frei käme.

Allein die Vorstellung, in einem Gefängnis um einen Termin beim Gefängnisdirektor zu bitten, nachdem man unmittelbar in eine geheime Aktion involviert war, ist absurd, aber Giacinto denkt sich nichts dabei. Es kommt zu den erwartenden Konsequenzen – seine Zellengenossen sorgen dafür, dass er zu Tagliabue und seinen Kameraden verlegt wird, die ihm seine Idee schnell austreiben. Im Gegenteil planen sie ihn mitzunehmen, damit er sie nicht verraten kann, aber Giacinto fleht sie an, ihn zurückzulassen, da er in wenigen Monaten seine Strafe abgesessen hätte. Tagliabue fragt ihn, ob er einem harten Verhör standhalten würde, was Giacinto vehement bejaht, aber als er schon bei einem Ohrdreher damit herausrückt, dass der „Commandante“ ihm den Tipp mit dem Direktor gegeben hatte, entscheidet Tagliabue endgültig, ihn mitzunehmen. Allein diese Szene ist in ihrer Direktheit sehr komisch, aber das täuscht darüber hinweg, dass nur Nino Manfredis hingebungsvolles, jede Konsequenz annehmendes Spiel eine Realität kontrastiert, die nicht härter und demoralisierender sein könnte, ohne das „A cavallo della tigre“ bei seiner Darstellung des Gefängnisalltags und der Armut der Bevölkerung übertreibt.

Der deutsche Titel „Vergewaltigt in Ketten“ ist nicht nur inhaltlich falsch, sondern vermittelt eine extreme, außergewöhnliche Situation. „Der Ritt auf dem Tiger“ - wie der Film nach einem chinesischen Sprichwort wörtlich übersetzt heißt – bezeichnet dagegen die generelle Schwierigkeit, aus einer Sache auszusteigen (vom Tiger abzusteigen) und bezieht sich auf die vordergründigen Ereignisse um den geplanten Ausbruch, mehr noch aber auf Giacintos armseliges Leben, das ihm von Beginn an keine Chance ließ. Auch in Monicellis „I soliti ignoti“ wechselten sich unmittelbar komische und tragische Momente ab, aber die Story hatte ein Herz für die Armen und betrachtete sie mit Sympathie. In „A cavallo della tigre“ gibt es dagegen keine Solidarität mehr unter den Benachteiligten, wird Giacinto mehrfach von Tagliabue und den anderen Männern brutal verprügelt und entkommt nur knapp dem Tod. Auch nach dem Ausbruch, der sich als gerissenes Meisterstück herausstellt, versucht jeder nur seinen eigenen Vorteil aus der Sache herauszuschlagen.

Trotz mancher gelungener Aktion entsteht in Comencinis Film nie der Eindruck von Entspannung oder Zufriedenheit, wie er den Protagonisten in anderen Komödien zumindest zeitweise gegönnt wird. In der Darstellung der Realität einer durch Armut korrumpierten Bevölkerung ähnelt der Film dagegen Antonionis „Il grido“ (Der Schrei, 1957), der diesem Zustand jede Sentimentalität ausgetrieben hatte. Denn trotz der Widrigkeiten, die Giacinto im Knast und auf der Flucht widerfahren waren, hinterlässt die Wiederbegegnung mit seiner Frau und seinen zwei Kindern den tristesten Eindruck. Anstatt ihn zu begrüßen, beschimpft ihn seine Frau (Valeria Moriconi) und verteidigt ihr Zusammenleben mit einem anderen Mann damit, das dieser sie und ihre Kinder wenigstens ernährt hätte. Schnell nutzen die die Gelegenheit, die Belohnung für den ausgebrochenen Ehemann einzufordern. Und fordern von Giacinto, auch seinen Kameraden Tagliebue auszuliefern, da die für sein Ergreifen ausgesetzte Summe allein zu niedrig wäre – solidarische Gefühle sind längst egoistischen Interessen gewichen.

Einzig der sympathische und alles stoisch ertragene Giacinto vermittelt in „A cavallo della tigre“ eine gewisse Komik, aber der Kontrast zu einer Realität, die weder Hoffnung bietet, noch dem Protagonisten irgendeine Befriedigung erlaubt, war zu groß, um den Film noch als Komödie zu empfinden – wahlweise galt das Spiel Manfredis als zu übertrieben oder der reale Hintergrund als zu ernst. Doch dieses Urteil, das später revidiert wurde, wird einem Film nicht gerecht, der die Ansichten seiner vier Macher perfekt widerspiegelte und zu einer radikalen bitterbösen „Commedia all’italiana“ wurde, allen sonstigen Einordnungen zum Trotz.

"A cavallo della tigre" Italien 1961, Regie: Luigi Comencini, Drehbuch: Luigi Comencini, Agenore Incrocci, Mario Monicelli, Furio Scarpelli, Darsteller : Nino Manfredi, Mario Adorf, Gian Maria Volonté, Valeria Moriconi, Raymond Bussières, Laufzeit : 105 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luigi Comencini:

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Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.