Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Donnerstag, 22. August 2013

Caccia tragica (Tragische Jagd) 1947 Giuseppe De Santis

Giuseppe De Santis, Regisseur und Drehbuchautor, verdankt seinen heutigen eher geringen Bekanntheitsgrad ausschließlich seinem zweiten Kinofilm "Riso amaro" (Bitterer Reis) von 1949, obwohl er tiefer gehende und kontroversere Filme gedreht hatte. Sein Einfluss auf das italienische Kino ist von der Entstehung seines ersten Kinofilms "Caccia tragica" nicht zu trennen, weshalb dessen Besprechung mit einem Porträt über den Regisseur De Santis einhergeht, von dessen Filmen bis jetzt noch keiner auf DVD oder Blue-Ray in Deutschland veröffentlicht wurde - nur "Bitterer Reis" erschien vor vielen Jahren auf Video.






Inhalt: Michele (Massimo Girotti) und Giovanna (Carla Del Poggio), gerade frisch verheiratet, küssen sich auf der Ladefläche eines LKW, der unterwegs zu einer Landwirtschaft - Kooperative ist, um dieser die dringend benötigten Gelder für die Bezahlung der Pacht zu bringen. Giovanna ist es ein wenig peinlich, dass sie Jeder beobachten kann, aber Michele lässt seine junge Frau nicht aus seinen Armen, bis ein Priester am Straßenrand steht, den die Fahrer auch zusteigen lassen.

Als ein Krankentransporter den LKW überholt und kurz darauf stoppt, müssen sie erfahren, dass es sich um keinen echten Priester handelt, sondern um einen Kumpanen der Bande, die ihnen das Geld für die Kooperative abnehmen will. Die Fahrer werden kaltblütig mit einem Maschinengewehr erschossen und Michele bleibt allein zurück, nachdem sie seine Frau als Geisel genommen hatten. Damit wollen sie ihn einschüchtern, weil er in Alberto (Andrea Checchi) einen der Verbrecher erkannt hatte, einen Freund aus der gemeinsamen Zeit im Kriegsgefangenenlager der Nazis, der deshalb nicht in der Lage war, ihn zu töten. Aus Angst um seine Frau verrät er ihn nicht gegenüber den empörten Mitgliedern der Kooperative, aber er will sich allein auf die Suche machen, während die Anderen beginnen, die Diebe zu jagen...


Obwohl Giuseppe De Santis nur elf Filme zwischen 1947 und 1969 als Regisseur verantwortete, ist sein Name untrennbar mit dem Stil des "Neorealismus" verbunden, der das Medium grundsätzlich erneuerte und die Jahrzehnte lang anhaltende Hochphase des italienischen Kinos einleitete. Zurecht wurde De Santis 1995, zwei Jahre vor seinem Tod, der Orden "Commendatore Ordine al Merito della Repubblica Italiana" verliehen und erhielt er im selben Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig den "Goldenen Löwen" für sein Lebenswerk, denn sein Einfluss auf die Entwicklung des Filmschaffens generell, ist nicht hoch genug einzuschätzen.

Giuseppe De Santis, am 11. Februar 1917 in Fondi geboren, studierte von 1935 bis 1940 Philosophie und Literatur an der Universität in Rom, bevor er in den folgenden zwei Jahren sein Regie-Diplom an der "Centro sperimentale di cinematografia" ablegte. Schon früh schloss er sich einer intellektuellen Gruppierung an, die interkulturelle Disziplinen pflegte und sich gegen die Leitlinien des Mussolini-Regimes richtete, dabei regelmäßig die "l'Osteria Fratelli Menghi" frequentierend, in der sich seit 1940 Maler, Regisseure, Bühnenbildner, Schriftsteller und Dichter austauschten. Aus dieser Zeit stammen nicht nur seine Kontakte zu den späteren Regisseuren Carlo Lizzani, Antonio Pietrangeli und Gianni Puccini, sondern auch zu einer Gruppe junger römischer Antifaschisten - bestehend aus den Journalisten Mario Alicata, Antonello Trombadori, Pietro Ingrao, spätere wichtige Vertreter der kommunistischen Partei Italiens, und dem Schriftsteller Giaime Pintor - die seine sozialkritische Haltung prägten.

De Santis Zusammenarbeit mit Regisseur Luchino Visconti, sowie Mario Alicata, Gianni Puccini und Antonio Pietrangeli aus seinem Freundeskreis am Drehbuch von "Ossessione" (Besessenheit, 1942), der heute als erster neorealistischer Film gilt, war ebenso folgerichtig, wie seine Mitarbeit als Autor an der Seite Roberto Rossellinis bei "Desiderio" (1946) und Aldo Verganos "Il sole sorge ancora" (1946), gemeinsam mit Carlo Lizzani. Entsprechend beeindruckend liest sich die Liste der Mitwirkenden an seinem ersten als Regisseur verantworteten Kinofilm "Caccia tragica" (Tragische Jagd). Nicht nur Cesare Zavattini, einer der einflussreichsten Drehbuchautoren des Neorealismus, der eng mit den schon etablierten Alessandro Blassetti ("Quattro passi fra lenuvole" (Lüge eine Sommernacht, 1942)) und Vittorio De Sica ("Scuscia" (Schuhputzer, 1946)) zusammen arbeitete, war daran beteiligt, auch Michelangelo Antonioni in einer seiner wenigen Autorenarbeiten für andere Regisseure, sowie Carlo Lizzani  und Gianni Puccini, De Santis ständige Mitstreiter.

Ähnliches gilt für die Darstellerriege, die von Massimo Girotti angeführt wurde, der auch in "Ossessione" und "Desiderio" die Hauptrolle übernommen hatte. Der erfahrene Mime Andrea Checchi war De Santis spätestens seit dessen Rolle in "Ultimo amore" (1947) bekannt, zu dem er ebenfalls das Drehbuch geschrieben hatte, Carla del Poggio hatte neben Anna Magnani in Alberto Lattuadas erstem Film "Il bandito" (Der Bandit, 1946) gespielt und Vivi Gioi war nicht nur die Lebensgefährtin Vittorio De Sicas, sondern dank ihrer Mitwirkung in dem deutschen Film "...und die Musik spielt dazu" (1943, Regie Carl Boese) in der Rolle der "Lissy Müller" auch in der Lage, die schwierige Rolle der ehemaligen deutschen Spionin authentisch zu verkörpern, die regelmäßig in das deutsche Idiom wechselt.

Angesichts dieser Ansammlung an Kreativität und Mut, stellt sich die Frage, wieso "Caccia tragica" heute nicht nur nahezu unbekannt ist, sondern nicht einmal zur Liste der "Hundert zu bewahrenden Filme Italiens" gehört - im Gegensatz zu dem deutlich plakativeren, inhaltlich die sozialkritische Thematik nur oberflächlich berührenden "Riso amaro" (Bitterer Reis, 1949), mit dem Giuseppe De Santis heute fast ausschließlich in Zusammenhang gebracht wird. Obwohl De Santis 1948 das "Silberne Band" für die beste Regie verliehen bekam, Vivi Gioi als beste Nebendarstellerin ebenfalls vom Journalistenverband ausgezeichnet wurde, und "Caccia tragica" als "bester italienischer Film" des Jahres 1947 in Venedig ausgezeichnet wurde, blieb er ebenso im Schatten von "Riso amaro" wie seine folgenden, ebenfalls dem neorealistischen Stil zugehörigen Filme "Non c'è pace tra gli ulivi" (Kein Frieden unter den Olivenbäumen, 1950) und "Roma ore 11" (Es geschah Punkt 11, 1952), an dem der junge Elio Petri mitwirkte. Selbst "La strada lunga un anno" (1958), eine italienisch-jugoslawische Co-Produktion, ist inzwischen vollständig in Vergessenheit geraten, obwohl er den "Golden Globe" als bester fremdsprachiger Film verliehen bekam und in dieser Kategorie auch für den "Oscar" nominiert worden war.

"Riso amaro" gewann dagegen zurecht keine Preise, gilt aber heute neben "Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe, 1949) von Vittorio De Sica als der bekannteste Vertreter des Neorealismus, nicht zuletzt wegen der freizügigen Aufnahmen schöner Frauen, die Hauptdarstellerin Silvana Mangano zu einem großen Filmstar werden ließen. Dass der von Dino de Laurentiis geschickt vermarktete „Riso amaro“ diese Popularität erreichte, erklärt aber nicht, warum „Caccia tragica“ keinen ähnlichen Bekanntheitsgrad aufweisen kann, denn er weist schon alle Stärken des Regisseurs auf, eine spannende und action-geladene Story mit einem realistischen Szenario zu verbinden, dabei große Menschenmengen geschickt zu dirigieren und die Beziehungen unter den Protagonisten melodramatisch zuzuspitzen – genau die Zutaten, die zum Erfolg von „Riso amaro“ beitrugen. Selbst die Aufnahmen leicht bekleideter Frauen, die in „Riso amaro“ zu einem Skandal hochstilisiert wurden, gab es schon in „Caccia tragica“. Zudem beginnt er damit, wie Michele (Massimo Girotti) seine ihm frisch angetraute Giovanna (Carla del Poggio) hemmungslos vor den Augen der Öffentlichkeit küsst, als sie sich auf der Ladefläche eines LKW zu ihrer Landwirtschaft - Kooperative transportieren lassen, begleitet von den anzüglichen Kommentaren ihrer Umgebung.

Die geradlinige Story ist schnell erzählt: der LKW wird überfallen und Geld, dass für die Kooperative überlebenswichtig ist, gestohlen. Micheles junge Frau nehmen die Verbrecher mit, um ihn zu zwingen, seinen früheren Freund Alberto (Andrea Checchi) bis zu ihrer Flucht nicht zu verraten, den er wieder erkannt hatte. Michele hält sich daran, kann aber nicht verhindern, dass die Menschen der Kooperative, die um ihre Existenz kämpfen, eine gnadenlose Jagd auf die Diebe beginnen. Die Komplexität der inneren Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten entsteht aus einer Nachkriegszeit, die „Caccia tragica“ in ihrer anarchistischen, die bürgerlichen Regeln außer Kraft setzenden Situation wie kaum ein zweiter Film authentisch erfasste. Inmitten einer zerstörten Umwelt – beeindruckend etwa die Szene, als in einer Wohnung, in der Kinder spielen, der Vorhang beiseite gezogen wird, hinter dem die Außenwand verschwunden ist – und einer nicht existierenden staatlichen Ordnung, versuchen die Menschen Nahrung und Arbeit zu finden

Die von ihren Mitgliedern selbst verwaltete Landwirtschaft - Kooperative, die den Hintergrund der Handlung bildete, war ein früher Versuch nach dem Krieg, eine neue Lebensgrundlage zu schaffen, mit der die Menschen auf eine durch den Faschismus zerstörte, ursprünglich von der katholischen Kirche initiierte Verwaltungsform, zurückgriffen. Durch den Diebstahl des Geldes ist die Kooperative nicht mehr in der Lage ihre Pacht zu bezahlen, auf die die Verwalter (Folco Lulli, Alfredo Salvatori) schon auf dem Bauernhof-Gelände warten. Ohne zu zögern, nehmen sie den Tierbestand und die Gerätschaften mit, als der Diebstahl bekannt wird, was wiederum die verzweifelten Mitglieder der Kooperative dazu veranlasst, selbst die Verfolgung der Diebe aufzunehmen. Parallel dazu zeigt der Film, der wie „Riso amaro“ in der „Po-Ebene“ des nördlichen Italien spielt, eine mit einem riesigen Topf über das Land fahrende Gruppe, die für die zwei Millionen Kriegsveteranen Geld sammelt. Auch Michele und Alberto, die gemeinsam in einem Gefangenlager der Nationalsozialisten eingesperrt waren, gehören zu den ehemaligen Soldaten, gekennzeichnet durch ein Brandzeichen am Unterarm – doch während der eine wieder Arbeit in der Kooperative fand, zerstört der andere durch seinen Diebstahl deren schwache Grundlage.

Doch der Film geht über diesen persönlichen Konflikt hinaus und beschreibt eine chaotische Situation, in der Solidarität oder ethische Überlegungen kaum eine Chance haben, sobald das nackte Überleben auf dem Spiel steht. Damit verstieß „Caccia tragica“, der nur geschnitten in die italienischen Kinos kam, gegen jede Heroisierung der Überlebenden, unabhängig davon, ob es sich um die zu Hause Gebliebenen oder die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Soldaten handelte. Nicht nur, dass die Verwalter selbst hinter dem Raub stecken, um sowohl von der Beute, als auch dem geringen Besitz der Kooperative zu profitieren - dabei skrupellos deren Scheitern in Kauf nehmend – innerhalb der Gruppe der Banditen befindet sich neben einem deutschen Gefängnisaufseher, mit Daniela (Vivi Gioi) eine frühere deutsche Spionin, die mit Alberto, der als Kriegsgefangener nur knapp überlebte, in einer Liebesbeziehung steht. Dank Vivi Giois überzeugendem Spiel gelingt es Sympathien für diese so gewalttätige, wie liebesbedürftige Frau zu entwickeln. Auch ihr Verhältnis mit Alberto wird nachvollziehbar, obwohl sie mit den Deutschen kollaboriert hatte.

Die Figur der Daniela, die auf Grund ihrer Rolle während des Krieges „Lilli Marleen“ gerufen wird und der zur Strafe die Haare abrasiert wurden, symbolisiert die nach dem Krieg vorherrschenden Emotionen – Verzweiflung und Hoffnung, Liebe und Hass, Widerstandsgeist und Mitläufertum – womit es der Film wagte, keine Schuldigen zu suchen, sondern Menschen jeglicher Couleur in den Mittelpunkt zu stellen, die nur versuchen weiter zu leben. „Caccia tragica“ ist in der Beschreibung dieses inneren Konflikts eine seltene Ausnahme, da er mit der Illusion von automatischer Solidarität und gemeinsamen Wideraufbaugeist bricht, sondern erst deren Notwendigkeit einfordert. Auch in „Riso amaro“ lassen sich ähnliche Intentionen erkennen, aber die Charakterisierungen in „Caccia tragica“ gingen tiefer und rührten damit unmittelbar an das Selbstverständnis der Betrachter. Dass der Film trotz seiner eindeutigen Qualitäten und der unterhaltenden Inszenierung im Schatten von „Riso amaro“ blieb, war deshalb nur folgerichtig, denn dessen Spiel mit klischeehaften Figuren und einer oberflächlichen, melodramatisch aufgeheizten Kontroverse, war den hier geschilderten realen Konflikten in der Publikumsgunst überlegen.

Ein Erfolg, an den Giuseppe De Santis nicht mehr herankam, der 1971 seinen letzten Kinofilm „Un apprezzato professionista di sicuro avveniredrehte, nachdem es in den 60er Jahren schon sehr ruhig um ihn geworden war. Somit blieb sein Name mit „Riso amaro“ (Bitterer Reis) verbunden und im weiteren Sinn mit dem Neorealismus, ohne das seine generelle Fähigkeit zu einer gleichzeitig spannenden, sozialkritischen und melodramatischen Erzählweise, die den italienischen Film maßgeblich beeinflusste, ausreichend gewürdigt wird.

"Caccia tragica" Italien 1947, Regie: Giuseppe De Santis, Drehbuch: Cesare Zavattini, Michelangelo Antonioni, Carlo Lizzani, Gianni Puccini, Lamberto Rem-Picci, Giuseppe De Santis, Darsteller : Massimo Girotti, Andrea Checchi, Vivi Gioi, Carla Del Poggio, Folco Lulli, Laufzeit : 85 Minuten


Giuseppe De Santis - Regisseur, Regista:

"Giorni di gloria" (Tage des Ruhms, 1945) 
    - Dokumentation gemeinsam mit Luchino Visconti, Marcello Pagliero und Mario Serandrei
"Caccia tragica" (Tragische Jagd, 1947)
"Riso amaro" (Bitterer Reis, 1949)
"Non c'è pace tra gli ulivi" (Kein Frieden unter den Oliven, 1950)
"Roma, ore 11" (Es geschah Punkt 11, 1952)
"Un marito per Anna Zaccheo" (Fluch der Schönheit, 1953)
"Giorni d'amore" (Tage der Liebe, 1954)
"Uomini e lupi" (Frauen und Wölfe, 1957) - gemeinsam mit Leopoldo Savona
"Cesta duga godinu dana" (La strada lunga un anno, 1958)
"La garconnière" (1960)
"Italiani brava gente" (1964)
"Un apprezzato professionista di sicuro avvenire" (1971)

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Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.