Inhalt: Lucia
(Jeannie McNeil) zeigt ihrem Freund Augusto (Marino Masé) einen anonymen Brief,
den sie erhalten hatte. Dort wird ihr nahe gelegt, sich von Augusto zu trennen,
da die Absenderin von ihm schwanger wäre und er zu ihr gehören würde. Augusto
weiß sofort, dass nur Giulia (Paola Pitagora) die Verfasserin des Pamphlets
sein kann, seine jüngere Schwester, die das auch gar nicht leugnet. Sie hätte
es nur gut mit ihm gemeint, da sie Lucia und seine Beziehung zu ihr nicht mag.
Neben
seiner psychisch labilen Schwester und dem geistig zurück gebliebenen Bruder
Leone (Pier Luigi Troglio), gehören noch seine blinde Mutter (Liliana Gerace)
und Alessandro (Lou Castel), sein intelligenter, aber an epileptischen Anfällen
und krankhaftem Narzissmus leidender Bruder, zu seiner Familie, für die sich
Augusto verantwortlich fühlt. Er würde gerne mit Lucia in die nahe gelegene
Stadt ziehen, kann sich aber keine Wohnung leisten und lässt deshalb die
übrigen Familienmitglieder spüren, dass er der Einzige ist, der sich normal
integrieren kann. Alessandro leidet unter der Unzulänglichkeit seiner Familie
und fasst einen Plan, wie er seinen Bruder davon befreien kann...
"I
pugni in tasca" (Mit der Faust in der Tasche) war völlig neuartig - ein
Film, der unmittelbar auf die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, Mitte der
60er Jahre, reagierte. Marco Bellocchio führte in seinem ersten Film, den er
nur mit der Unterstützung seiner Familie produzieren konnte, die
gegensätzlichen Strömungen seiner Zeit zusammen, und ließ daraus ein
verstörendes, explosives Gemisch werden, dass die kommenden Ereignisse der
späten 60er Jahre in verklausulierter Form voraus sah.
Lou Castel,
der in Kolumbien geborene schwedisch stämmige Darsteller, trat in "I pugni
i tasca" ebenfalls erstmals in Erscheinung und ist die Idealbesetzung
eines Typus, der die von Marlon Brando oder James Dean verkörperten zornigen
jungen Männer der 50er Jahre in einen verzweifelten, ohne heldenhafte Attitüde
auskommenden Charakter umwandelte, der nur noch mit Zerstörungswut auf eine
vergängliche, krankhafte Umgebung reagieren kann. Sein klar gezeichnetes
Gesicht, seine ruhige, nach außen hin cool wirkende Art und sein
antibürgerliches Verhalten könnten ihn zum klassischen Rebellen werden lassen,
zur Identifikationsfigur des Films, aber sein Gemüt ist schon gezeichnet von
den ihn umgebenden Verhältnissen. Regelmäßig treiben ihn Anfälle an den Rand
des Wahnsinns und sein emotionales Empfinden ist gestört, gezeichnet von einem
krankhaften Narzissmus.
Die
Rebellen der 50er Jahre waren positiv besetzte Figuren, ihr Aufstand galt einer
konservativen Nachkriegsgesellschaft und beschwor die Zukunft einer
aufstrebenden Jugend. Davon ist in Bellocchios Films nichts mehr zu spüren,
denn die junge Generation beschreitet längst den Weg der Anpassung. Verkörpert
wird sie in "I pugni in tasca" von Augusto (Marino Masé), dem
Einzigen in seiner Familie ohne offensichtliche Disfunktion. Er hat einen Job,
ein Auto und eine Freundin (Jeannie McNeil), die er heiraten möchte. Seine Welt
und die seiner Freunde wird schon von den Insignien der Moderne bestimmt, aber
ihre Bedürfnisse bleiben konservativ. Dass Augusto nicht sofort in die nahe
gelegene Stadt zieht, liegt einzig an seiner Familie, um die er sich kümmern
muss. Dahinter verbirgt sich kein Altruismus, sondern das Gefühl der
Überlegenheit, dass er seine Mutter und die drei jüngeren Geschwister spüren
lässt, wenn er im Stil eines Patriarchen die Vorgänge in dem alten
Familienstammsitz, der einsam in den Bergen der Emilia-Romagna gelegen ist, bestimmt.
Zuerst noch
eine angenehme, nachvollziehbare Figur, wird Augusto zunehmend zum
Stellvertreter einer Generation, die sich nur noch für ihre eigenen Belange
interessiert. Häufig wird Bellocchios Film deshalb als Darstellung einer sich
verändernden Sozialisation interpretiert - weg von den früheren
Familienstrukturen, hin zu einer hedonistischen Lebensform - aber "I pugni
in tasca" geht deutlich darüber hinaus. Die weiteren Familienmitglieder
stehen stellvertretend für eine krank gewordenen Gesellschaft. Die blinde
Mutter (Liliana Gerace), ist das Sinnbild einer älteren Generation, die weder
in der Lage ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten, noch auf die Gegenwart zu
reagieren. Der freundlichste Charakter, der jüngste Sohn Leone (Pier Luigi
Troglio), ist geistig behindert und seine emotional labile Schwester Giulia
(Paola Pitagora) versucht mit einem anonymen Brief die Beziehung Augustos zu
dessen Freundin zu zerstören und steht in einer inzestiösen Beziehung zu
Alessandro.
Bellocchio
erzählt nicht immer linear, springt zeitlich zurück oder visualisiert
Phantasien, verdichtet seinen Film damit zum Blickwinkel Alessandros und dessen
Wahrnehmung seiner Umgebung. In einer zentralen Szene des Films nimmt Augusto
ihn mit auf eine Party. Junge Leute, moderne Musik und ein lockerer Umgang
zwischen den Geschlechtern, aber Alessandro bleibt ein Fremdkörper. Ein Mädchen
interessiert sich für ihn, aber er kann sich nicht darauf einlassen. Er begehrt
nicht auf, wählt keine offene Konfrontation oder provoziert bewusst, sondern
versucht im Gegenteil, zu konservieren, was ihn krank werden ließ. Um das
"normale" Leben seines Bruders zu ermöglichen, beginnt er alles zu
zerstören, was diesen daran hindern könnte - auch sich selbst.
Bellocchios
Film war zu seiner Entstehungszeit eine Provokation, aber die Wirkung, die von
dessen Protagonisten damals ausging, erschließt sich noch heute und hat ihre
generelle Bedeutung bewahrt. Die Figur des Alessandro ist Anpassung und
Protest, Erhalt und Zerstörung zugleich, versinnbildlicht von einer großartigen
Musik Ennio Morricones, die Schönheit und Wahnsinn miteinander verbindet.
"I pugno in tasca" kann keine Erlösung bringen, endet mit einer
Zerrissenheit, die kurz vor der Explosion zu stehen scheint und damit ein
Zeitgefühl wiedergibt, dass wenige Jahre später zu weltweiten Protesten führen
sollte. Einen Zustand erst zu ermöglichen, an dem man gleichzeitig leidet, hat
daran nichts geändert.
"I pugni in tasca" Italien 1965, Regie: Marco Bellocchio, Drehbuch: Marco Bellocchio, Darsteller : Lou Castel, Paola Pitagora, Marino Masé, Liliana Gerace, Jeannie McNeil, Laufzeit : 103 Minuten
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