Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Freitag, 31. Juli 2015

La donna invisibile (Die Unsichtbare) 1969 Paolo Spinola

Inhalt: Gemeinsam mit ihrem Mann Andrea (Silvano Tranquilli) bereitet sich Laura (Giovanni Ralli) im Schlafzimmer für den abendlichen Opernbesuch vor. In Unterwäsche gekleidet steht sie vor ihm, aber er hat nur Augen für den Fleck hinter ihr an der Wand. Sie versteht erst nicht, welchen Fleck er meint, bevor sie sich umdreht – es ist, als hätte er durch sie hindurch gesehen. Als sie wenig später das Dienstmädchen auf den Fleck aufmerksam macht, weiß diese nicht, wovon Laura spricht. Sie kann ihn hinter ihr nicht sehen.

Während sie sich mit dem befreundeten Ehepaar Anita (Anita Sanders) und Carlo (Gigi Rizzi) vor der Aufführung in einer Bar treffen, finden nebenan vor dem zentralen Universitätsgebäude, an dem Andrea als Professor unterrichtet, lautstarke Studentenproteste statt. Davon ungestört begeben sie sich in ihre Loge, wo Laura erneut seltsame Fantasien hat. Anita ist plötzlich nackt und ihr Mann berührt ihre Brust. Doch im nächsten Moment ist diese Vision wieder verschwunden…


Das Hauptwerk des Regisseurs und Drehbuchautors Paolo Spinolas beschränkt sich auf drei Filme, die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in die italienischen Kinos kamen. Fast 10 Jahre später realisierte er mit "Un giorno alla fine di ottobre" (1977) einen weiteren Film, der aber keine Aufmerksamkeit mehr erhielt. Auch seinen früheren Filmen erging es nicht viel besser. Einzig "La fuga" (1964) erschien mit dreijähriger Verspätung unter dem Titel "Liebe im Zwielicht" noch in den deutschen Kinos und wurde in der Originalversion auf DVD veröffentlicht. Nun wäre dieser Fakt nicht weiter bemerkenswert, hätten Spinola nicht besonders bei "La donna invisibile" bemerkenswerte Persönlichkeiten zur Seite gestanden, die an vielen heute noch populären Filmen beteiligt waren.

Die Produktionsfirma "Clesi Cinematografica" förderte parallel die jungen Regisseure Pasquale Festa Campanile und Salvatore Samperi und gehört damit zu den Wegbereitern der "Commedia sexy all'italiana" - unter anderen mit Filmen wie "Il merlo maschio" (Das nackte Cello, 1971) und "Malizia" (1973). An „Malizia“ war auch Drehbuchautor Ottavio Jemma beteiligt, der seit "La matriarca" (Huckepack, 1968) an Campaniles Seite stand, bevor er zum ständigen Wegbegleiter Samperis wurde. Dagegen blieb seine Zusammenarbeit mit Spinola bei "La donna invisibile" eine Ausnahme. Das gilt auch für Kameramann Silvano Ippoliti, der nicht nur für die beeindruckenden Winterimpressionen in Corbuccis "Il grande silenzio" (Leichen pflastern seinen Weg, 1968) verantwortlich war, sondern auch für die avantgardistische 60er Jahre-Optik der Tinto Brass-Filme "L'urlo" (1968) und "Nerosubianco" (1969).

In der Bildsprache weniger expressiv, steht auch „La donna invisibile“ (Die unsichtbare Frau) ganz im Zeichen der späten 60er Jahre. Ein Eindruck, der sich dank der von Ippoliti ins rechte Bild gerückten drei Schönheiten Giovanna Ralli, Carla Gravina und Anita Sanders zu Ennio Morricones großartiger Filmmusik regelrecht in die Netzhaut brennt. Vielleicht aber auch der Grund dafür, warum Spinolas Werk trotz seiner unbestreitbaren Qualitäten so schnell in Vergessenheit geriet, denn alle seine Filme wirken hinsichtlich ihres Gesellschaftsbilds fest in den 60er Jahren verankert. In „La donna invisibile“ bestimmen dezente erotische Aufnahmen, Andeutungen von Dreier- und lesbischen Beziehungen, Studentenproteste und die Dekadenz einer nach dem Krieg zu Reichtum gekommenen Bürgerschicht die Handlung - alles in bräunlichen Farben ästhetisch inszeniert, aber Ende des Jahrzehnts nur noch wenig provokant. Spinola selbst hatte die Thematik einer lesbischen Liebe in „La fuga“ 1964 schon konkreter angefasst.

Tatsächlich nutzte der Regisseur in „La donna invisibile“ die Typologien der späten 60er Jahre – freie Liebe, Revolution und beginnender Hedonismus – nur als äußere Hülle für eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der inneren Leere und fortschreitenden Entfremdung aus der Sicht einer Frau. Als Vorlage für sein Drehbuch wählte Spinola „Die Unsichtbare“ von Alberto Moravia, die dieser als eine von 34 Kurzgeschichten in seinem Buch „Il paradiso“ (Das Paradies) 1970 herausbrachte. Alle Geschichten wurden von Moravia aus der Sicht weiblicher Ich-Erzähler geschrieben – und trafen damit auf Spinolas Intention, in dessen Filmen immer die Frauen im Mittelpunkt standen.

„Moravias Frauen dagegen leben: sie sind eigensinnig, unberechenbar, ungreifbar wie die Wirklichkeit und bewahren, selbst wo sie im Käfig einer bürgerlichen Existenz eingeschlossen sind, eine irrationale, kreatürliche Eigengesetzlichkeit“ (Alice Vollenweider, Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.03.1974)

Das Irrationale zeigt sich in „La donna invisibile“ schon in der ersten Szene, in der Laura (Giovanna Ralli) wenig bekleidet vor ihrem Mann Andrea (Silvano Tranquilli) steht. Er sieht einen Fleck hinter ihr an der Wand, als ob er durch sie hindurch sehen könnte. Einen Fleck, den das Dienstmädchen, das wenig später den Raum betritt, hinter Laura nicht sehen kann. Der Sinn dieser exakt aus der Kurzgeschichte übernommen Anfangssequenz liegt auf der Hand – für ihren Mann ist Laura durchsichtig, ihre verführerische Schönheit wirkt auf ihn nicht mehr. Er liebt sie nicht mehr, wie Laura konkret hinzufügt. Doch Alberto Moravia blieb nicht bei der Visualisierung eines persönlichen Empfindens, sondern konkretisierte die Unsichtbarkeit Lauras – mit für sie unerwarteten Folgen. Ein Spiel mit dem Ausbruch aus den Konventionen, dem Versuch, dem „Käfig einer bürgerlichen Existenz“ zu entkommen.

Diese Phantastik wird in „Il paradiso“ in Kombination mit den anderen Kurzgeschichten zu einem so amüsanten, wie exzentrischen Umgang mit der Realität – „die Gesellschaftskritik geht in ihnen ganz im Erzählerischen auf“ wie Alice Vollenweider in ihrer Buch-Rezension resümiert. In Spinolas Film erschließt sich diese Dimension dagegen nicht, da er die knapp 5seitige Story aus dem Zusammenhang riss und daraus einen abendfüllenden Film machte. Zwar existiert auch bei Moravia eine zweite Frau, die von der Ich-Erzählerin als Bedrohung wahrgenommen wird, aber mit der von Spinola und Jemma neu erdachten gleichaltrigen Delfina (Carla Gravina) hat die Romanfigur Gilberta - „ein 17jähriges Mädchen mit schmächtigem Busen und dicken Schenkeln“ - , die als Nichte des Ehemanns seit zwei Wochen zu Besuch ist, wenig gemeinsam. Spinola nennt weder einen Grund für Delfinas selbstverständliche ständige Anwesenheit in der Wohnung des Ehepaars, noch wird ihre Beziehung zu ihnen klar definiert. Mal wirkt sie wie eine enge Freundin Lauras, mal wie eine Geliebte ihres Mannes, ohne jemals konkret zu werden.

Neben dieser geheimnisvoll bleibenden Figur reicherte Spinola die Handlung mit zeitgenössischen Inhalten an, ohne weiter in deren Tiefe vorzudringen. Ob Studentenproteste, die Dekadenz der reichen Bürgerschicht oder der wenig dezente Seitensprung des Mannes ihrer Freundin Anita (Anita Sanders) – alles läuft wie ein Film vor Lauras Auge ab. Sie wirkt nicht wirklich involviert, selbst als sie mit dem Anführer der Studentenproteste ins Bett geht. Obwohl erhebliches Konflikt-Potential im Raum steht, bleibt das Verhalten der Protagonisten untereinander stets ruhig und emotionslos, nie kommt es zu offenen Diskussionen oder gar Streit. Ähnlich unvollendet bleiben die erotischen Anspielungen, deren Versprechungen nicht eingelöst werden. Selbst das fantastische Element der Unsichtbarkeit besitzt keinerlei Stringenz. Unterstützt von der melancholischen Leichtigkeit der Musik Morricones entsteht ein Zustand, in der die Realität nur noch wie unter einer Glasglocke wahrgenommen wird.

Diese Visualisierung der inneren Entfremdung einer Frau entsprach dem Geist der Vorlage Morawias, dessen Kurzgeschichte Spinola wie eine erzählerische Klammer für seinen umfassenderen Inhalt nutzte, dessen radikal subjektive Sicht er aber offen ließ. Das verleiht dem Film lange Zeit einen diffusen, unentschiedenen Charakter, der dazu beigetragen haben könnte, dass „La donna invisibile“ nur den Eindruck einer stilvollen 60er Jahre-Fingerübung weckte. Zu unrecht, auch wenn sich Spinolas individuelle Intention und damit die innere Konsequenz des Films erst mit dem letzten Satz offenbart.

"La donna invisibile" Italien 1969, Regie: Paolo Spinola, Drehbuch: Paolo Spinola, Ottavio Jemma, Dacia Maraini, Alberto Moravia (Kurzgeschichte), Darsteller : Giovanna Ralli, Carla Gravina, Anita Snaders, Silvano Tranquilli, Gigi Rizzi, Laufzeit : 85 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Paolo Spinola:

"La fuga" (1964)

Sonntag, 19. Juli 2015

Un Americano a Roma (Ein Amerikaner in Rom) 1954 Steno

Inhalt: Nando Moriconi (Alberto Sordi), der sich selbst „Santi Bailor“ nennt, weil es für ihn amerikanisch klingt, kommt wie üblich spät abends nach Hause zu seinen Eltern. Er hatte sich im Kino einen US-Film angesehen und blieb sitzen bis der Platzanweiser ihn rausschmiss. Anstatt seine Eltern schlafen zu lassen, veranstaltet er einen Heidenlärm, schmeißt Ketchup und Cornflakes zusammen und reizt seinen Vater (Giulio Calì) zu ständigen Wutanfällen. Selbstverständlich ruft er mitten in der Nacht noch seine Freundin Elvira (Maria Pia Casilio) an, um sie zu bitten, am nächsten Tag zu seinem Auftritt als Gene Kelly zu kommen. Dass er dafür direkt am Bett der Herrschaften landet, für die Elvira als Hausmädchen arbeitet, stört ihn nicht. Zähneknirschend akzeptieren diese das nächtliche Telefonat, da sie nicht schon wieder die Angestellte wechseln wollen.

Doch der Auftritt im Varieté misslingt, Nando und seine Tänzerinnen werden ausgebuht, und er wird entlassen, nachdem er sich mit einem Zuschauer angelegt hatte. Auch Elvira ist enttäuscht von ihm. Als er frustriert nach Hause geht, sieht er das Plakat für den Hollywood-Film „Vierzehn Stunden“ und beschließt, es dem Protagonisten des Films gleich zu tun. Wenig später steht er auf dem Kolosseum und droht zu springen, falls er kein Visum für die USA erhält.


„Künstlerisch niveauloser Film, der amerikanischen Lebensstil glossieren will.“

Nando (Alberto Sordi) und seine Mama (Anita Durante) im Kinderzimmer
schrieb der Filmdienst. Ein vernichtendes Urteil, das in direktem Gegensatz zur Aufnahme von "Un Americano a Roma" (Ein Amerikaner in Rom) in die TOP 100 der italienischen Filmgeschichte steht - zusammengestellt von einer Expertenrunde, die nicht im Verdacht steht, der leichten Muse zu frönen. Korrekt nennt sich deren Filmliste "100 film italiani di salvare" (100 zu bewahrende italienische Filme), ein Titel, der zur Aufklärung dieser widersprüchlichen Einschätzung verhilft. "Un Americano a Roma" gehört zu den Filmen, die einen radikalen italienischen Standpunkt einnehmen und in ihrer Mehrsprachigkeit, besonders wegen des von Alberto Sordi improvisierten unverständlichen italienisch-englischen Kauderwelschs, nicht adäquat synchronisiert werden können. Zudem persiflierte Sordi in seiner Rolle eines vom US-Virus gepackten Römers nicht nur den amerikanischen Lebensstil, wie der "Filmdienst" zurecht anmerkte, sondern auch die spezifisch männlichen Eigenarten vom Gigolo bis zum Muttersöhnchen - für Italiener von hohem Wiedererkennungswert, weshalb der Film dort bis heute populär geblieben ist.

Als Highway-Policeman unterwegs mit Freundin Elvira (Maria Pia Casilio)
An "Un Americano a Roma" lässt sich die Entwicklung der "Commedia all'italiana" ausgehend vom Neorealismus sehr gut ablesen. Reagierten frühe Komödien wie "Totò cerca casa" (1950) noch unmittelbar auf die realen Nöte des italienischen Alltags, wirkt "Un Americano a Roma" in seiner überdrehten Anlage vordergründig abgehoben, obwohl die Handlung die erst wenige Jahre zurückliegende deutsche Besatzungszeit mit einbezieht und eine Szene sogar im Strafgefangenenlager spielt. Sordi als Nando Mericoni, der sich selbst den pseudo-englischen Namen "Santi Bailor" gibt, agiert mit solch übertriebenem Aktionismus, dass die Handlung trotz ihres meist ernsthaften Hintergrunds oft in scheinbaren Klamauk abrutscht.

"Santi Bailor" weist seine Tänzerinnen ein
Die Parallelen zu "Totò a colori" (Totò in Farbe, 1952), den Steno zwei Jahre zuvor mit Lucio Fulci als Regie-Assistent an seiner Seite gedreht hatte, drängen sich auf. Nicht nur brachte wieder ein Außenseiter seine komplette Umgebung zur Weißglut, auch die äußere Form aneinander gereihter sketchartiger Spielszenen entsprach dem Vorbild. Diesmal statt Totò mit dem Komiker Alberto Sordi im Mittelpunkt, der auch am Drehbuch beteiligt war. Zusammen mit Sordi, Lucio Fulci und Sandro Continenza hatte Steno schon den Vorgängerfilm "Un giorno in pretora" (Drei Sünderinnen, 1954) entwickelt. Ebenfalls ein aus verschiedenen Einzel-Storys zusammengesetzter vor Gericht spielender Film. Und mit Ettore Scola stieß ein Autor neu zum Team, der erst kurz zuvor zwei Episoden für "Amori di mezzo secolo" (1954) geschrieben hatte, an dem auch Sordi und Continenza mitwirkten. Die Anlage eines aus komischen Einzel-Szenen zusammengefügten Films lag also auf der Hand, aber "Un Americano a Roma" ging darüber hinaus und entwickelte diese Idee weiter.

Beginnt der Film noch konventionell und schildert, wie Nando Mericoni (Alberto Sordi) erst spät nach einer Kino-Vorstellung zu seinen Eltern nach Hause kommt – selbstverständlich lief ein Western -  zitierte Steno nach etwa 30 Minuten die inszenatorische Anlage des US-Films „Fourteen Hours“ (Vierzehn Stunden, 1951) von Henry Hathaway. Darin stellt sich ein junger Mann im 15.Stock auf den Sims eines New Yorker Hotels und droht damit herunterzuspringen. Um ihn zu retten, versucht ein Polizist die Gründe für seine verzweifelte Situation herauszubekommen und beginnt langsam seine Vergangenheit aufzuschlüsseln. Das Filmplakat von „Fourteen Hours“ motiviert Nando, es dem Protagonisten gleich zu tun. Frustriert davon, dass er aus dem Varietè-Programm geschmissen wurde, weil seine Gene-Kelly-Version beim Publikum nicht ankam – fast wäre es zu einer Prügelei gekommen, auch seine Freundin Elvira (Maria Pia Casilio) will nichts mehr von ihm wissen – steigt er auf das Kolosseum und droht mit Selbstmord, falls er kein Visum in die USA erhält. Diese Situation nutzte wiederum Steno, um Nandos Vergangenheit aus der Sicht seines Vaters, seiner Freundin Elvira und seines Kollegen Romolo Pelliccioni (Carlo Delle Piane) in Einzelszenen aufzuschlüsseln – Inszenierungsform und Inhalt werden zu einer Einheit.

Auf der Flucht vor seinem Vater (Giulio Cali)
Im Gegensatz zu dieser subtilen Anspielung auf die um sich greifende Amerikanisierung, ging Albert Sordi von Beginn an die Vollen. Sein "Santi Bailor“ ist eine echte Nervensäge und hinterlässt fast ausschließlich mordlüsterne Zeitgenossen, beginnend bei seinem eigenen Vater (Giulio Calì), der auch von seiner Mama (Anita Durante) nicht mehr im Zaum gehalten werden kann. Anders als Totò in „Totò a colori“ entlarvte Sordi nicht die angepassten Verhaltensmuster seiner Zeitgenossen, sondern persiflierte den nach dem Krieg einsetzenden US-Wahn. Hinter dem Humor der „Commedia all’italiana“ verbirgt sich oft eine Tragik, die die Realität nur langsam, dafür umso schmerzlicher bewusst werden lässt. Zwar gilt Mario Monicellis „I soliti ignoti“ (Diebe haben’s schwer, 1958) als Beginn der „Commedia all’italiana“ – die Begrifflichkeit entstand erst später -  , aber die Komödien des Gespanns Steno/Monicelli, ob gemeinsam oder getrennt, pflegten schon seit den späten 40er Jahren einen subversiven Witz.

Auch das Hinrichtungskommando kann Nandos Begeisterung nicht stoppen
„Un Americano a Roma“ ist ein Paradebeispiel dafür. Zuerst ist Sordis Spiel noch als Parodie auf den „American way of life“ zu verstehen. Jedem klopft er brachial auf die Schulter, schmeißt mit „okay“ und „allright“ nur so um sich, obwohl er nichts versteht, und geht o-beinig wie sein Vorbild John Wayne. Auch dass ihm Cornflakes mit Ketchup doch nicht schmecken und er - selbstverständlich notgedrungen - die von seiner Mutter gekochten Spaghetti „vernichten“ muss, ist noch urkomisch, aber langsam nimmt seine innere Überzeugung, perfekt us-amerikanisch assimiliert zu sein, psychosomatische Züge an. Seine – rückwirkend erzählte – Inhaftierung in einem deutschen Strafgefangenenlager überlebt er nur mit Glück, obwohl er den Funkspruch an die US-Armee versaut. Seinen Mitgefangenen hatte er versichert, perfekt Englisch zu können. Mit dem Ergebnis, dass ihn die US-Kommandantur beinahe standrechtlich als Kollaborateur erschießen lässt, nachdem er mit seinem unverständlichen Kauderwelsch auf sie eingeredet hatte.

Die Situation bei den Amerikanern eskaliert
Pflegen diese Szenen eher einen schwarzen Humor, kippt das Geschehen endgültig in Richtung Farce, als Nando einer jungen Amerikanerin (Ilse Peterson) begegnet. Felsenfest davon überzeugt, dass sie ihn heiraten und in die USA mitnehmen will, versteht er nicht, dass sie von seiner römischen Statur begeistert ist und ihn bittet, ihr Akt zu stehen. Aus diesem Missverständnis entwickelte Steno eine absurde Szene, die nur noch am Rand mit Nandos USA-Fimmel zu tun hat, aber viel mit italienischen Eigenarten. Eben noch ganz der von sich überzeugte Macho, irrt der nackte Nando völlig verschreckt durchs Bild einer TV-Live-Übertragung (mit der jungen Ursula Andress in ihrer ersten Rolle). Die Freunde der Amerikanerin hatten ihn für eine Aktzeichnung in Nero-Pose ausgezogen, nachdem ihn ihr Vater in einem Box-Kampf bewusstlos geschlagen hatte. Nando hatte mit wachsender Hysterie auf die junge Frau eingeredet – nichts verstehend, aber alles zu wissen glaubend.

Jede der Einzelszenen, auch die Ereignisse am Kolosseum, wo die Massen zusammen gekommen sind, um den Selbstmörder zu sehen, besitzen ihre eigene Komik, aber puzzleartig entsteht das Bild einer tragischen Figur. Nicht wegen des übertriebenen Hangs zu allem Amerikanischen, sondern der generellen Unfähigkeit zur Kommunikation, die von wildem Gestikulieren und lautem Reden kaschiert wird. Bezeichnend ist, dass selbst der italienisch sprechende Amerikaner nicht mehr zu Nando durchdringen kann – Sprache hilft nicht mehr, wenn die Sperre im Kopf eingerastet ist. An diesem Punkt treffen “Un Americano a Roma“ und “Totò a colori“ wieder zusammen. Die Umwelt kann auf das Verhalten der Außenseiter nur mit Gewalt reagieren - ein Motiv, dass signifikant für die „Commedia all’italiana“ wurde. Nando landet im Koma liegend im Krankenhaus. Wie in „Totò a colori“ schiebt Steno ein übertriebenes, unrealistisches „Happy-End“ hinterher, um es sofort wieder ad absurdum zu führen. Es bleibt komisch, aber ohne Lösung.

"Un Americano a Roma" Italien 1954, Regie: Steno, Drehbuch: Steno, Lucio Fulci, Alberto Sordi, Ettore Scola, Sandro Continenza, Darsteller : Alberto Sordi, Maria Pia Casilio, Ilse Peterson, Anita Durante, Giulio Calo, Carlo Delle Piane, Rocco D'Assunta, Galeazzo Benti, Ursula Andress, Laufzeit : 85 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Steno:

Samstag, 4. Juli 2015

L’innocente (Die Unschuld) 1976 Luchino Visconti

Inhalt: Das Klavier-Konzert im römischen Palazzo der Prinzessin (Marie Dubois) hat schon begonnen, als Tullio Hermil (Giancarlo Giannini) und seine Frau Giuliana (Laura Antonelli) in der adligen Gesellschaft eintreffen. Die Prinzessin bietet Giuliana den Platz an ihrer Seite an, ihr Mann verlässt dagegen schnell wieder den Saal, um noch Teresa Raffo (Jennifer O’Neill) abzufangen, die nach seiner Ankunft die festliche Stätte gemeinsam mit Graf Stefano Egano (Massimo Girotti) verlassen wollte. Als er sie deshalb zur Rede stellt, entgegnet sie, ihn nicht mit seiner Frau teilen zu wollen. Sollte er noch weiter Interesse an ihr haben, erwartet sie, dass er sie sofort begleitet.

Hermil zögert einen Moment, aber dann setzt er seine Frau davon in Kenntnis, wegen wichtiger geschäftlicher Termine noch in die Stadt müssen. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, entfernt er sich schnell, brüskiert auch den Grafen Egano, der sich um die schöne Witwe Teresa Raffo bemüht und kümmert sich nicht darum, dass alle wissen, dass er seine Frau betrügt – Tullio Hermil, ausgezeichneter Fechter und reicher gutaussehender Charmeur gilt innerhalb der gehobenen Gesellschaft Roms als unangreifbar. Doch auch seine schöne Ehefrau hat Verehrer. Besonders Filippo d'Arborio (Marc Porel), ein begabter Autor und Freund des jüngeren Bruders ihres Mannes  Federico Hermil (Didier Haudepin), macht ihr seine Aufwartung…


Nachruf zum Tod von Laura Antonelli (1941 – 2015):

"Incontro d'amore" (1970)
Laura Antonelli starb am 22.06.2015 im Alter von 73 Jahren in ihrer Wohnung in Ladispoli, einer Kleinstadt in der Nähe von Rom, an einem Herzinfarkt. Soweit die nüchternen Fakten. Die Tragik hinter ihrer Geschichte entfaltet sich erst durch das Fehlen üblicher ausschmückender Details. Keine Kinder, als einziger naher Verwandter ein in Kanada lebender Bruder, ihre letzte erwähnte Beziehung mit Jean-Paul Belmondo endete nach acht aufregenden Jahren 1980 und ihren letzten Film "Malizia 2000" drehte sie 1991 mit knapp 50 Jahren. Damit wollte sie an ihren Durchbruch zum gefeierten Star "Malizia" (1973) anknüpfen - ein Versuch, der wie häufig bei ähnlichen Ambitionen, misslang.

"Sessomatto" (1974) mit Giancarlo Giannini
Diesem Misserfolg oder ihrer im Jahr darauf folgenden Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe wegen Kokainbesitzes - ein Urteil, dass erst viele Jahre später revidiert wurde - die Schuld an ihrem Karriereende zu geben, hieße ihre damalige Situation noch zu beschönigen. Nicht nur für Laura Antonelli, auch für Regisseur Salvatore Samperi, mit dem sie 1974 noch "Peccato veniale" (Der Filou, 1974) gedreht hatte, bedeutete der Film eine Art letzte Chance, nachdem ihre Karrieren in den Jahren zuvor schon ins Stocken geraten waren. Mit "Malizia 2000" nahm Samperi ebenfalls Abschied vom Kino, erst mehr als 10 Jahre später begann er wieder für das italienische Fernsehen zu drehen - ein zweiter Karriereschub, der von seinem frühen Tod 2009 beendet wurde.

"Mogliamante" (Frau und Geliebte, 1977) mit Marcello Mastroianni
So signifikant der große Publikumszuspruch für "Malizia" die beginnende sexuelle Liberalisierung repräsentierte und Laura Antonelli zum Sex-Symbol dieser Epoche werden ließ, so klischeehaft blieb sie mit einem Erotik-Film verbunden, der Mitte der 70er Jahre aus Sicht der Filmkritik, wie auch des Publikums zunehmend auf das Niveau oberflächlicher Sex-Komödien reduziert wurde, dabei die progressive Funktion besonders der frühen Werke negierend. "Le malizie di Venere" (Venus im Pelz, 1969, Regie Massimo Dallamano), "Il merlo maschio" (Das nackte Cello, 1971, Regie Pasquale Festa Campanile) oder der Episodenfilm "Sessomatto" (Sesso matto - Niemand ist vollkommen, 1973, Regie Dino Risi) - um einige Beispiele zu nennen, an denen Laura Antonelli maßgeblich mitwirkte - standen noch ganz in der Tradition der "Commedia all'italiana" und zogen ihren Witz aus der Absurdität bürgerlicher Scheinmoral. Dass "Malizia", dessen Handlung 10 Jahre zurückversetzt zu Beginn der 60er Jahre spielt, heute als Komödie gilt, zeugt von der fehlenden Bereitschaft, sich den dramatischen Subtext anzusehen, der viel über die sozialen Abhängigkeiten und sich daraus ergebenden Zwänge aussagt.

"Passione d'amore" (1981)
Entsprechend gebetsmühlenartig wird in den wenigen Nachrufen mit nicht zu überhörender Überraschung wiederholt, dass Laura Antonelli auch in Luchino Viscontis letztem Film „L’innocente“ mitspielte, manchmal noch von der Erwähnung ihrer Rolle in „Passione d’amore“ (1981) unter der Regie Ettore Scolas ergänzt. Böse lässt sich daraus schließen, dass sich an der Doppelmoral der frühen 70er Jahre bis heute wenig geändert hat. Laura Antonelli wurde zwar wegen ihrer Schönheit verehrt und ihre ästhetischen Nacktaufnahmen werden bis heute geschätzt, aber dem zweifelhaften Ruf einer Sex-Film-Akteurin konnte sie ebenso wenig entkommen, wie der fast folgerichtigen Aussortierung auf Grund ihres Alters – letztlich der entscheidende Grund für das Ende ihrer Karriere.

"Casta e pura" (1981, Regie Salvatore Samperi) mit Fernando Rey
Ähnlich fehlgegriffen wirkt auch der Vergleich mit Sophia Loren und Gina Lollobrigida, als deren Nachfolgerin sie nach „Malizia“ angeblich gehandelt wurde. In italienischsprachigen Texten lässt sich davon heute nichts mehr finden, vielleicht glaubte man damals tatsächlich an eine ähnliche Star-Verehrung, aber gegensätzlicher als die Loren und Laura Antonelli sind Frauentypen kaum vorstellbar. Spielte Sophia Loren meist energische, ihre körperlichen Vorzüge demonstrativ betonende Charaktere, die selbst als Prostituierte noch moralisch integer blieben, wagte Laura Antonelli in ihren Rollen den Weg am Abgrund. Zurückhaltend, fast passiv auftretend und von entrückter Schönheit, galt es, sie aus der Reserve zu locken. Anders als Sophia Loren in ihren Filmen verstieß sie tatsächlich gegen Tabus, dafür auch ihren Körper einsetzend, aber sie bewahrte sich eine Aura der Unschuld dank ihrer nie vordergründig eingesetzten Erotik und ihrer letztlich konsequent bleibenden Haltung.


L’innocente (Die Unschuld)

Entsprechend hätte Luchino Visconti die Figur der Giuliana Hermil, Ehefrau des Adeligen Tullio Hermil (Giancarlo Giannini), in seiner Interpretation des 1892 erschienenen Romans von Gabriele D'Annunzio „L’innocente“ nicht besser besetzen können. Passiv erduldet sie die offensichtliche Ignoranz ihres Ehemanns und dessen unverhohlen vor den Augen der gehobenen Gesellschaft Roms ausgelebten Affäre mit Teresa Raffo (Jennifer O’Neill). Diese, eine schöne, finanziell unabhängige Witwe, kann den ausgezeichneten Degenfechter und selbstbewusst auftretenden Charmeur mit ihrer unabhängigen, sich nicht den gesellschaftlichen Normen unterwerfenden Art faszinieren und reizt dessen männlichen Eroberungswillen. Die Beziehung zu seiner Frau wird von ihm dagegen auf eine Art geschwisterlich vertraute Zweckgemeinschaft herunter gebrochen.

Als im Freundeskreis seines jüngeren Bruders Federico (Didier Haupin) mit Filippo d'Arborio (Marc Porel) ein so gutaussehender, wie elegant intellektueller Schriftsteller auftaucht, der aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen stammt – eine autobiografische Anspielung auf den als Frauenhelden bekannten Gabriele D'Annunzio - erwächst Tullio unerwartete Konkurrenz. Filippo wird innerhalb der gehobenen römischen Gesellschaft dank seiner Bildung und Kultur zum Frauenliebling und erweist besonders Giuliana seine Verehrung. Visconti deutet die mögliche Verbindung zwischen dem jungen Autor und der betrogenen Ehefrau nur an, zeigt sie nie im Bild. Einmal erfährt Tullio nur zufällig, dass seine Frau ihn angelogen hatte, konkret wird die Affäre erst, als Giuliana ihm gesteht, im dritten Monat schwanger zu sein. Filippo d’Arborio spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr – Giuliana hatte die unbemerkt gebliebene Beziehung beendet – und stirbt wenig später an einer Infektion, die er sich bei einem Aufenthalt in Afrika zugezogen hatte.

Mit dieser Inszenierungsform betonte Visconti noch den Eindruck eines einmaligen, unbedeutenden Fehltritts Giulianas, während Tullio sie monatelang allein gelassen hatte und bei Teresa Raffo lebte. Statt Freude über das Kind auszudrücken, fügt sie sich unterwürfig in ihre Rolle als Ehefrau. Nur unterschwellig werden ihre Emotionen hinter ihrer äußerlich gezeigten Gefühlskälte spürbar, von Laura Antonelli idealtypisch verkörpert. Naheliegender wäre die Frage gewesen, wieso Giancarlo Giannini für die Rolle des so kontrolliert und bestimmt auftretenden Adeligen von Visconti ausgewählt wurde? -  Giannini spielte in den 70er Jahren in den Filmen von Lina Wertmüller die männliche Hauptrolle – in der Regel eine „Tour de Force“ durch ein absurdes, gesellschaftskritisch zugespitztes Panoptikum ("Pasqualino Settebellezze" (Sieben Schönheiten, 1976)). Giannini scheute dabei weder Hässlichkeit, noch Slapstick wie auch in seinem Sergio Corbucci Film „Il bestione“ (Die cleveren Zwei, 1974), in dem er den aufgeregten Part eines ungleichen Duos verkörperte.

Doch Giannini ließ hinter seinem aktionistischen Auftreten auch immer die Tragik seiner Figuren durchscheinen – in Viscontis Film kehrte er diese Darstellungsform um. Tullio bleibt in der Öffentlichkeit jederzeit ruhig und souverän, fürchtet keinen Gegner und ist seinem jüngeren Bruder ein leuchtendes Vorbild. Als sich der ältere Graf Stefano Egano (Massimo Girotti) um Teresa Raffo bemüht, kostet es ihn wenig Mühe, ihn ins Abseits zu stellen – ganz im Bewusstsein, dass ihm Niemand gewachsen ist. Doch diese nach außen hin gezeigte Stärke erweist sich zunehmend als brüchige Fassade, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Frau erfuhr. Obwohl Niemand ahnt, dass es nicht sein Kind ist, und der kurzzeitige Liebhaber verstorben ist, arbeitet der Fötus wie ein Virus in ihm und treibt ihn schwitzend und um Liebe bettelnd in die Arme seiner von ihm zuvor abgelehnten Frau. Erst will er einen Schwangerschaftsabbruch organisieren, um – nachdem sie dieses Ansinnen als Sünde ablehnte – das geborene Kind nicht nur mit Verachtung zu strafen, sondern dessen Tod herbei zu führen.

 „…es ist zu befürchten, daß Visconti als unbedingter Verehrer D’Annunzios, als der er sich noch unlängst in einem italienischen Radiointerview bekannte, dem Dichter Unrecht tut und „D’Annunzionismo“ in Reinkultur zelebriert…“ (François Bondy „D’Annunzios Auferstehung - Der Überlebensgroße ist in Gefahr, noch einmal Kultfigur zu werden“, in der ZEIT vom 09.01.1976)

Mit der Verfilmung des während der „Belle epoque“, gut 20 Jahre vor dem Ausbruch des 1.Weltkriegs spielenden Romans D’Annunzios‘, nahm Visconti eines seiner Lieblingsthemen wieder auf – der Weg Italiens zum Faschismus. Schon in „Senso“ (Sehnsucht, 1954), später in „Il gattopardo“ (Der Leopard, 1962) beschrieb der Kommunist und Adelige Visconti die zerstörerischen Mechanismen während der Gründungsphase des italienischen Einheitsstaates, die schon den Samen des späteren Rechtsradikalismus in sich trugen. Dass seine Wahl auf D’Annunzios Roman „L‘innocente“ für die Drehbuchvorlage fiel, war nicht alleine der Epoche vor dem 1.Weltkrieg geschuldet, die sich im Werk des Autors trefflich widerspiegelt, auch nicht Viscontis persönlicher Begeisterung für dessen Literatur. Entscheidend ist das D’Annunzio als geistiger Wegbereiter des italienischen Faschismus gilt, den Benito Mussolini konkret nachahmte. Vom „Marsch nach Rom“, der zur Machtübernahme des Diktators führte, bis zu Details wie den Schwarzhemden und dem Partei-Gruß gehen unmittelbar auf das Vorbild D’Annunzio zurück, der 15 Monate lang von 1919 bis 1920 mit seinen faschistischen Truppen den heute zu Kroatien gehörenden Freistaat Fiume besetzte.

Gabriele D’Annunzio war eine schillernde Persönlichkeit, ein Frauenheld und Bonvivant, der viele Extreme ausprobierte. Nach dem 2.Weltkrieg gab es deshalb wiederholt Versuche, den fähigen Literaten vom Ruch der Mussolini-Nähe zu befreien, worauf François Bondy in seinem Zitat in der „Zeit“ auch anspielte. Er hatte den fertigen Film noch nicht sehen können, sonst hätte er seine Befürchtungen hinsichtlich Viscontis Umsetzung nicht geäußert.

„Visconti hatte D'Annunzios Buch zur Vorlage eines Films gemacht, der die Distanz zum Roman nicht aufhebt, sondern sie verstärkt. Er hatte von dem Roman alles abgelöst, was dieser nur seinem gedanklichen Gehalt, seiner Stellung im Werk D'Annunzios verdankt. Die Adaption des Stoffes ist zu einer genuinen Anverwandlung geworden. Visconti zieht die Geschichte von der Unschuld in seine Abschiedsgeste an eine versunkene Welt mit ein.“ (Eberhard Rathgeb, „Zu groß für die Möbel, zu klein für den Palast“ über D’Annunzios Roman „L‘innocente“ in der FAZ vom 14.10.1997)

Doch nicht allein der Abgesang auf den Adel und seine Begleiterscheinungen trieb Visconti an, der wie gewohnt gemeinsam mit Suso Cecchi D’Amico und Enrico Medioli das Drehbuch verfasste, sondern die Essenz einer Denkweise, die den Prozess in Richtung faschistischer Diktatur weiter trieb. In diesem Sachverhalt verstärkte er nicht die Distanz zum Roman, sondern hob dessen Aktualität hervor – so oft Viscontis Filme in der Vergangenheit spielten, sein Antrieb lag immer in der Gegenwart.

Der Regisseur entschlackte nicht nur die Romanvorlage, um seine Intentionen deutlicher herauszuarbeiten, er wertete im Vergleich auch die beiden Frauenrollen Giuliana und Teresa Ruffo auf. Im Roman ist Giuliana schon zweifache Mutter, bevor sie von dem Geliebten schwanger wird – im Film ist ihr Sohn das erste Kind. Damit bekommt die Reaktion Tullios auf das „fremde Blut“ und Giulianas Verhalten einen exemplarischen Charakter. Die Tötung des Babys zerstört ihre gesamte gemeinsame Basis. Auch Teresa Ruffo hat als Geliebte eine herausragende Stellung, während Tullio bei D’Annunzio eine Vielzahl an Affären hat. Im Film besitzt sie dank ihrer Unabhängigkeit nicht nur großen Einfluss auf Tullio, sie wirkt ihm auch psychisch überlegen. Ihre Frage, warum die Männer die Frauen immer auf Händen tragen wollen anstatt sie an ihrer Seite gleichwertig zu akzeptieren, steht für die in dieser Phase beginnende Emanzipationsbewegung und damit für die Infragestellung eines überholten Männerbildes.

Im Roman wird die Story rückwirkend erzählt, aus der Ich-Perspektive eines Kindermörders, dem keine Gerichtsbarkeit droht, der sich aber mitzuteilen wünscht. Die Menschen in D'Annunzios Geschichten, meint Hugo von Hofmannsthal in seiner zeitgenössischen Reszension zum Buch, hätten einen "gemeinsamen Grundzug: jene unheimliche Willenlosigkeit, die sich nach und nach als Grundzug des in der gegenwärtigen Literatur abgespiegelten Lebens herauszustellen scheint, jenes Erleben des Lebens nicht als eine Kette von Handlungen, sondern von Zuständen".

Visconti wählte stattdessen die Distanz zu Tullio Hermil und beobachtete seine Verhaltensentwicklung wie unter einem Brennglas. Unverständlich ist die manchmal geäußerte Kritik am langsamen Erzähltempo des Films, denn die Entfaltung der Psyche des Tullio Hermil verläuft in schnellen und so spannenden wie unterhaltsamen Schritten - jeder Dialog, jede kleine Auseinandersetzung lässt das Bild einer Persönlichkeit zwischen übertriebenem Machismo, Minderwertigkeitskomplex und Selbstmitleid deutlicher hervortreten. Ein Charakterzug, der symbolisch für seine Zeit steht. Weder kannte D’Annunzio die Konsequenzen, noch nahm er eine kritische Haltung gegenüber seinem Protagonisten ein. Er betrachtete sein Verhalten als moralisches Experiment. Visconti urteilte dagegen aus der Erfahrung eines Jahrhunderts. Beide Frauen entziehen Tullio ihre Liebe. Sein Hass auf das unschuldige Kind lässt seine nach Außen behauptete Stärke als reine Makulatur erscheinen und nimmt ihm jeden Respekt. Dass er es am Ende erkennt und die Konsequenz daraus zieht, unterscheidet den Film von der Realität.

"L'innocente" Italien, Frankreich 1976, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi D'Amico, Enrico Medioli, Gabriele D'Annunzio (Roman), Darsteller : Laura Antonelli, Giancarlo Giannini, Jennifer O'Neill, Massimo Girotti, Marc Porel, Didier Haudepin, Rina Morelli, Laufzeit : 125 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luchino Visconti:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.