Inhalt:
Commissaire
Jean Letellier (Jean-Paul Belmondo) musste vor einem Jahr eine schwere Niederlage
einstecken, als dem erfolgsverwöhnten Ermittler ein Bankräuber entkam, dessen
Flucht zudem zivile Opfer forderte. Als er erfährt, dass sich Marcucci (Giovanni
Cianfriglia) wieder in Paris aufhält, verfolgt er fanatisch jeden Hinweis,
weshalb er den Tod einer jungen Frau (Lea Massari), die offensichtlich zu Tode
erschreckt aus ihrer Wohnung stürzte, nicht besonders ernst nimmt.
Nur widerwillig folgt er den Anweisungen seines Chefs (Jean Martin),
einen Mann ausfindig zu machen, der die Frau zuvor am Telefon bedroht hatte. An
Hand weiterer Anzeigen von Frauen, die sich ähnlich belästigt fühlten,
versuchen er und seine Männer die Spur von „Minos“ (Adalberto Maria Merli) aufzunehmen,
der öffentlich damit prahlt, die Frauen wegen ihrer Unmoral bestrafen zu
wollen. Bisher hat er noch keinen Mord begangen, weshalb Letellier ihn für
einen Spinner hält, aber dann kommen er und Inspekteur Moissac (Charles Denner) zu spät zu einer
der Frauen…
Der französische Regisseur Henri Verneuil pflegte einen engen Kontakt zur
italienischen Filmindustrie - nicht nur hinsichtlich der Tatsache, dass der
Großteil seiner Filme als italienisch-französische Co-Produktionen entstand und
er namhafte italienische Darsteller besetzte, sondern auch thematisch lassen
sich Parallelen feststellen. "Le clan des Siciliens" (Der Clan der
Sizilianer, 1969)) über das organisierte Verbrechen und der Polit-Thriller "I... comme Icare" (I wie Ikarus,
1979)) waren jeweils auf der Höhe ihrer Zeit. "Peur sur la ville"
(Angst über der Stadt) entstand 1975 auf dem Zenit des "Polizieschi all'italiana", als hohe Kriminalitätsraten und terroristische Anschläge
Italien erschütterten. Diese Aktualität lässt sich an dem italienischen
Verleih-Titel "Il poliziotto della brigata criminale" ablesen, der
den Polizei-Charakter des Films noch betonen sollte, aber trotz diverser
inhaltlicher Übereinstimmungen - ein eigenmächtig vorgehender Kommissar, ein
rücksichtsloser Mörder, die Zivilbevölkerung bedrohende Schusswechsel und wilde
Verfolgungsjagden - zeigt "Peur sul la ville" anschaulich den enormen
Unterschied zwischen dem französischen und italienischen Kriminalfilm dieser Hochphase
gesellschaftlicher Spannungen Mitte der 70er Jahre.
Der Beginn, mit dem Verneuil den italienischen Genre-Vertretern noch ganz
nah kam, ist reinste Paranoia. Während die Kamera von oben über das nächtliche
Paris streift oder verlassen wirkende, von Lichtreklame und spärlich
beleuchteten Geschäftshäusern gesäumte Straßen einfängt, erklingt Ennio
Morricones ins Atonale abgleitende rhythmische Musik, die eine gespenstisch
bedrohliche Atmosphäre erzeugt. Und damit den passenden Hintergrund für die
erste Szene um die italienische Schauspielerin Lea Massari („L’avventura“ (Die
mit der Liebe spielen, 1960)) abgibt, die vor Angst stirbt, ohne das der Täter
selbst eingreifen muss. Ein makabres Spiel mit den Emotionen, die Verneuil eng
mit einer modernen, kalt wirkenden Architektur verband. Eine schöne Frau fällt
aus dem Stockwerk eines hohen Wohnturms - symbolisch für eine soziale
Entwicklung stehend, die die traditionellen Geschlechterrollen und damit den
Umgang mit der Sexualität aushebelte. Das zentrale Thema des Films.
Ohne die sich seit den 60er Jahren vehement verändernde Sozialisation wären
auch die „Polizieschi“ nicht vorstellbar gewesen, aber diese leisteten sich
nicht mehr den Luxus, eines allein vorgehenden psychopathischen Mörders – ein
klassisches Motiv des Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre aktuellen „Giallo“ -
sondern ließen ihre Ermittler vor dem breiten Hintergrund eines kriminell
aufgeheizten Klimas agieren, das unmittelbar auf die mafiösen Strukturen und die
politischen Auseinandersetzungen im Land anspielte. Dieser gesamtgesellschaftliche
Aspekt fehlte zwar in „Peur sur la ville“, aber auch Verneuil hob die Morde an
allein stehenden, sich angeblich promiskuitiv verhaltenden Frauen aus der
Anonymität eines Einzeltäters heraus. Der äußerlich unauffällige Mann, dessen
Identität Verneuil früh preisgibt, nennt sich selbst „Minos“ – nach einer Figur
aus der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri, einem zentralen Werk der
italienischen Literatur – und versteht sich als Rächer einer wachsenden Amoral,
weshalb er mit Informationen über seine Motive und Taten auch an die Presse
geht.
Damit griff der Film eine Mitte der 70er Jahre aktuelle Diskussion auf,
als die Emanzipation, verbunden mit einer liberaleren sexuellen Haltung, in Großstädten
wie Paris zwar schon fortgeschritten, die gesamte Entwicklung aber noch fragil
und erheblichen Anfeindungen ausgesetzt war. Aus heutiger Sicht verhalten sich
die von „Minos“ bedrohten ungebundenen Frauen in jeder Hinsicht normal - sie
haben Affären mit verheirateten Männern oder erneuten sexuellen Kontakt nach dem
Tod ihres Ehemanns – aber Verneuil lässt aus den Worten eines Psychologen, der für
„Minos“ Verständnis aufbringt, erkennen, dass dieser mit seiner ablehnenden
Reaktion damals nicht allein stand. Eine weitere Betonung dieser Ambivalenz
vermied der Regisseur durch die Charakterisierung und Besetzung der beiden
Gegenspieler - Adalberto Maria Merli legte den Killer zwischen
Minderwertigkeitskomplex und Wahnsinn an, weshalb er auch zur Entstehungszeit
des Films nicht als Identifikationsfigur diente, und Jean-Paul Belmondo als
ermittelnder Kommissar Jean Letellier ist eben Jean-Paul Belmondo.
Belmondo übte sich in „Peur sur la ville“ im Gegensatz zu vielen späteren ähnlich angelegten Filmen noch in Zurückhaltung und blieb
jederzeit ernsthaft in seiner Rolle, aber die damalige vor allem von der
seriösen Presse geäußerte Kritik an seiner eigenmächtigen Vorgehensweise als
Polizist lässt sich nur mit der großen Popularität des damaligen
Kino-Superstars erklären und dem damit verbundenen hohen Identifikationspotential.
Im Vergleich zu einem von Maurizio Merli gespielten Commissario fiel Belmondo mehr
durch Action als brutale Konsequenz auf. Die gesamten Szenen um den Bankräuber
Marcucci (Giovanni Cianfriglia), der Letellier ein Jahr zuvor entkommen konnte,
haben nur den Zweck, Belmondo die Gelegenheit für sportliche Höchstleistungen
bei einer wilden Verfolgungsjagd zu bieten – ein Können, dass er auch bei der
langen Sequenz mit Minos auf den rutschigen Pariser Dächern beweist, als ihm
die Kugeln um den Kopf fliegen, er aber immer noch genügend Power hat, sich an
den Dachrinnen entlang zu hangeln. Diese authentischen Stunts haben ihre
Wirkung bis heute nicht verloren, aber die Szenen, in denen er gemeinsam mit
seinem Partner, Inspektor Moissac (Charles Denner), unrechtmäßig Druck auf
Verbrecher ausübt, wirken auch dank Belmondos lässigen Spiels inzwischen
beinahe harmlos. Selbst Jean Martin, der vehement die Rolle Frankreichs im
Algerienkonflikt kritisierte und wichtige Rollen in „La battaglia di Algeri“
(Schlacht um Algier, 1966) und „The day of the jackal“ (Der Schakal, 1973) übernahm,
tritt als Letelliers Vorgesetzter Sabin gemäßigt auf.
Henri Verneuil gelang damit die Gratwanderung zwischen populärem Actionkino und
einer von Angst bestimmten Atmosphäre, die er mit kalten Großstadtbildern,
unterlegt mit Morricones Filmmusik, erzeugte. Bis heute macht dieser zwischen
diesen Polen changierende, manchmal inkonsequent wirkende Eindruck, die eigentliche Faszination des Films aus.
"Peur sur la ville" Italien / Frankreich 1975, Regie: Henri Verneuil, Drehbuch: Henri Verneuil, Jean-Paul Rappeneau, Darsteller : Jean-Paul Belmondo, Charles Denner, Alberto Maria Merli, Lea Massari, Jean Martin, Rosy Varte, Laufzeit : 121 Minuten