Inhalt: Während im TV noch Bilder der Verabschiedung der
vierköpfigen Film-Crew gezeigt werden, darunter der optimistische Regisseur
Alan (Carl Gabriel York) und seine Lebensgefährtin Faye (Francesca Fijardi),
gelten sie schon lange als vermisst. Sie wollten im ostasiatischen Dschungel einen
Dokumentarfilm über einen noch von der Zivilisation unberührten Eingeborenen-Stamm
drehen, bei dem es sich um Kannibalen handeln soll, doch inzwischen fehlt jede
Spur von ihnen.
Der Anthropologie-Professor Monroe (Robert Kerman) erklärt
sich bereit, nach ihnen zu suchen und begibt sich in das gefährliche
Dschungelgebiet, wo ihm ein erfahrener Führer zur Seite gestellt wird. Schnell
muss Monroe erfahren, dass seine Vorstellungen von Moral und Empathie hier
keine Rolle spielen – als sie sich schon in der Nähe des Stammes befinden, wird
er von seinem Begleiter dazu gezwungen, tatenlos zuzusehen, als ein Mann seine
Frau erst vergewaltigt und dann tötet. Seinem Gespür für die Verhaltensweisen
der Eingeborenen ist es aber zu verdanken, dass er ihr Vertrauen gewinnt, und
so mit dem Schicksal der Film-Crew konfrontiert wird…
Auf Grund des vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrads, über
den die wenigen aus italienischer Produktion stammenden
"Kannibalismus" - Filme noch heute verfügen, hat sich der Eindruck
einer kurzen, verdichteten Genre-Phase manifestiert, die als extremster
Ausschlag einer Entwicklung gilt, mit der die finanziell angeschlagene
italienische Filmindustrie, Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, versuchte, der
wachsenden Konkurrenz aus Hollywood mit einer zunehmenden Gewaltspirale und
bewussten Provokationen Paroli zu bieten (siehe "Das italienische Kino frisst sich selbst"). Ruggero Deodatos "Cannibal Holocaust" (Nackt
und zerfleischt) gebührt innerhalb des Genres der fragwürdige Ehrenplatz des
gewalttätigsten und kontroversesten Films, dessen gesellschaftskritische
Relevanz jeweils nach Standpunkt zwischen einem vorgeschobenen Deckmantel für
den blutrünstigen Inhalt und einer intelligenten Abrechnung mit der modernen
(Medien)Gesellschaft angesiedelt wird. Gemein ist den gegensätzlichen Haltungen
in der Regel die Ablehnung der im Film detailliert gezeigten Tiertötungen, die
ganz generell die Frage aufwerfen, ob die exzessive Gewalt für eine kritische
Botschaft notwendig ist oder nur plakative Sensationsgelüste bedient?
I. Die 70er Jahre: Der Vietnam-Krieg und die neue
Medienlandschaft
So wie Umberto Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ (Mondo
Cannibale, 1972) nur dank des deutschen Verleihtitels den Status eines
Kannibalenfilms erhielt – innerhalb der Abenteuerfilmhandlung vor exotischer
Kulisse nimmt die Kannibalismus-Thematik nur einen kurzen Randaspekt ein - gibt
es für „Cannibal Holocaust“ kein direktes Vorbild. Autor Gianfranco Clerici griff
zwar auf Details des von ihm mit verfassten Drehbuchs zu Deodatos erstem
Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“ (Mondo Cannibale 2 – der
Vogelmensch, 1977) zurück, ließ aber sowohl aktuelle Film-Strömungen, als auch die
gesellschaftspolitische Entwicklung in Folge des Vietnamkrieges einfließen, der
heute als erster „Medien-Krieg“ gilt. Regisseur Sidney Lumet hatte die
Auswirkungen einer nur an Zuschauerzahlen orientierten, immer rücksichtloser
vorgehenden Sensations-Berichterstattung im Fernsehen schon 1976 in „Network“
thematisiert, aber Clerici und Deodato gelang es, dessen satirischen, im Stil
einer Dokumentation vorgetragenen Gestus so mit den Motiven des Abenteuer- und
„Mondo“-Films zu kombinieren, dass ein vollständig neues Konzept daraus entstand.
Seitdem der Erfolg von „Blair Witch Projekt“ (1999) in
regelmäßigen Abständen neue „Found Footage“-Filme in die Kinosäle spült, hat
die Mär eines aufgefundenen, noch rohen Filmmaterials, das Auskunft über seinen
Erzeuger und seine Begleiter geben kann, etwas an Faszination verloren, aber in
„Cannibal Holocaust“ wurde dieses Stilmittel nicht nur erstmals in einem
Langfilm eingesetzt, sondern so geschickt inszeniert, dass es dem Film ab der
Laufzeitmitte eine vollständige Wendung gibt. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die
Handlung bewusst konventionell – vier Menschen, die im Dschungel einen
Dokumentarfilm drehen wollten, kehren nicht mehr zurück, weshalb sich der
Anthropologe Professor Monroe (Robert Kerman) auf den Weg in die noch
unerforschten Gefilde macht, um deren Schicksal in Erfahrung zu bringen. Sowohl
„La montagna del dio cannibale“ (Die weiße Göttin der Kannibalen, 1978), als
auch „Mangiati vivi!“ (Lebendig gefressen, 1980), der ebenfalls mit Robert
Kerman in der Hauptrolle nur wenige Wochen nach „Cannibal Holocaust“ in die
italienischen Kinos kam, wählten eine vergleichbare Ausgangssituation.
Das galt auch für den anfänglichen Charakter des Films, der
aus dem zivilisatorischen Blickwinkel erzählt wird und damit den Betrachter in
Sicherheit wiegt. Professor Monroe bekommt einen erfahrenen Dschungel-Führer an
die Seite gestellt, der weiß, wie er mit den wilden Tieren und den Eingeborenen
umzugehen hat – das klassische Klischee des harten Kerls, der den Professor
zwingt, nicht einzugreifen, als ein Stammesmitglied seine Frau erst
vergewaltigt und dann brutal erschlägt. Dem Anthropologen Monroe wiederum
gelingt es, nachdem sie das Dorf der Kannibalen erreicht hatten, deren
Vertrauen zu gewinnen. Er entkleidet sich und lässt sich auf ihre Lebensweise
ein, darunter auch der Verzehr von Menschenfleisch. Eine Szene, in der die
Frauen seinen Körper untersuchen und an seinem Penis ziehen, zitiert
unmittelbar Deodatos ersten Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“, dessen
Anlage wesentlich komplexer wirkte in dem Versuch, tiefer in das archaische
Verhalten der Eingeborenen einzudringen.
Dagegen erscheint „Cannibal Holocaust“ zu Beginn als
typischer Abenteuerfilm in der Tradition von „Il paese del sesso selvaggio“, in
dem die Eingeborenen nicht über die Rolle des exotischen Grusel-Beiwerks aus
Sicht des westlichen Kulturkreises hinauskamen. Eine Sichtweise, die sowohl
Sergio Martinos „La montagna del dio cannibale“, als auch Joe D’Amatos
„Emanuelle e gli ultimi cannibali“ (Nackt unter Kannibalen, 1977) eigen ist –
den beiden einzigen Kannibalen-Filmen, die zwischen Deodatos zwei Genre-Werken
herauskamen. Von einer verdichteten Genre-Phase kann angesichts der
gleichzeitigen Massenproduktion der italienischen Filmindustrie keine Rede
sein, ganz abgesehen davon, dass drei Jahre Abstand zwischen zwei thematisch
verwandten Filmen damals einer Ewigkeit gleich kamen. Umberto Lenzi drehte allein
zwischen 1975 und 1978 sieben Polizieschi und legte 1980 und 1981 noch zwei Kannibalen-Filme
nach. Daran wird viel mehr deutlich, dass Deodato und Autor Clerici mit ihrem
zweiten Film auf die generelle Medien-Entwicklung der letzten Jahre reagierten,
möglicherweise erst dadurch motiviert wurden, sich ein zweites Mal dem Genre zu
widmen.
II. Der Perspektivwechsel
Die Intelligenz der Inszenierung zeigt sich nicht allein im damals
neuartigen Stilmittel „Found Footage“ – Professor Monroe erhält im
Tauschgeschäft die Filmaufnahmen der vier getöteten Dokumentarfilmer – das die zweite
Hälfte des Films prägt, sondern mehr noch in einem fast unmerklich vorgenommenen
Perspektivwechsel. Vordergründig ändert sich nur wenig. Wurde die erste
Handlungshälfte aus dem Blickwinkel des Professors betrachtet, nimmt die Kamera
nun die Sicht der vier Dokumentarfilmer ein. Es bleibt bei einer von außen
kommenden Perspektive auf den Eingeborenen-Stamm, nur wird die Distanz zwischen
Betrachter und Story langsam zerstört, indem der Zuschauer an die Seite des
Professors gestellt wird, der die Aufnahmen für die Veröffentlichung in einer
TV-Sendung prüfen soll. Damit wird dem Betrachter eine doppelte Perspektive aufgezwungen
– die des Voyeurs, der den Unterhaltungswert einschätzen soll, und die des
Kamerateams, dessen wahre Beweggründe sich zunehmend offenbaren.
Deren menschenverachtendes, rücksichtloses Vorgehen, nur um
einen möglichst sensationellen Bericht verkaufen zu können, entsprach der schon
in „Network“ formulierten Kritik. Die angebliche zivilisatorische Überlegenheit
gegenüber dem Naturvolk hatte Deodato selbst zuvor in seinem „Ultimo mondo cannibale“ als fragile Hülle entlarvt. In „Cannibal Holocaust“ ging er darüber
hinaus. Er zielte auf den Konsumenten ab, auf dessen Erwartungshaltung und Urteil.
Sowohl die Bilder des Vietnamkrieges, die TV-Jagd nach Sensationen oder die
„Mondo“-Filme und ihre Ableger dienten trotz des darin verbreiteten „realen“ Schreckens
vor allem der Unterhaltung, beließen den Betrachter immer auf der heimischen
Couch oder dem bequemen Kinosessel, von wo aus es sich aus sicherer Distanz
gruseln ließ. Am Ende des Films existiert diese Distanz nicht mehr, verliert
die Gewalt-Orgie jeden Unterhaltungs-Charakter, da eine Parallelität zwischen
Sensations-Geilheit und Betroffenheit entsteht – der Zuschauer wird gleichzeitig
zum Opfer und Täter.
III. Notwendigkeit von Gewaltdarstellungen
Diese Intention des Films lässt sich an vielen Details
ablesen, besonders hervorstechend an Riz Ortolanis‘ Filmmusik, die nicht
zufällig eine direkte Verbindung zu „Mondo cane“ (1962) herstellte. Die
Schönheit seiner Empathie erzeugenden Musik steht im starken Kontrast zu den
Ereignissen auf der Kinoleinwand – mit diesem Effekt arbeiteten schon die
Macher von „Mondo cane“ - und steigert
damit die Fallhöhe zwischen moralischem Anspruch und der Realität menschlicher
Abgründe. Während dieses Stilmittel als unstrittig gilt, werden die detailliert
gezeigten, realen Tiertötungen fast ausschließlich abgelehnt, obwohl deren Art
der Inszenierung ebenfalls als Reaktion auf die „Mondo“-Filme und ihre
Nachfolger zu verstehen ist. Weder zeigt „Cannibal Holocaust“ Aufnahmen einer
brutalen Tierwelt - gemäß dem beliebten Motto „Fressen und gefressen werden“ -
noch Opfer-Rituale oder bewusst von Menschen angestrengte Tierkämpfe, wie sie in
„Mondo Cane“ oder Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ selbstverständlich
vorkamen. Einzig zur Nahrungsaufnahme werden die Tiere durch Menschen getötet –
eine millionenfache tägliche Selbstverständlichkeit.
Das allein hätte die schrecklichen Bilder nicht gerechtfertigt,
aber erst die Kombination aus Realität und den gestellten Aufnahmen exzessiver
Gewalt, besonders gegenüber Frauen, führt zu dem notwendigen Distanzverlust des
Betrachters, um ein entspanntes Sehvergnügen zu verhindern. Sicherlich lässt
sich je nach persönlicher Sensibilität über einzelne Szenen diskutieren, aber
für die Intention des Films sind die Gewaltdarstellungen zwingend notwendig,
wie sie – nicht weniger umstritten - auch Pier Paolo Pasolini in „Salò o le 120 giornate di Sodoma" (Die 120 Tage von Sodom, 1975) vorsah. Es wird immer
Betrachter geben, die sich an den extremen Gewaltaufnahmen delektieren und den
Film nicht näher an sich heranlassen, so wie die Intention intellektuell auch ohne
die schockierenden Szenen zu verstehen ist. Aber sowohl Pasolini, als auch Deodato
genügte keine theoretische Abhandlung, kein bequemes selbstkritisches
Geplänkel, sie wollten die menschlichen Abgründe körperlich erfahrbar werden
lassen, wie ein Schlag in die Magengrube. Wer einmal „Cannibal Holocaust“
gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr – allein die Erinnerung daran, treibt die
Tränen in die Augen.
"Cannibal Holocaust" Italien 1980, Regie: Ruggero Deodato, Drehbuch: Gianfranco Clerici, Darsteller : Robert Kerman, Carl Gabriel Yorke, Francesca Ciardi, Perry Pirkanen, Luca Barbareschi, Laufzeit : 92 Minuten
Der Film lief in der deutschen Kinofassung beim 5. Forumtreffen "Deliria Italiano" in Nürnberg vom 10. bis 11.10.2014
Der Film lief in der deutschen Kinofassung beim 5. Forumtreffen "Deliria Italiano" in Nürnberg vom 10. bis 11.10.2014
weitere im Blog besprochene Filme von Roggero Deodato:
"Zenabel" (1969)
"Ultimo mondo cannibale" (1977)
"Zenabel" (1969)
"Ultimo mondo cannibale" (1977)