Inhalt: Während
Piera (Giovanna Ralli) tanzt, kommt Luisa (Anouk Aimée) in den Nachtclub, geht
zu ihr auf die Tanzfläche und gibt ihr eine Ohrfeige. Piera läuft daraufhin so
schnell sie kann zu ihrem Auto, gefolgt von Luisa, erreicht ihre mondäne Villa
rechtzeitig und reagiert nicht auf ihr heftiges Klingeln an der Tür, sondern
wartet in der Dunkelheit sitzend darauf, dass Luisa sich wieder entfernt.
Sie nimmt
ihr Tagebuch, liest wenige Zeilen und schmeißt es in das Feuer ihres Kamins.
Trotzdem kommen ihre Erinnerungen wieder hoch und sie sieht sich jung
verheiratet mit Andrea Fabbri (Paul Guers), dem sie versucht eine gute Ehefrau
zu sein...
Der
Filmemacher Paolo Spinola, der mit Mitte 30 erstmals in "La fuga"
(Liebe im Zwielicht) Regie führte, ist heute nahezu vergessen. Schon früh ging
er nach Rom zur "Cine Città" und arbeitete seit "Il mondo le
condanna" (Die von der Liebe leben, 1953) mehrfach als Regie-Assistent,
bevor er bei "Agguato a Tangeri" (Brennpunkt Tanger) auch am Drehbuch
mitwirkte. Nach "Racconti d'estate" (Sommererzählungen, 1958) brach
seine Filmkarriere ab und es dauerte 6 Jahre, bis es in den 60er Jahren zu
einer kurzen erfolgreichen Phase mit den drei Filmen "La fuga",
"L'estate" (Ein Sommer zu Dritt, 1966) und "La donna
invisibile" (1969) kam. Von seinem letzten, beinahe zehn Jahre später
gedrehten Film "Un giorno alla fine di ottobre" (1977), ist nicht
einmal mehr bekannt, ob er in die italienischen Kinos kam.
An "La
fuga" wirkten mit Giovanna Ralli als Hauptdarstellerin und Drehbuchautor
Sergio Amidei zwei Protagonisten des im selben Jahr von Carlo Lizzani fertig
gestellten Films "La vita agra" (1964) mit, der nach der heutigen
Meinung einer Expertenrunde zu den wichtigsten 100 Filmen Italiens zählt.
Giovanna Ralli hatte zuvor unter anderen in "Il generale Della
Rovere" (Der falsche General, 1959) und "Era notte a Roma" (Es
war Nacht in Rom, 1960) unter der Regie von Roberto Rossellini gespielt,
ebenfalls nach Drehbüchern von Amidei, der als Autor vieler früher Rossellini-Filme
prägend für den Neorealismus wurde ("Roma, città aperta" (Rom, offene
Stadt, 1945)) und mit Antonio Pietrangeli zusammenarbeitete, der früh ein
komplexes Frauenbild zeichnete. Für ihre Verkörperung der Piera in "La
fuga" gewann Giovanna Ralli, die später auch im Italo-Western ("Il
mercenario" (1968)) und im Polizieschi ("La polizia chiede aiuto" (Der Tod trägt schwarzes Leder, 1974)) reüssierte, das
"Silberne Band" als beste Hauptdarstellerin des Jahres 1964.
Auch die
weitere Besetzung von "La fuga" erfüllte höchste Ansprüche, denn mit
Anouk Aimée ("La dolce vita" (Das süße Leben, 1960)), Enrico Maria
Salerno, Paul Guers oder Guido Alberti standen Spinola renommierte Darsteller
zur Verfügung. Ebenso bemerkenswert sind die beiden Kameramänner Armando
Nannuzzi und Marcello Gatti, die "La fuga" in expressive, betörende
Schwarz-Weiß-Bilder tauchten, die nicht nur die Schönheit der beiden
Protagonistinnen unterstrichen, sondern auch das damals gerade fertig gestellte,
südlich von Rom bei Latina liegende, erste Kernkraftwerk Italiens in seiner
industriellen Urgewalt einfingen. Gatti, noch am Anfang seiner Karriere, wurde
später zum ständigen Begleiter von Gillo Pontecorvo ("La battaglia di Algeri" (Die Schlacht um Algier, 1966)), während Nannuzzi zuerst intensiv
mit Antonio Pietrangeli ("Io la conoscevo bene" (Ich habe sie gut
gekannt, 1965)) zusammenarbeitete, bevor er später zum Art-Direktor für
Photographie bei Luchino Visconti wurde ("La caduta degli dei"
(Götterdämmerung, 1969)).
Obwohl
"La fuga" diese qualitativen Rahmenbedingungen jeden Augenblick
anzumerken sind, verschwand der Film schnell in der Versenkung einer Phase,
Mitte der 60er Jahre, in der sich erotische Darstellungen, Geschlechterrollen
und moralische Standards so schnell änderten, dass ein Film nur wenige Jahre
nach seinem Erscheinen als veraltet galt. „La fuga“ erinnert in seiner
Ästhetik, dem modernen Italienbild und dem Hintergrund einer wohlhabenden
Gesellschaftsschicht, nicht zufällig an Michelangelo Antonionis Trilogie,
bestehend aus „L’avventura“ (1960), „La notte“ (1961) und „L’eclisse“ (1962),
verfügt aber nicht über dessen abstrahierende Erzählform, sondern versuchte sich
mit einer verschachtelnden, von zwei gegensätzlichen subjektiven Standpunkten ausgehenden
Erzählweise, umfassend dem Charakter einer Frau zu nähern.
Nach einer
kurzen Eingangssequenz, in der Piera (Giovanna Ralli) vor Luisa (Anouk Aimée)
in ihr Haus floh, nachdem diese sie in einem Nachtclub auf der Tanzfläche
geohrfeigt hatte, entspricht die erste Hälfte des Films den Tagebucheintragungen
Pieras, in der sie ihre persönliche Sicht über ihre Ehe, ihre Mutterrolle (sie
bekommt einen Sohn), ihre Eltern und Luisa schildert, bevor in der zweiten
Hälfte ihr Psychoanalytiker (Enrico Maria Salerno) seine Sicht auf ihr Leben wiedergibt,
die er sich während der Gespräche mit Piera gebildet hatte – erst spät wird
deutlich, dass die Eingangssequenz zeitlich dazwischen angesielt ist. Dank
dieser sich puzzleartig zusammensetzenden Analyse kann „La fuga“ das Interesse
an der Figur „Piera“ ständig hochhalten, zudem sich der Film nicht gezwungen
sieht, jede Wendung zu konkretisieren, sondern Raum lässt für individuelle
Interpretationen.
Unmissverständlich
ist dagegen die Funktion des Kernkraftwerks, in dem Pieras Mann Andrea (Paul
Guers) als leitender Physiker arbeitet. Ähnlich wie Michelangelo Antonioni, der
in „Il deserto rosso“ (Die rote Wüste, 1964) zerstörerische Parallelen zwischen
einer wachsenden Industrialisierung und einer sich wandelnden Sozialisation zog,
ging auch Spinola in „La fuga“ auf Distanz zu der fortschreitenden
Technologisierung. So ästhetisch die Bilder des Ehrfurcht gebietenden
Kernkraftwerks, eines supermodernen Flughafens oder Pieras schicker Villa, in
der die Garage wie ein Wohnraum integriert ist, gelungen sind, so stehen sie
symbolisch für die zunehmende Entfremdung der Menschen. In Anbetracht der zur
Entstehungszeit des Films sehr optimistischen Haltung gegenüber der Atomkraft
als Zukunftstechnologie, überrascht zudem Spinolas ironischer Blick. Während
Andrea seiner Frau bei einem Rundgang die Anlage erklärt und dabei auf die
Gefahrlosigkeit der Wasserbäder hinweist, in der die Brennstäbe gekühlt werden
– außer es fällt Jemand hinein, wie er halb scherzhaft hinzufügt - erfasst die
Kamera parallel das Warnschild, auf dem die Mitarbeiter hingewiesen werden,
sich nicht länger als zwei Stunden an diesem Ort aufzuhalten.
Ob „La
fuga“ damals mit dieser Sichtweise provozierte - immerhin bekam die Crew die
Dreherlaubnis in dem Kernkraftwerk – lässt sich heute nur noch schwer
feststellen, aber mit der angedeuteten lesbischen Liebesbeziehung zwischen
Piera und Luisa verstieß der Film sicherlich gegen ein Tabu. Eingebettet wird
die in zurückhaltenden ästhetischen Bildern gezeigte Annäherung der beiden
Frauen in einen stark psychologisierenden Zusammenhang, der Piera als eine Frau
aus besten Verhältnissen zeigt – schön, reich, künstlerisch talentiert,
verheiratet mit einem intelligenten, erfolgreichen Mann und Mutter eines Sohnes
– die trotzdem unglücklich ist. Ihre Eltern haben sich früh getrennt (sind aber
noch verheiratet, da Scheidungen erst 1969 in Italien legitimiert wurden). Ihre
Mutter ist dominant, geschäftlich erfolgreich und von jungen Liebhabern
umgeben, während sich ihr spendabler Vater (Guido Alberti) von jungen Frauen
über den Tisch ziehen lässt. Pieras Mutter bezeichnet ihre Tochter als frigide
und sie selbst zweifelt an ihren Qualitäten als Ehefrau und Mutter. Luisa, die
Piera über ihre Mutter kennenlernt, verkörpert dagegen den Typus der
erfolgreichen Geschäftsfrau ohne Mann und Kinder, und gilt in den Augen ihrer
Umgebung als egoistisch und berechnend.
Es ist dem
Film hoch anzurechnen, sich den beiden Frauen mit Sympathie zu nähern, aber er
umgibt die Thematik mit so vielen Klischees, dass es schwer fällt, dessen
Essenz herauszufiltern – womit er jedem Betrachter die Möglichkeit belässt, an
bestehenden Vorurteilen festzuhalten. Luisas Ohrfeige zu Beginn war eine
enttäuschte Reaktion auf die Zurückweisung durch Piera. Dass diese - nicht in der Lage auf Luisa zuzugehen und
ihre Gefühle auszuleben - sich daraufhin umbringt, lässt der Film nur
andeutungsweise in seiner zweiten Hälfte durchblicken, die von dem Versuch des
Psychologen geprägt ist, eine Erklärung dafür zu finden. In dessen stets
abwägenden Aussagen finden sich Kritikpunkte an den zementierten Vorurteilen
und Erwartungshaltungen einer konservativ geprägten Gesellschaft, gleichzeitig
kann er den Eindruck, bei Piera handelte es sich um eine verwöhnte und
verantwortungslose Tochter aus reichem Haus, nicht ganz verwischen.
Spinolas
Film ist es anzumerken, wie diffizil die Annäherung an eine lesbische
Liebesbeziehung war, die eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft und ihre
Geschlechterrollen in Frage stellte - auch der blödsinnige deutsche Titel weist
darauf hin. Wie gut ihm das trotz der aus heutiger Sicht abschwächenden Elemente
gelang, lässt sich daran ermessen, dass der ausgezeichnet gefilmte und
überzeugend gespielte "La fuga" (Die Flucht) vollkommen in Vergessenheit geriet – den beiden
Frauen galt seine Anteilnahme und die erotischen Aufnahmen befriedigten keinen
männlich geprägten Voyeurismus.
"La fuga" Italien 1964, Regie: Paolo Spinola, Drehbuch: Sergio Amidei, Piero Bellanova, Darsteller : Giovanna Ralli, Anouk Aimée, Paul Guers, Enrico Maria Salerno, Carole Walker, Guido Alberti, Laufzeit : 92 Minuten
"La donna invisibile" (1969)
weitere im Blog besprochene Filme von Paolo Spinola:
"La donna invisibile" (1969)
2 Kommentare:
Ich glaube, damals kam man als Drehteam noch leichter in ein Kernkraftwerk als heutzutage. Vito Pandolfi hat für seine Doku PROVINCIA DI LATINA auch in einem gedreht - wohl das selbe, von dem hier die Rede ist. Pandolfis Kameramann bei GLI ULTIMI war übrigens Nannuzzi, aber ich weiß nicht, ob er bei PROVINCIA DI LATINA auch an der Kamera war. Über diesen Film findet man nicht viel.
LA FUGA gibt es wohl nicht auf einer DVD mit Untertiteln?
Leider nicht - von Spinola habe ich nur noch die Originalfassung von "La donna invisibile", den ich demnächst auch hier besprechen werde. Das die Kernkraftwerke leichter zu besuchen waren, stimmt - man war damals noch ganz stolz auf die technische Errungenschaft. Ich erinnere mich, dass ich als etwa 10jähriger, Anfang der 70er Jahre, mit meinen Eltern mal eins in NRW besichtigte - das war noch im Bau, aber genaueres weiß ich nicht mehr - es ging glaub' ich nie ans Netz. Übrigens danke für den Tipp "Gli ultimi" - den Film kannte ich noch nicht.
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