Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Frenesia dell'estate (Verrückter Sommer) 1964 Luigi Zampa

Inhalt: Selene (Graziella Galvani) kommt mit dem Zug von der Arbeit aus Lucca und wird von ihrem Vater am Bahnhof des Badeorts Viareggio mit der Kutsche abgeholt. Von Ferienstimmung ist nichts zu merken, denn es regnet in Strömen, aber Selenes Bruder Manolo (Philippe Leroy) nutzt die Zeit für Reparaturen an seinem Eselskarren, mit dem er sonst am Strand Kinder herumfährt. Ihre Schwester Foschina (Gabriella Giorgelli) sollte eigentlich das Essen vorbereiten, aber sie streitet sich stattdessen eifersüchtig mit ihrem Freund Paolo (Giampiero Littera), der als Fotograf arbeitet – seine Kamera überlebt ihren Krach nur knapp.

Seine Filme entwickelt Paolo in einem Nachbarhaus, wo er sich eine Wohnung mit der allein stehenden, knapp 40jährigen Yvonne (Sandra Milo) teilt, die in den Vorbereitungen für ihre Backwaren steckt, die sie am Strand verkauft. Währenddessen erreicht Marcello (Amadeo Nazzari) Viareggio, um im zentralen Hotel der Stadt einzuchecken. Überall wird der elegante, souverän auftretende 50jährige als „Graf“ begrüßt“, als der er sich ausgibt. Tatsächlich arbeitet er als männliches Mannequin in der Show seiner Freundin, die täglich für die Touristen Mode vorführen lässt…


"Viareggio" - groß fängt die Kamera das Schild am Bahnhof ein, das von der Ankunft an einem der bekanntesten Badeorte Italiens an der Riviera kündet. Doch "Viareggio" ist auch ein Symbol für den soziologischen Wandel nach dem Krieg. Aus dem exklusiven Seebad der Vorkriegszeit wurde ein beliebter Ferienort für die italienische Bevölkerung. Im Sommer herrscht hier und in der nahe gelegenen toscanischen Stadt Lucca Hochbetrieb. Hotels, Restaurants, Vergnügungslokale und Attraktionen jeder Art sind wie Pilze aus dem Boden geschossen, um die Menschenmassen unterzubringen und zu unterhalten. Überfüllte Strände und nächtliche Touristenkolonnen sind die Folge, gepaart mit extremen Verhaltensweisen, wie sie wiederholt im italienischen Film thematisiert wurden - beispielhaft in Alberto Lattuadas "La spiaggia" (Der Skandal, 1954), aktueller in Dino Risis "Il sorpasso" (Verliebt in scharfe Kurven, 1962). Gemein ist diesen Filmen die Sezierung einer bürgerlichen Doppelmoral, die im Alltag die Einhaltung von Anstands-Regeln predigt, die am Urlaubsort außer Kraft gesetzt werden.

Kein ungewöhnliches Verhalten, dass aber auf Grund der stetig wachsenden Zahl an Feriengästen nach dem Krieg die gesellschaftlichen Prozesse hinsichtlich der Geschlechterrollen und der Sexualität beschleunigte. Entsprechend viele erotische Komödien spielen vor dem Hintergrund eines Urlaubszenarios („Peccato veniale“ (Der Filou, 1974)), da erst der dort vorhandene Freiraum die Möglichkeit von Tabubrüchen schuf, deren Alltagstauglichkeit nicht nachgewiesen werden musste. Auch umgingen die Macher so den Fallstricken der Zensur, da sie sich auf die Ausnahmesituation am Urlaubsort berufen konnten. Regisseur Luigi Zampa ging in „Frenesia dell’estate“ (Verrückter Sommer) den entgegengesetzten Weg. Ihn interessierten weniger die Gäste, die in seinem Film bis auf geringe Ausnahmen nur als gesichtslose Masse vorkommen, sondern die Menschen, die hier leben und/oder in den Ferienmonaten hier arbeiten. Für sie ist „Frenesia“ - übersetzt “Raserei“ oder „rasende Begierde“ – ihr Alltag.

„Eine sozialkritische Komödie des berühmten Italieners Luigi Zampa, die mit den großen Werken des Regisseurs nicht zu vergleichen ist, jedoch unverkennbar seine Handschrift aufweist. Leider siedelte er aber die kleinen Schicksale jener kuriosen Typen in Lucca bzw. Viareggio in zwei der Begegnungen zu einseitig lediglich bei deren sexuellen Beziehungen an. Deshalb nur etwas für verständige Erwachsene.“

Yvonne (Sandra Milo) kümmert sich um den spanischen Radfahrer
Diese keineswegs negative Aussage des „Evangelischen Filmbeobachters“ lässt zwei Haltungen dieser Zeit deutlich werden – die Geringerschätzung komödiantischer Stoffe gegenüber den ernsthaften „großen Werken“ und die Ablehnung einer scheinbar zu sehr in den Vordergrund gerückten Sexualität, die als reißerisch und spekulativ angesehen wurde.

Manolo (Philippe Leroy) will groß ins Geschäft einsteigen
Das ließ außer Acht, dass Luigi Zampa schon in seinen frühen Filmen Sozialkritik und unterhaltende Elemente eng miteinander verband - ein Grund dafür, warum etwa „L’onerevole Angelina“ (Abgeordnete Angelina, 1947) heute nur selten zum Kanon des Neorealismus gezählt wird. Zampa wechselte zwar regelmäßig ins dramatische Fach („La romana“ (Die freudlose Gasse, 1954)), blieb aber auch seiner komödiantischen Linie treu und gehörte neben Steno und Mario Monicelli zu den prägenden Köpfen der „Commedia all’italiana“ in den 50er Jahren. Ende des Jahrzehnts schrieb er die Drehbücher zu seinen Filmen gemeinsam mit Pasquale Festa Campanile und Massimo Franciosa („Ladri lui, ladri lei“ (Dieb hin, Dieb her (1958)) sowie Rodolfo Sonego („Il vigile“ (Der Schutzmann, 1960)), die wenige Jahre später zu wichtigen Wegbereitern der „Commedia sexy all’italiana“ werden sollten.

Nardoni (Vittorio Gassman) belügt seine Verlobte (Graziella Galvani)...
Zuvor legte Zampa mit „Frenesia dell’estate“ selbst schon einen frühen Meilenstein des erotischen Genres vor - gleichzeitig seine einzige direkte Zusammenarbeit mit Mario Monicelli und gewissermaßen auch mit Steno, hier vertreten durch dessen Leib- und Magen-Autoren Agenore Incrocci (Age) und Furio Scarpelli. Auch die Darstellerliste wies schon in Richtung „Commedia sexy“: Vittorio Gassman („L’amore difficile“ (Erotica),1962)), Sandra Milo ("Come imparai ad amare le donne" (Das gewisse Etwas der Frauen, 1966)) und Gabriella Gorgiella ("L'isola di Arturo" (Die Insel der verbotenen Liebe, 1962)) sowie „Angelique“-Darstellerin Michèle Mercier und Philippe Leroy („Les filles sèment le vent“ (Die Ernte der sündigen Mädchen, 1961)) gehörten zu prägenden Vertretern der sexuellen Liberalisierung im Kino der 60er Jahre.

...um mit seinen Kameraden nach Viareggio in die Travestie-Show zu gehen.
Wie in der Frühphase des erotischen Films üblich - gleichzeitig die Hochphase des Episodenfilms Mitte der 60er Jahre - war auch „Frenesia dell’estate“ episodenhaft angelegt. Um die zentralen Figuren – die Strandverkäuferin von Backwaren Yvonne (Sandra Milo), den Capitano einer in Lucca stationierten Armeeeinheit (Vittorio Gassman), Manolo (Philippe Leroy), der mit seinen Eseln Kinder herumkutschiert, aber von besseren Geschäften träumt, sowie dem männlichen Mannequin Marcello (Amadeo Nazzari) – entwickeln sich eigenständige Geschichten, die ineinander verwoben erzählt wurden und über Berührungspunkte verfügen, die Zampas Film einen einheitlichen Gesamteindruck verleihen. Nicht ohne Grund beginnt und schließt er mit einer Szene im Regen – sinnbildlich für den Anfang und das Ende eines Sommers, der Spuren hinterließ, obwohl äußerlich alles beim Alten blieb.

Dort lernt er Gigi (Michèle Mercier) kennen, die er für einen Mann hält
Capitano Mario Nardoni hat inzwischen seine langjährige Verlobte Selene (Graziella Galvani) geheiratet, deren Schwester Foschina (Gabriella Giorgelli) ist wieder mit dem Fotografen Paolo (Giampiero Littera) zusammen, mit dem sie sich in der ersten Szene des Films zerstritten hatte, und ihr gemeinsamer Bruder Manolo backt immer noch kleine Brötchen. Ein Eindruck, der täuscht. Die Prozesse sind nicht mehr aufzuhalten, auch wenn die Beteiligten versuchen, wieder zur Tagesordnung zurückzukehren. Während die amüsante Story um Yvonne, der ein spanischer Hinterbänkler des Giro d’Italia in den Verkaufswagen stürzt, worauf sie ihn mit zu sich nach Hause und ins Bett nimmt, eher harmlos der Frivolität frönt, greifen die Ereignisse um die Schwestern Foschina und Ninette tiefer in die sich verändernde Sozialisation.

Marcello (Amadeo Nazzari) macht sich an Foschina(Gabrielle Giorgelli) heran
Nach der Trennung von Paolo bändelt die junge Foschina mit dem viel älteren, gut aussehenden Marcello an, den sie als Freund ihres Bruders Manolo kennenlernte. Sie ahnt nicht, dass sich der so distinguiert auftretende Charmeur selbst zum Abendessen einlud, weil er komplett abgebrannt ist. Er hatte seinen Job bei der Modenschau geschmissen, weil seine Chefin und gleichzeitige Geliebte ihn nicht mehr in Bademoden auftreten ließ. Daraufhin hatte sie ihre Zahlungen an den in der Öffentlichkeit als Graf auftretenden Lebemann eingestellt. In der Begegnung von Foschina und Marcello treffen zwei sich gegensätzlich entwickelnde Geschlechterrollen aufeinander - hier die junge Frau, die beginnt, sich der Kontrolle ihres Vaters zu entziehen, dort der alternde Mann, der bis zur Lächerlichkeit an einem Status festhält, der längst nicht mehr existiert.

Der Veranstalter(Renzo Palmer) durchschaut, dass Gigi eine Frau ist
Neuland betraten Zampa und seine Autoren mit der Story um den Armee-Hauptmann Mario Nardoni, der schon lange mit Ninette verlobt ist, aber wenig Lust verspürt sie zu heiraten. Mit fadenscheinigen Argumenten bricht er eine Verabredung ab, um sich mit seinen Kameraden ins Touristen-Getümmel von Viareggio zu werfen. Sie besuchen eine Travestie-Show französischer Künstler, die sehr überzeugend als Frauen auftreten. Für Nardoni ein Spaß, der ihn zu ängstigen beginnt, als sich Gigi während der Show auf seinen Schoß setzt. Irritiert reagiert er auf dessen spielerische Annäherungen, da er sich angezogen fühlt. Nicht ahnend, dass es sich bei Gigi (Michèle Mercier) tatsächlich um eine Frau handelt, die spontan in Frankreich als Ersatz einsprang und zähneknirschend vom Veranstalter (Renzo Palmer) akzeptiert wurde – unter der Auflage, dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringen darf.

Gassman ist großartig als Mann, der an seinen sexuellen Präferenzen zu zweifeln beginnt und damit innerhalb der stark patriarchalisch geprägten italienischen Gesellschaft an seine Grenzen stößt. Seine Empörung gegenüber Gigi, der er mehrfach in der Öffentlichkeit wieder begegnet, steigert sich so sehr, dass er nicht mehr in der Lage ist, ihr nächtliches Geständnis, dass sie eine Frau ist, noch wahrzunehmen. Stattdessen verbringt er eine Nacht mit Ninette, um sich zu beweisen, dass er ein „richtiger“ Mann ist. Das Vorhaben gelingt erwartungsgemäß – mit dem Ergebnis, dass er die zudem noch geschwängerte Ninette heiratet. Ende gut, alles gut? – Kaum, wie sein abschließender Gesichtsausdruck vermittelt, nachdem ihm sein Schwager Manolo vom Geheimnis um Gigi erzählt hat. Äußerlich scheint alles beim Alten, aber die Geschlechter-Grenzen beginnen aufzuweichen, die Beziehungs-Strukturen verändern sich – die Lunte ist gelegt.

"Frenesia dell'estate" Italien, Frankreich 1964, Regie: Luigi Zampa, Drehbuch: Mario Monicelli, Agenore Incrocci, Furio Scarpelli, Piero De Benardi, Renzo Tarabusi, Raffaello Pacini, Leonardo Benvenuti, Folco Provenzale, Darsteller : Vittorio Gassman, Sandra Milo, Philippe Leroy, Michèle Mercier, Gabriella Giorgelli, Graziella Galvani, Amadeo Nazzari, Renzo Palmer, Umberto D'Orsi, Laufzeit : 105 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luigi Zampa:

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Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.