Montag, 29. Dezember 2014

Cannibal Holocaust (Nackt und zerfleischt) 1980 Ruggero Deodato

Inhalt: Während im TV noch Bilder der Verabschiedung der vierköpfigen Film-Crew gezeigt werden, darunter der optimistische Regisseur Alan (Carl Gabriel York) und seine Lebensgefährtin Faye (Francesca Fijardi), gelten sie schon lange als vermisst. Sie wollten im ostasiatischen Dschungel einen Dokumentarfilm über einen noch von der Zivilisation unberührten Eingeborenen-Stamm drehen, bei dem es sich um Kannibalen handeln soll, doch inzwischen fehlt jede Spur von ihnen.

Der Anthropologie-Professor Monroe (Robert Kerman) erklärt sich bereit, nach ihnen zu suchen und begibt sich in das gefährliche Dschungelgebiet, wo ihm ein erfahrener Führer zur Seite gestellt wird. Schnell muss Monroe erfahren, dass seine Vorstellungen von Moral und Empathie hier keine Rolle spielen – als sie sich schon in der Nähe des Stammes befinden, wird er von seinem Begleiter dazu gezwungen, tatenlos zuzusehen, als ein Mann seine Frau erst vergewaltigt und dann tötet. Seinem Gespür für die Verhaltensweisen der Eingeborenen ist es aber zu verdanken, dass er ihr Vertrauen gewinnt, und so mit dem Schicksal der Film-Crew konfrontiert wird…


Auf Grund des vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrads, über den die wenigen aus italienischer Produktion stammenden "Kannibalismus" - Filme noch heute verfügen, hat sich der Eindruck einer kurzen, verdichteten Genre-Phase manifestiert, die als extremster Ausschlag einer Entwicklung gilt, mit der die finanziell angeschlagene italienische Filmindustrie, Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, versuchte, der wachsenden Konkurrenz aus Hollywood mit einer zunehmenden Gewaltspirale und bewussten Provokationen Paroli zu bieten (siehe "Das italienische Kino frisst sich selbst"). Ruggero Deodatos "Cannibal Holocaust" (Nackt und zerfleischt) gebührt innerhalb des Genres der fragwürdige Ehrenplatz des gewalttätigsten und kontroversesten Films, dessen gesellschaftskritische Relevanz jeweils nach Standpunkt zwischen einem vorgeschobenen Deckmantel für den blutrünstigen Inhalt und einer intelligenten Abrechnung mit der modernen (Medien)Gesellschaft angesiedelt wird. Gemein ist den gegensätzlichen Haltungen in der Regel die Ablehnung der im Film detailliert gezeigten Tiertötungen, die ganz generell die Frage aufwerfen, ob die exzessive Gewalt für eine kritische Botschaft notwendig ist oder nur plakative Sensationsgelüste bedient?


I. Die 70er Jahre: Der Vietnam-Krieg und die neue Medienlandschaft

So wie Umberto Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ (Mondo Cannibale, 1972) nur dank des deutschen Verleihtitels den Status eines Kannibalenfilms erhielt – innerhalb der Abenteuerfilmhandlung vor exotischer Kulisse nimmt die Kannibalismus-Thematik nur einen kurzen Randaspekt ein - gibt es für „Cannibal Holocaust“ kein direktes Vorbild. Autor Gianfranco Clerici griff zwar auf Details des von ihm mit verfassten Drehbuchs zu Deodatos erstem Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“ (Mondo Cannibale 2 – der Vogelmensch, 1977) zurück, ließ aber sowohl aktuelle Film-Strömungen, als auch die gesellschaftspolitische Entwicklung in Folge des Vietnamkrieges einfließen, der heute als erster „Medien-Krieg“ gilt. Regisseur Sidney Lumet hatte die Auswirkungen einer nur an Zuschauerzahlen orientierten, immer rücksichtloser vorgehenden Sensations-Berichterstattung im Fernsehen schon 1976 in „Network“ thematisiert, aber Clerici und Deodato gelang es, dessen satirischen, im Stil einer Dokumentation vorgetragenen Gestus so mit den Motiven des Abenteuer- und „Mondo“-Films zu kombinieren, dass ein vollständig neues Konzept daraus entstand.

Seitdem der Erfolg von „Blair Witch Projekt“ (1999) in regelmäßigen Abständen neue „Found Footage“-Filme in die Kinosäle spült, hat die Mär eines aufgefundenen, noch rohen Filmmaterials, das Auskunft über seinen Erzeuger und seine Begleiter geben kann, etwas an Faszination verloren, aber in „Cannibal Holocaust“ wurde dieses Stilmittel nicht nur erstmals in einem Langfilm eingesetzt, sondern so geschickt inszeniert, dass es dem Film ab der Laufzeitmitte eine vollständige Wendung gibt. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Handlung bewusst konventionell – vier Menschen, die im Dschungel einen Dokumentarfilm drehen wollten, kehren nicht mehr zurück, weshalb sich der Anthropologe Professor Monroe (Robert Kerman) auf den Weg in die noch unerforschten Gefilde macht, um deren Schicksal in Erfahrung zu bringen. Sowohl „La montagna del dio cannibale“ (Die weiße Göttin der Kannibalen, 1978), als auch „Mangiati vivi!“ (Lebendig gefressen, 1980), der ebenfalls mit Robert Kerman in der Hauptrolle nur wenige Wochen nach „Cannibal Holocaust“ in die italienischen Kinos kam, wählten eine vergleichbare Ausgangssituation.

Das galt auch für den anfänglichen Charakter des Films, der aus dem zivilisatorischen Blickwinkel erzählt wird und damit den Betrachter in Sicherheit wiegt. Professor Monroe bekommt einen erfahrenen Dschungel-Führer an die Seite gestellt, der weiß, wie er mit den wilden Tieren und den Eingeborenen umzugehen hat – das klassische Klischee des harten Kerls, der den Professor zwingt, nicht einzugreifen, als ein Stammesmitglied seine Frau erst vergewaltigt und dann brutal erschlägt. Dem Anthropologen Monroe wiederum gelingt es, nachdem sie das Dorf der Kannibalen erreicht hatten, deren Vertrauen zu gewinnen. Er entkleidet sich und lässt sich auf ihre Lebensweise ein, darunter auch der Verzehr von Menschenfleisch. Eine Szene, in der die Frauen seinen Körper untersuchen und an seinem Penis ziehen, zitiert unmittelbar Deodatos ersten Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“, dessen Anlage wesentlich komplexer wirkte in dem Versuch, tiefer in das archaische Verhalten der Eingeborenen einzudringen.

Dagegen erscheint „Cannibal Holocaust“ zu Beginn als typischer Abenteuerfilm in der Tradition von „Il paese del sesso selvaggio“, in dem die Eingeborenen nicht über die Rolle des exotischen Grusel-Beiwerks aus Sicht des westlichen Kulturkreises hinauskamen. Eine Sichtweise, die sowohl Sergio Martinos „La montagna del dio cannibale“, als auch Joe D’Amatos „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ (Nackt unter Kannibalen, 1977) eigen ist – den beiden einzigen Kannibalen-Filmen, die zwischen Deodatos zwei Genre-Werken herauskamen. Von einer verdichteten Genre-Phase kann angesichts der gleichzeitigen Massenproduktion der italienischen Filmindustrie keine Rede sein, ganz abgesehen davon, dass drei Jahre Abstand zwischen zwei thematisch verwandten Filmen damals einer Ewigkeit gleich kamen. Umberto Lenzi drehte allein zwischen 1975 und 1978 sieben Polizieschi und legte 1980 und 1981 noch zwei Kannibalen-Filme nach. Daran wird viel mehr deutlich, dass Deodato und Autor Clerici mit ihrem zweiten Film auf die generelle Medien-Entwicklung der letzten Jahre reagierten, möglicherweise erst dadurch motiviert wurden, sich ein zweites Mal dem Genre zu widmen.


II. Der Perspektivwechsel

Die Intelligenz der Inszenierung zeigt sich nicht allein im damals neuartigen Stilmittel „Found Footage“ – Professor Monroe erhält im Tauschgeschäft die Filmaufnahmen der vier getöteten Dokumentarfilmer – das die zweite Hälfte des Films prägt, sondern mehr noch in einem fast unmerklich vorgenommenen Perspektivwechsel. Vordergründig ändert sich nur wenig. Wurde die erste Handlungshälfte aus dem Blickwinkel des Professors betrachtet, nimmt die Kamera nun die Sicht der vier Dokumentarfilmer ein. Es bleibt bei einer von außen kommenden Perspektive auf den Eingeborenen-Stamm, nur wird die Distanz zwischen Betrachter und Story langsam zerstört, indem der Zuschauer an die Seite des Professors gestellt wird, der die Aufnahmen für die Veröffentlichung in einer TV-Sendung prüfen soll. Damit wird dem Betrachter eine doppelte Perspektive aufgezwungen – die des Voyeurs, der den Unterhaltungswert einschätzen soll, und die des Kamerateams, dessen wahre Beweggründe sich zunehmend offenbaren.


Deren menschenverachtendes, rücksichtloses Vorgehen, nur um einen möglichst sensationellen Bericht verkaufen zu können, entsprach der schon in „Network“ formulierten Kritik. Die angebliche zivilisatorische Überlegenheit gegenüber dem Naturvolk hatte Deodato selbst zuvor in seinem „Ultimo mondo cannibale“ als fragile Hülle entlarvt. In „Cannibal Holocaust“ ging er darüber hinaus. Er zielte auf den Konsumenten ab, auf dessen Erwartungshaltung und Urteil. Sowohl die Bilder des Vietnamkrieges, die TV-Jagd nach Sensationen oder die „Mondo“-Filme und ihre Ableger dienten trotz des darin verbreiteten „realen“ Schreckens vor allem der Unterhaltung, beließen den Betrachter immer auf der heimischen Couch oder dem bequemen Kinosessel, von wo aus es sich aus sicherer Distanz gruseln ließ. Am Ende des Films existiert diese Distanz nicht mehr, verliert die Gewalt-Orgie jeden Unterhaltungs-Charakter, da eine Parallelität zwischen Sensations-Geilheit und Betroffenheit entsteht – der Zuschauer wird gleichzeitig zum Opfer und Täter.


III. Notwendigkeit von Gewaltdarstellungen

Diese Intention des Films lässt sich an vielen Details ablesen, besonders hervorstechend an Riz Ortolanis‘ Filmmusik, die nicht zufällig eine direkte Verbindung zu „Mondo cane“ (1962) herstellte. Die Schönheit seiner Empathie erzeugenden Musik steht im starken Kontrast zu den Ereignissen auf der Kinoleinwand – mit diesem Effekt arbeiteten schon die Macher von „Mondo cane“ -  und steigert damit die Fallhöhe zwischen moralischem Anspruch und der Realität menschlicher Abgründe. Während dieses Stilmittel als unstrittig gilt, werden die detailliert gezeigten, realen Tiertötungen fast ausschließlich abgelehnt, obwohl deren Art der Inszenierung ebenfalls als Reaktion auf die „Mondo“-Filme und ihre Nachfolger zu verstehen ist. Weder zeigt „Cannibal Holocaust“ Aufnahmen einer brutalen Tierwelt - gemäß dem beliebten Motto „Fressen und gefressen werden“ - noch Opfer-Rituale oder bewusst von Menschen angestrengte Tierkämpfe, wie sie in „Mondo Cane“ oder Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ selbstverständlich vorkamen. Einzig zur Nahrungsaufnahme werden die Tiere durch Menschen getötet – eine millionenfache tägliche Selbstverständlichkeit.

Das allein hätte die schrecklichen Bilder nicht gerechtfertigt, aber erst die Kombination aus Realität und den gestellten Aufnahmen exzessiver Gewalt, besonders gegenüber Frauen, führt zu dem notwendigen Distanzverlust des Betrachters, um ein entspanntes Sehvergnügen zu verhindern. Sicherlich lässt sich je nach persönlicher Sensibilität über einzelne Szenen diskutieren, aber für die Intention des Films sind die Gewaltdarstellungen zwingend notwendig, wie sie – nicht weniger umstritten - auch Pier Paolo Pasolini in „Salò o le 120 giornate di Sodoma" (Die 120 Tage von Sodom, 1975) vorsah. Es wird immer Betrachter geben, die sich an den extremen Gewaltaufnahmen delektieren und den Film nicht näher an sich heranlassen, so wie die Intention intellektuell auch ohne die schockierenden Szenen zu verstehen ist. Aber sowohl Pasolini, als auch Deodato genügte keine theoretische Abhandlung, kein bequemes selbstkritisches Geplänkel, sie wollten die menschlichen Abgründe körperlich erfahrbar werden lassen, wie ein Schlag in die Magengrube. Wer einmal „Cannibal Holocaust“ gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr – allein die Erinnerung daran, treibt die Tränen in die Augen.

"Cannibal Holocaust" Italien 1980, Regie: Ruggero Deodato, Drehbuch: Gianfranco Clerici,  Darsteller : Robert Kerman, Carl Gabriel Yorke, Francesca Ciardi, Perry Pirkanen, Luca Barbareschi, Laufzeit : 92 Minuten

Der Film lief in der deutschen Kinofassung beim 5. Forumtreffen "Deliria Italiano" in Nürnberg vom 10. bis 11.10.2014

weitere im Blog besprochene Filme von Roggero Deodato: 

"Zenabel" (1969)
"Ultimo mondo cannibale" (1977)

Freitag, 5. Dezember 2014

La montagna del dio cannibale (Die weiße Göttin der Kannibalen) 1978 Sergio Martino

Inhalt: Susan Stevenson (Ursula Andress) und ihr Bruder Arthur (Antonio Marsina) versuchen die Genehmigung zu erhalten, im ostasiatischen Dschungel nach Susans seit Monaten verschollenem Ehemann zu suchen, der dort anthropologische Forschungen betrieb. Die Behörden glauben nicht daran, dass er noch lebt, aber Susan will nicht aufgeben und überredet Professor Foster (Stacy Keach), der die Region als Einziger kennt, sie zu begleiten. Er glaubt, dass Susans Mann zu einer Insel gelangt ist, auf der sich der Berg des „Kannibalen-Gotts“ befindet, der von einem geheimnisvollen Stamm bewohnt wird.

Ohne Genehmigung begeben sie sich in den Dschungel und dringen unter lebensgefährlichen Bedingungen bis zum Ozean vor, von wo aus sie zu der Insel übersetzen. Dort angekommen, sehen sie sich nicht nur einer feindlichen Tierwelt ausgesetzt, sondern auch ein maskierter Attentäter hat es offensichtlich auf sie abgesehen…


Allein die Tatsache, dass die wenigen Kannibalismus-Filme der späten 70er Jahre noch heute als eigenständige Genre-Phase im italienischen Film Erwähnung finden, lässt auf den tiefen Eindruck schließen, den sie trotz ihrer preiswerten und spekulativen Machart hinterließen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Rassismus, Misogynie, ekelhafte Gewaltdarstellungen und Tiertötungen erzeugten heftige Ablehnung. Vom "Mondo"- Film seit „Mondo cane“ (1962) beeinflusst, täuschten sie einen realen Hintergrund vor, der irgendein Forscher-Team in die noch unentdeckten Gebiete Ostasiens oder am Amazonas führte, wo sie einen bisher unbekannten Volksstamm vermuteten, der zuvor noch nie Berührung mit der Zivilisation hatte. Doch die Kritik an der ungehemmten Darstellung archaischer Verhaltensmuster konnte nicht die Faszination auf eine Nachkriegsgeneration verhindern, die erstmals in Friedenszeiten aufwachsen konnte und im Zuge der generellen Liberalisierung im Kino seit den frühen 60er Jahren nach Tabubrüchen dürstete.

Genügten Ende der 60er Jahre noch Nuditäten, verbunden mit dem Versprechen einer frei ausgelebten Sexualität, um die bürgerliche Moral herauszufordern, erreichten Mitte der 70er Jahre schon Sado-Maso-Spielarten ein großes Publikum ("Histoire d'O" (Die Geschichte der O, 1975)). In Italien entwickelte sich parallel aus der ureigenen „Commedia all’Italiana“ der Ableger „Commedia sexy all’italiana“, der seine erotischen Bilder in eine Komödienhandlung einbettete, die zwischen Albernheiten und gesellschaftskritischen Aspekten oszillierte. Regisseur Sergio Martino gehörte zu den führenden Vertretern dieses Genres, zu dem er in der Hochphase zwischen 1973 („Giovannona Coscialunga disonorata con onore“)  und 1983 („Occhio, malocchio, prezzemolo e finocchio“) elf Filme besteuerte, die heute nahezu unbekannt sind – im Gegensatz zu "La montagna del dio cannibale" (Die weiße Göttin der Kannibalen), seinem einzigen Kannibalen-Film.

Dabei ließ der Regisseur keinen Zweifel daran, dass die Themenwahl vor allem der Vorgabe der Produktionsgesellschaft seines älteren Bruders Luciano Martino geschuldet war, wirtschaftlich erfolgreiche Filme zu drehen. Um Produktionskosten zu sparen, wickelte er am exotischen Drehort in Ostasien neben "La montagna del dio cannibale" noch "L'isola degli uomini pesce" (Insel der neuen Monster, 1978) und "Il fiume del grande caimano" (Der Fluß der Mörderkrokodile) - jeweils nach selbst verfassten Drehbüchern - ab, die zwar häufig in einem Zug mit seinem Kannibalismus-Film genannt werden, aber dem Science-Fiction-Horror bzw. Tier-Horror-Genre zuzurechnen sind. Sie entstanden in Folge des Kassenknüllers „Jaws“ (Der weiße Hai, 1975), der das Horror-Genre im Mainstream-Kino salonfähig werden ließ, und wurden meist mit internationalen Stars besetzt, die ihren Karrierehöhepunkt schon hinter sich hatten – ein Versuch der darbenden italienischen Filmindustrie, der wachsenden Übermacht Hollywoods trotz ungleicher finanzieller Mittel Einhalt zu gebieten  (siehe „Das italienische Kino frisst sich selbst“).

Entsprechend gehörten mit Ex-Bond Girl Ursula Andress und Stacy Keach in "La montagna del dio cannibale" zwei bekannte Namen zur Darstellerriege, aber Sergio Martino griff auch auf seinen Landsmann Claudio Cassinelli zurück, mit dem er zuvor den Poliziesco "Morte sospetta di una minorenne" (1975) gedreht hatte, um ihn in allen drei Ostasien-Streifen in einer der Hauptrollen zu besetzen. In "La montagna del dio cannibale" stößt er in der Rolle des Dschungel-Arztes Manolo zwar erst nach einem Drittel der Laufzeit auf Susan Stevenson (Ursula Andress) und deren Bruder Arthur (Antonio Marsina), die unter der Führung von Professor Edward Foster (Stacy Keach) den verschollenen Ehemann Susans suchen, kann aber als Sympathieträger punkten, als es für die Protagonisten weiter in Richtung des sagenumwobenen Bergs des Kannibalen-Gotts geht. Von dort sind nur Wenige lebend zurückgekommen - darunter Professor Foster, der nach wie vor unter den traumatischen Umständen seiner Gefangenschaft leidet.

Auch für Sergio Martino - wie zuvor schon für Joe D’Amato bei der Entwicklung seines vierten „Emanuelle nera“ - Streifens „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ (Nackt unter Kannibalen, 1977) - wurde der Erfolg von Ruggero Deodatos „Ultimo mondo cannibale“ (Mondo cannibale 2 – Der Vogelmensch, 1977) zum Auslöser, die Kannibalen-Thematik in Angriff zu nehmen. Und ähnlich D‘Amato orientierte sich Martino in der Story-Anlage mehr an Umberto Lenzis „Il paese del sessio selvaggio“ (Mondo cannibale, 1972) als an Deodatos kompakter, tief in die archaische Lebenswelt der Urwaldbewohner eindringenden Sichtweise. Der Blick auf den Kannibalen-Stamm bleibt immer aus der Distanz des westlichen Kulturkreises, stellt das Verhalten der weißen Abenteurer nicht in Frage – von üblichen Geldgier-Mechanismen einmal abgesehen - und verkommt spätestens mit den Sodomie- und Selbstbefriedigungsszenen beim Fest um die weiße Göttin, für die Susan von den Kannibalen gehalten wird, zum sensationsheischenden, rassistische Vorurteile bestätigenden Panoptikum. Auch die realen Tiertötungen, wie sie früh in den „Mondo“-Filmen gezeigt wurden, die schon für Lenzis Film Pate standen, haben in Martinos Film nur den fragwürdigen Zweck, zusätzlichen Grusel zu entfachen. Inhaltlich stehen sie in keiner Verbindung zur Story.

D’Amato hatte in „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ auf Tiertötungen jeder Art verzichtet, Sergio Martino bot dagegen die reifere Inszenierung an. Von den wenigen Szenen nach dem Motto „Fressen und gefressen werden“ zu Beginn und der abschließenden Eskalation am Berg des Kannibalen-Gotts schuf Martino gemeinsam mit Autor Cesare Frugoni, der ebenfalls bei allen drei vor Ort entstandenen Filmen zum Team zählte, eine klassische Abenteuerstory, die über eine stimmige Figurenkonstellation verfügt und sich über eine Vielzahl an Zwischenstationen abwechslungsreich entwickelt – allein das actionreiche Geschehen am Wasserfall nimmt kaum weniger Zeit ein als die abschließenden Ereignisse am Kannibalen-Hort. Die seltenen Nacktaufnahmen wirken – anders als bei D’Amato - nicht künstlich integriert (von der erwähnten Selbstbefriedigungsszene abgesehen) und es kommt zu keinen zeremoniellen Vergewaltigungen wie sie schon in Lenzis Film an der Tagesordnung waren und von D’Amato zitiert wurden. Zudem ist es dem Spiel der damals 42jährigen Ursula Andress zu verdanken, dass trotz diverser Geschlechter-Klischees der Eindruck der Misogynie zurückhaltend blieb. Sergio Martino erwähnte, wie selbstbewusst und ohne Angst sich die Darstellerin im Dschungel bewegte und etwa die Szene mit der Schlange bewältigte – eine Haltung, die sich auf ihre Rolle übertrug.

Trotz dieser Qualitäten wird an "La montagna del dio cannibale" und mehr noch im Vergleich zu den zwei weiteren Abenteuerfilmen der Ostasien-Trilogie deutlich, wie sehr die Kannibalismus-Thematik als reißerischer Aufhänger diente. Auf Basis einer identischen Anlage - weiße Abenteurer schlagen sich durch das unbekannte Terrain einer exotischen Welt – variierte Martino darin unterschiedliche populäre Horror-Sujets. Während ein Riesenkaiman in "Il fiume del grande caimano" als „Weißer Hai“-Epigone herhalten musste, wurden unter dem Oberbegriff „Kannibalismus“ fremdartige Stammesrituale, exotische Speisen, eine gnadenlose Tierwelt und eine ungehemmt ausgelebte Sexualität zusammengefasst - die eigentliche Menschenverspeisung sollte den makabren Höhepunkt abgeben. Mit einer kritischen Gegenüberstellung unterschiedlicher Kulturkreise, wie sie Deodato in „Ultimo mondo cannibale“ anklingen ließ, hatte das nichts zu – Sergio Martinos Abenteuerfilm hätte auch unter anderen Vorzeichen funktioniert.

"La montagna del dio cannibale" Italien 1978, Regie: Sergio Martino, Drehbuch: Sergio Martino, Cesare Frugoni, Darsteller : Ursula Andress, Stacy Keach, Claudio Cassinelli, Antonio Marsina, Franco Fantasia, Laufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Sergio Martino: