Inhalt: Anna Maria Mentorsi (Martine Carol) bekommt ihre
kleine Tochter am Bahnhof von zwei Nonnen übergeben, in deren Kloster das
Mädchen sonst untergebracht ist, um mit ihr einen kurzen Urlaub am Meer zu
verbringen. Auf der Zugfahrt lernt sie Silvio (Raf Vallone), den Bürgermeister
von Pontorno kennen, der so sehr von seinem Städtchen schwärmt, dass sie
spontan beschließt, dort aus zu steigen und in einem schönen, unmittelbar am
Strand gelegenen Hotel, ein Zimmer findet.
Als sie am erstmals zum Strand geht, findet sie diesen
menschenleer vor und döst mit ihrer Tochter im Arm ein, bis sie vom Lärm vieler
Badegäste geweckt wird. Tatsächlich herrscht großer Trubel in dem Badeort,
womit die zurückhaltende hübsche Frau nicht gerechnet hatte. Da sie sehr freundlich
behandelt wird, beginnt sie langsam Bekanntschaften zu machen, bis ein ehemaliger
Klient sie erkennt und als Prostituierte entlarvt...
Die faschistische Mussolini-Administration und der Krieg lagen erst wenige Jahre zurück, die Schäden waren noch lange nicht beseitigt, aber im Land herrschte Aufschwung und Optimismus. Nicht nur Deutschland, auch Italien erlebte in den 50er Jahren ein "Wirtschaftswunder" - die Prosperität wuchs und der sommerliche Urlaub am Mittelmeer wurde wieder zur Normalität. Per Zug fielen besonders Frauen und Kinder im August in die Feriendomizile ein, während viele Ehemänner nur an den Wochenenden dazu stießen, da sie weiter arbeiten mussten. Auf Grund der geografischen Nähe der Städte zu den Badeorten eine Besonderheit, die im italienischen Film häufig thematisiert wurde ("Peccato veniale", (Der Filou, 1974)), denn es war ein offenes Geheimnis, dass der Freiraum weidlich genutzt wurde. Oder wie ein kleiner Junge im Anblick des eintreffenden Zugs, auf den sommerlich leicht geschürzte Frauen am Bahnsteig warten, seinen Vater fragt: "Was bedeutet es, dass der Zug voll gehörnter Ehemänner ist?"
Regisseur Lattuada, dessen Kriegsheimkehrer-Drama "Il
Bandito" (Der Bandit, 1946) zu den frühen neorealistischen Filmen zählt,
widmete sich in "La spiaggia" (übersetzt "Der Strand") der
sommerlichen Seite des Lebens mit Meer, Spaß und Liebeleien. Während die Kinder
Burgen bauen und am Wasser spielen, lassen sich ihre Mütter von gut gebräunten
jungen Männern verwöhnen, die im Hintergrund auch mal einen doppelten Salto vom
Sprungbrett zum Besten geben. Die Bars und Promenaden werden von für den
Entstehungszeitraum des Films erstaunlich leicht geschürzten jungen Damen
bevölkert und Mario Carotenuto, in den 70er Jahren als Witzfigur einer der führenden
Nebendarsteller in der "Commedia sexy all'italiana" ("La dotoressa del distretto militare" (Die Knallköpfe der 6.Kompanie, 1976)), gab hier schon
früh eine Kostprobe seiner Paraderolle des selbstgefälligen Spießbürgers mit
dominanter Ehefrau, der sein Glück vergeblich bei anderen Frauen sucht. Trotz
dieser humorvollen Aspekte, einer schwungvollen Inszenierung und gewagter
erotischer Einblicke in schönstem Ferrania-Color erlangte Lattuadas Film keine
große Popularität und ist heute nahezu vergessen.
Denn der Regisseur meinte es ernst. Seine Sicht auf den
Egoismus und die Doppelmoral der Italiener ist weder überzeichnet, noch
ironisch, sondern von einem beißenden Realismus, der kein Urlaubs-Feeling
hinterlässt. Die Konfrontation einer Spaß-Gesellschaft mit einer Prostituierten
bedarf des Blicks in die 50er (und sicherlich noch 60er) Jahre, um die Wirkung
auch auf die damaligen Betrachter des Films nachvollziehen zu können. Prostituierte
waren im Neorealismus nicht ungewöhnlich (in „Il Bandito“ spielte Anna Magnani
eine Bardame), aber ihnen blieb die Nähe zu ihrem Gewerbe jederzeit anzumerken,
ihre Optik entsprach dem Klischee. In „La spiaggia“ inszenierte Lattuada seine
Protagonistin dagegen als seriös gekleidete junge Frau mit einer kleinen
Tochter, die sich als Witwe ausgeben muss, da eine ledige Mutter, unabhängig
von ihrem Beruf, schon gegen das moralische Diktat verstieß.
Lattuadas Wahl der französischen Darstellerin Martine Carol
für die Hauptrolle war ein zusätzlicher Schachzug, denn Carol galt seit
„Caroline chérie“ (Im Anfang war nur Liebe, 1951) als Sex-Symbol und war in
vielen ihrer Filme in mindestens einer Szene nackt zu sehen. In „La spiaggia“
blieb sie stets hochgeschlossen und selbst gegenüber dem sich um sie ernsthaft
bemühenden Silvio (Raf Vallone), dem Bürgermeister des Urlaubsorts Pontorno, zurückhaltend.
Sie benahm sich damit nicht nur entgegengesetzt zur Erwartungshaltung an ihre
Rolle, sondern auch zu einer Umgebung, die hemmungslos ihrem Vergnügen
nachging. Wunderbar sezierend auch die Nebengeschichte um eine dank ihrer Frauen-Ratgeber-Zeitungskolumne
in der Öffentlichkeit stehende Autorin, die mit Verweis auf ihren Arbeitgeber bedauernd
die ständigen privaten Fragen ihrer Umgebung ablehnt. Tatsächlich schreibt ihr
Liebhaber die Texte, der wiederum schnell das Weite sucht, als der
Wochenend-Zug am Urlaubsort eintrifft. Seine Frau und seine zwei kleinen Kinder
befinden sich an Bord.
Die von Lattuada beabsichtigte Provokation der bürgerlichen
Gesellschaft und die Offenlegung ihrer verlogenen Scheinmoral hat inzwischen
viel von ihrer Wirkung verloren, aber Mitte der 50er Jahre griff der Regisseur
damit eherne moralische Gesetze an – eine Intention, die auch seine späteren
Filme prägte. Beruhte die Verpflichtung der damals 33jährigen Martine Carol auf
der Umkehrung ihres Rufs als Sex-Symbol, besetzte er ab „Guendalina“ (Gwendalina,
1957) mehrfach sehr junge Darstellerinnen und inszenierte sie bewusst erotisch. Auch Catherine Spaak, damals erst 15jährig, verhalf er mit "I dolci inganni" (Süße Begierde, 1960) auf diese Weise zum Karrierebeginn. Keine zufällige Wahl, denn ihr Vater Charles Spaak war ebenfalls am Drehbuch zu "La spiaggia" beteiligt. Lattuadas
offener Umgang mit der Sexualität verstand sich als anti-bürgerlich und war
eine konsequente Weiterentwicklung seiner neorealistischen Filme – ein häufiges
Motiv linksgerichteter Regisseure in den 50er und frühen 60er Jahren, die damit
den Boden für die zunehmende Liberalisierung bereiteten.
„La spiaggia“ deshalb ausschließlich historische Verdienste
zuzugestehen - etwa als Vorläufer der „Commedia sexy all’italiana“ - wäre
trotzdem falsch, denn dafür ist Lattuada zu pessimistisch, seine Kritik am
Bürgertum, die weit über deren Doppelmoral hinausgeht, zu fundamental. Außer
der unverheirateten Mutter, die gezwungen ist, ihre Tochter in einem
Nonnenkloster aufziehen zu lassen, existiert im Film nur der Bürgermeister als
positiv besetzte Figur, dessen Versuche, ihr beizustehen, sich als wirkungslos
erweisen. Aber es gibt noch den Millionär Chiastrino (Carlo Bianco), einen alten
Misanthropen, der mit Niemandem redet und das Treiben am Strand mit seinem
Fernglas beobachtet. Er ist in der Lage, die Meinung des Volkes zu
beeinflussen, denn sein Reichtum qualifiziert ihn dazu in den Augen einer Umgebung,
die um seine Sympathie buhlt. Doch seine der jungen Mutter angebotene Hilfe
bedeuten Rettung und Niederlage zugleich.
"La spiaggia" Italien, Frankreich 1954, Regie: Alberto Lattuada, Drehbuch: Alberto Lattuada, Luigi Malerba, Charles Spaak, Rodolfo Sonego, Darsteller : Martine Carol, Raf Vallone, Carlo Bianco, Mario Carotenuto, Clelia Matania, Laufzeit : 98 Minuten
weitere im Blog besprochene Filme von Alberto Lattuada:
1 Kommentar:
Großartiger Film! Und wunderbarer Text!
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