Lange Zeit zeigt er sich resistent gegen die studentischen Parolen, die ihm vor dem Fabrikeingang zurufen, sich für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter einzusetzen, aber als er bei seiner Arbeit einen Finger verliert, beginnt er langsam deren Argumenten zu folgen. Er setzt sich an die Spitze einer Streikbewegung...
"Mehr Geld, weniger Arbeit!"
Wer würde sich das nicht wünschen? - Doch die mittels Lautsprecher gebrüllten Parolen scheinen an den Arbeitern abzuprallen, die in geschlossenen Reihen am frühen Morgen durch das Fabriktor marschieren, um ihrer eintönigen Arbeit nachzugehen. Vor allem Lulù Massa (Gian Maria Volontè) hat es in dieser Hinsicht weit gebracht, denn er ist ein Muster an Effizienz. Niemand gelingt es so gut wie ihm, eins mit der Maschine zu werden, an der er arbeitet, weshalb er die höchsten Produktionszahlen erzielt. Da seine Leistung von den Vorgesetzten dazu genutzt wird, die anderen Arbeiter unter Druck zu setzen, macht ihn das in der Belegschaft höchst unbeliebt.
Das scheint ihm vordergründig wenig auszumachen, aber gleichzeitig merkt Massa auch nicht, wie ihm die eigene Gesundheit und sein Privatleben entgleiten. Sein Kind aus einer früheren Ehe bekommt er nur selten zu sehen, zum Sex mit seiner neuen Frau Lidia (Mariangela Melato) ist er nicht mehr in der Lage, seine Wohnung wird bestimmt von dem kalten Licht des ständig laufenden Fernsehers und nachts findet er keinen ruhigen Schlaf mehr. Entsprechend ungesund gerötet ist seine Gesichtshaut.
Regisseur und Autor Elio Petri, selbst Mitglied der kommunistischen Partei Italiens (wie auch sein Freund und Hauptdarsteller Gian Maria Volontè), entwarf hier die klassische Konstellation eines ausgebeuteten Fabrikarbeiters, der gegen niedrige Zahlung einem anstrengenden Broterwerb nachgeht. Vielleicht wird darin der Grund erkennbar, warum der Film, der 1972 die "Goldene Palme" in Cannes gewann, nie in die westdeutschen Kinos kam und die einzige deutschsprachige Synchronisation aus der DDR stammt. Dabei macht der Film von Beginn an keinen Hehl aus seiner komplexen, keiner Ideologie nachlaufenden Haltung, die vor allem ein pessimistisches Abbild menschlicher Unzulänglichkeiten darstellt.
Elio Petri bedient sich dabei einer formalen Zuspitzung, die auf die Ereignisse im Jahr 1969 weisen, als während des "autumno caldo" (Heißer Herbst) Millionen Arbeiter gemeinsam mit den Studenten auf die Straße gingen, um für bessere Arbeitsbedingungen zu protestieren. Über 300 Millionen gestreikte Stunden führten erstmals dazu, dass den Arbeitern mehr Rechte zugestanden wurden. Petris zwei Jahre später entstandener Film fasst diese Ereignisse mit einer einzelnen Fabrik im Brennpunkt quasi im Zeitraffer zusammen, was seinem Film einen satirischen Gestus gibt, obwohl "La classe operaia va in paradiso" im Detail von gnadenloser Realität ist.
Das beginnt schon mit der Geräuschkulisse. Als wollte Petri alles hineinpacken, was in einer solchen Phase an Parolen und Diskussionen geäußert wird, wird in diesem Film ohne Unterlass geschrieen. Entweder durch Megaphone verstärkt, wenn vor der Fabrikhalle die Studenten und Gewerkschaftler versuchen, die Arbeiter zu beeinflussen, oder in der Fabrikhalle, um den Maschinenlärm zu übertönen, aber auch bei Versammlungen, wenn immer stimmgewaltig die Massen eingeschworen werden sollen. Echte Gespräche untereinander finden nicht statt, da die jeweilige Haltung des Schreienden nicht in Frage gestellt werden darf. Unterstützt wird das von einer kongenialen Filmmusik von Ennio Morricone, die auf jede Melodik verzichtet und als Hauptmotiv ein lang gestrecktes, wellenartiges Geräusch wiederholt.
So wie der Film in der oben beschriebenen Plakativität die Situation des Arbeiters Lulù Massa schildert, beschleunigt er auch deren Veränderung. Als Massa - durch Überarbeitung kaum noch zum kontrollierten Arbeiten fähig - im Rausch der Arbeitsgeschwindigkeit einen Finger verliert, beginnt er umzudenken. Plötzlich leuchten ihm die Parolen der Studenten ein, die die Arbeiter mit Maschinen vergleichen, deren Privatleben nicht mehr stattfindet. Auch die Begegnung mit seinem früheren Kollegen Militina (Salvo Randone), den er wegen einer Untersuchung nach seinem Arbeitsunfall in der Psychiatrie trifft, wo dieser seit dessen Entlassung sein Dasein fristet, lässt ihn seine eigene Situation erkennen. Diese Erkenntnis fusst aber nicht auf einer veränderten Überzeugung, sondern reagiert nur auf die äußeren Einflüsse, denen Massa in der gleichen Mechanik folgt, wie zuvor bei der Arbeit. Innerhalb kürzester Zeit wird er zum lautstarken Anführer der Streikbewegung, der sich von den Studentenvertretern vor den Karren spannen lässt. Dadurch kommt es zum Konflikt mit den Gewerkschaftern, die gemäßigter vorgehen wollen, aber Massa lässt sich von der Situation mitreißen und verlässt in einem Moment der Ekstase mit seiner hübschen Kollegin Maria das Fabrikgelände.
Die folgende Szene ist einerseits in ihrer Ruhe und detaillierten Ausführlichkeit untypisch für den Film, andererseits in ihrer zentralen Lage besonders aussagekräftig für Petris Haltung. Massa und Maria setzen sich, noch von der Streikversammlung euphorisiert, in seinen kleinen Wagen, fahren in eine verlassene Fabrikhalle und beginnen Sex miteinander zu haben. Für sie ist es das erste Mal und er will endlich zum Zuge kommen, nachdem es zuletzt privat nicht mehr funktionierte. Während er ihre Skepsis nieder redet, beschreibt Petri das unwürdige Ordnen der Glieder, das versehentliche Haare ziehen und die profanen Stossbewegungen, zu denen Menschen auf kleinstem Raum beim Sex gezwungen werden. Nach kurzer Interaktion ordnen sie außerhalb des Wagens, in der nassen Kälte stehend, wieder ihre Kleidung. Sie ist sehr unzufrieden und keift ihn an, er versucht mit pauschalen Bemerkungen die unangenehme Situation zu überspielen, aber sicher ist nur eins - Liebe und Euphorie sind dahin.
Dass dieser Moment eines misslungenen Geschlechtsaktes, den positiven Höhepunkt des Films darstellt, verdeutlicht Petris pessimistische Haltung. Sie ist symptomatisch für eine Situation, die nach außen gesellschaftliche Veränderung predigt, nach innen aber nur der persönlichen Befriedigung des Einzelnen dient. Konsequenterweise geht es für Massa danach nur noch bergab. Seine Frau macht ihm eine Szene, als sie in ihrer Wohnung auf eine große Anzahl von Studenten trifft, denen ihr Mann Asyl gewehrt hat. Sie verlässt ihn, gemeinsam mit ihrem Sohn, worauf die Studenten ebenfalls gehen, weil sie Angst haben, dass seine Frau die Polizei ruft. Massa ist allein und erfährt zudem, dass er von seiner Firma als Einziger entlassen wurde. In wenigen Augenblicken wird er vom Anführer zum ausgestoßenen Außenseiter, für dessen persönliches Schicksal auch die Studentenführer nur wenig Mitleid haben, weil das Individuum im Klassenkampf keine Bedeutung hat.
Doch an einer Schilderung eines Opfers hat Petri kein Interesse, denn für eine solche emotionale Zuspitzung gibt es keinen Platz in seinem Film, der deutlich macht, dass der Mensch vor allem eines tut – er funktioniert. Angesichts der sich ständig ändernden Ereignisse ist Massas Geist so verwirrt, dass er sich weder darüber freuen kann, dass seine Frau wieder zu ihm zurückkommt, noch dass er seinen Arbeitsplatz zurück erhält – ein Erfolg der Streikbewegung. Auch die Arbeitsbedingungen haben sich etwas gebessert und Massa ordnet sich trotz seiner Verwirrung wieder in den Prozess ein. Fröhlich erzählt er den Kollegen von der Mauer, die ihr ehemaliger Kollege Militina in der Psychiatrie mit dem Kopf einschlagen wollte – dahinter, sagt dieser, befindet sich das Paradies.
"La classe oparaia va in paradiso" Italien 1971, Regie: Elio Petri, Drehbuch: Elio Petri, Ugo Pirro, Darsteller : Gian Maria Volonté, Mariangela Milato, Salvo Randone, Luigi Diberti, Laufzeit : 120 Minuten
weitere im Blog besprochene Filme von Elio Petri:
"La decima vittima" (1965)
"Todo modo" (1976)
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