Inhalt: Irma (Alida Valli) erfährt auf dem Amt, das ihr vor acht Jahren nach Australien ausgewanderter Ehemann verstorben ist. Obwohl sie schon lange in einer Beziehung mit Aldo (Steve Cochran) lebt, mit dem sie eine gemeinsame Tochter hat, erfasst sie große Trauer. Mit Tränen in den Augen bringt sie Aldo das Mittagessen an seine Arbeitsstelle, entfernt sich aber sofort wieder, um ihm nicht zu begegnen. Er folgt ihr und erfährt vom Tod ihres Mannes. Eine gewisse Freude ist ihm anzumerken, denn endlich können sie heiraten, aber sie fügt hinzu, dass sie keine Ehe mit ihm eingehen will. Schon vor ein paar Monaten hat sie einen anderen Mann kennengelernt, weshalb sie ihn um die Trennung bittet.
Aldo ist schockiert, will sie überreden und appelliert an ihre Verantwortung. Nachdem seine Versuche fruchtlos blieben, will er sie am nächsten Tag nochmals zur Rede stellen, ohne zu ahnen, das sie selbst an ihrer Entscheidung zweifelt. Doch als er sie mitten im Ort vor vielen Zeugen mehrfach schlägt, beendet sie ihre Beziehung endgültig. Gemeinsam mit seiner Tochter verlässt er seinen Heimatort und begibt sich entlang des Po auf den Weg zu Elvia (Betsy Blair), die er schon vor Irma kannte...
"Il grido" verfügt über einige Spezifika, die ihm innerhalb Michelangelos Antonionis Werk scheinbar einen Sonderstatus zuweisen. Entstanden 1957 zwischen "Le amiche" (Die Freundinnen) von 1955 und seiner Trilogie "L'avventura", "La notte" und "L'eclisse" (1960 - 1962), wirkt "Il grido" optisch und inhaltlich wie eine Rückbesinnung auf den Neorealismus der 40er Jahre. Dass er die Handlung am Po, in der Umgebung seiner Heimatstadt Ferrara, unter den einfachen Menschen ansiedelte - womit er Motive seines dokumentarischen Kurzfilms "Gente del Po" (Menschen am Po) wieder aufgriff - scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Besonders, da Antonionis sonstige Filme nur innerhalb der gehobenen Bürgerschicht spielten.
Tatsächlich befindet sich "Il grido" ganz in der Linie seines Schaffens und weist thematisch auf sein zukünftiges Werk hin - eine Bestandsaufnahme:
1. Selbstmord
"Tentato suicido" (Selbstmordversuch) lautete die Episode, die Antonioni 1953 zu "L'amore in città" beisteuerte, ein Motiv, mit dem der darauf folgende Film "Le amiche" unmittelbar begann und das er sowohl in "Cronaca di un amore" (Chronik einer Liebe, 1950), als auch in "Il grido" verwendete. "Le amiche" war nach dem Roman von Cesare Pavese entstanden, der sich 1950 mit knapp 42 Jahren das Leben nahm, weshalb Antonioni von Kritikern vorgeworfen wurde, dessen Konsequenz schlicht zu übernehmen - eine Annahme, der er vehement widersprach.
Betrachtet man das jeweilige Zustandekommens des Selbstmords genauer, lässt sich eine Entwicklung feststellen, die unmittelbar zu "L'avventura" führt. War in "Cronaca di un amore" der Selbstmord nur die spontane Vorwegnahme eines geplanten Mordes, ließ Antonioni in "Tentato suicido" Frauen zu Wort kommen, die real einen Selbstmord versucht hatten. Mit dem Ergebnis zeigte er sich unzufrieden, da keine der Befragten generelles beitragen konnte. Dagegen erfüllte die Story von Pavese in "Le amiche" die klassischen Voraussetzungen eines Selbstmords, indem eine Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt wird, deren Kälte eine junge Frau in die Verzweiflung treibt.
Mit dieser Ausgangssituation hat "Il grido" nichts gemeinsam. Aldos (Steve Cochran) Flucht, die ihn entlang des Pos führt, nachdem seine Lebensgefährtin Irma (Alida Valli) ihm gestanden hatte, einen anderen Mann zu lieben, ist vor allem eine Flucht vor sich selbst. Schon am genau konstruierten Aufbau der Story in Form einer Parabel, die am selben Ort beginnt und endet - am Turm, auf dem Aldo seiner Arbeit nachgeht - , wird deutlich, das "Il grido" wenig mit dem Neorealismus gemeinsam hat. Der Anfang und das Ende finden unter umgekehrten Vorzeichen statt - kommt Aldo zu Beginn von seinem Turm herunter, um Irma zu suchen, sucht sie ihn am Schluss, um ihn oben auf dem Turm zu finden. Das er springt, ist ein spontaner Akt, unmittelbar davor ausgelöst, nachdem er sie mit einem Baby im Arm gesehen hatte, aber keine sich ankündigende Verzweiflungstat.
Antonioni hält während der gesamten Laufzeit des Films einen emotionalen Abstand zu seinem Protagonisten, worin ein entscheidender Unterschied zum Neorealismus erkennbar wird, denn erst durch die Identifikation des Betrachters entstand die notwendige Anteilnahme am Schicksal der im Mittelpunkt stehenden Menschen. Auch die Wahl, einen amerikanischen Darsteller als Aldo zu besetzen, erhöhte noch die Distanz. Sicherlich war diese Entscheidung auch produktionstechnischen Zwängen geschuldet, aber Antonioni verwendete diese zielgerichtet.
Zudem ist Aldo selbst nicht in der Lage, seine Gefühle auszudrücken, weshalb seine Konsequenz auf Grund der äußeren Umstände zwar nachvollziehbar ist, aber nicht nachempfunden werden kann. In "L'avventura" ging Antonioni noch einen Schritt weiter, indem er eine Protagonistin auf einer Insel verschwinden lässt. Hier geschieht kein offensichtlicher Selbstmord mehr, aber er besteht weiter als Möglichkeit - die äußeren Umstände könnten dafür sprechen, aber die tatsächlichen Gefühle der Verschwundenen kennt Niemand. Antonionis generelle Thematik der Unfähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen herzustellen, nimmt in der Figur des Aldo schon konkrete Züge an.
2. Das „einfache“ Volk
Nicht nur durch die für Antonioni ungewöhnliche Ausnahme, seine Handlung unter Arbeitern, Fischern und Hausfrauen stattfinden zu lassen, auch die detaillierte Schilderung des Alltags der Menschen am Fluss - Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger - ließen den Eindruck entstehen, bei „Il grido“ handelt es sich um ein dem Neorealismus nahes Werk. Abgesehen davon, das auch die Regisseure früher neorealistischer Werke - ein Jahrzehnt nach der Hochphase der Stilrichtung – die Umsetzung ihrer politischen Haltung schon lange differenzierten, liegt der entscheidende Unterschied darin, dass es Antonioni nicht um eine Veränderung der Verhältnisse ging.
Natürlich genügt schon die Darstellung der Missstände als Kritik – so wie es Antonioni auch in „Gente del Po“ vermittelte – aber „Il grido“ verzichtet auf eine Betonung der politischen Relevanz, zeigt Menschen, die ihre Situation als gegeben annehmen und die Veränderungen nur im Privaten suchen. Ähnliches lässt sich bei Viscontis „Ossessione“ auch feststellen, aber 1942 genügte Realität schon als Politikum, bei Antonioni wird diese dagegen immer wieder gebrochen durch eine Moderne, die auch den Lebensraum am Po erfassen wird – Rennboote auf dem Fluss oder die Landebahn für Militärflugzeuge in Aldos Heimatort. Der Protest der Bürger, die die Lärmbelästigung fürchten, verdeutlicht die Abkehr von den Zielen des Neorealismus – wer um solche persönlichen Befindlichkeiten kämpft, so berechtigt diese auch sind, braucht sich um das tägliche Brot nicht mehr zu sorgen.
Dass auch das Leben in der Kleinstadt eher grau und ärmlich wirkt, von Antonioni noch stilistisch durch die karge Winterlandschaft und die nebelige Atmosphäre betont, liegt am Blick der heutigen Gegenwart – dem Regisseur ging es um die Darstellung einfacher, solider Verhältnisse. Das gilt auch für Aldo, der einen guten Job hat und ein bürgerliches Leben mit Irma und ihrer gemeinsamen Tochter Rosina führt. Erst seine Odyssee entlang des Po, führt ihn auch zu Menschen, deren Lebensumstände kritischer sind. Er selbst als guter Mechaniker wirkt nie wie ein Opfer der Umstände, sondern scheint immer in der Lage, sofort Arbeit zu finden. Einmal lehnt er ein Angebot nur ab, weil er sich tagsüber um seine Tochter kümmern muss, die er auf seinem ziellosen Weg mitgenommen hatte.
Bemerkenswert in der Beschreibung der italienischen Nachkriegszeit ist dagegen der Umgang mit der Sexualität. Der Film beginnt damit, dass Irma erfährt, dass ihr Ehemann im fernen Australien, wohin er vor 8 Jahren auswanderte, gestorben ist. Das sie selbst schon lange mit dem Vater ihres Kindes unverheiratet zusammenlebte, stößt bei einigen Älteren zwar auf Missfallen, ändert aber nichts daran, dass sie ein akzeptiertes Mitglied der städtischen Gemeinschaft ist. Als Aldo, nachdem er erfahren hatte, das sie ihn nach dem Tod ihres Mannes nicht heiraten will, sondern einen anderen hat, sie mitten im Ort vor vielen Zeugen schlägt, wirkt sein Verhalten wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Irma lässt sich davon nicht einschüchtern und Aldo erfährt keine offene Solidarität.
Dieser Eindruck setzt sich im weiteren Verlauf der Story fort, in der er einer Vielzahl von unverheirateten Frauen begegnet. Nimmt Elvia (Betsy Blair), die ihn seit Jahren kennt und offensichtlich gern hat, schnell Abstand von ihm, nachdem sie von Irma erfuhr, dass diese ihn kurz zuvor verlassen hatte, nutzen Virginia (Dorian Grey), Besitzerin einer kleinen Tankstelle, und die Gelegenheitsprostituierte Andreina (Lyn Shaw) offen ihre Sexualität, um ihn an sich zu binden. Auch wenn ihnen der attraktive Mann gefällt, ist es vor allem Pragmatismus, der sie zu dieser Vorgehensweise treibt – sie sind einsam und können Hilfe im Alltag gebrauchen. Vielleicht nimmt Antonioni damit die Entwicklung etwas vorweg, aber generell ist nach dem Weltkrieg eine veränderte Sicht auf moralische Standards zu beobachten. Familien wurden auseinander gerissen und zerstört, die alten sozialen Bindungen verlieren sich zunehmend (sehr schön auch in der Sequenz beschrieben, in der Virginia ihren aufmüpfigen alten Vater in ein Altersheim steckt) – in „Il grido“ werden erstmals Spuren eines zukünftigen Hedonismus spürbar, den er in seiner kommenden Trilogie deutlicher herausarbeitet.
Tatsächlich befindet sich "Il grido" ganz in der Linie seines Schaffens und weist thematisch auf sein zukünftiges Werk hin - eine Bestandsaufnahme:
1. Selbstmord
"Tentato suicido" (Selbstmordversuch) lautete die Episode, die Antonioni 1953 zu "L'amore in città" beisteuerte, ein Motiv, mit dem der darauf folgende Film "Le amiche" unmittelbar begann und das er sowohl in "Cronaca di un amore" (Chronik einer Liebe, 1950), als auch in "Il grido" verwendete. "Le amiche" war nach dem Roman von Cesare Pavese entstanden, der sich 1950 mit knapp 42 Jahren das Leben nahm, weshalb Antonioni von Kritikern vorgeworfen wurde, dessen Konsequenz schlicht zu übernehmen - eine Annahme, der er vehement widersprach.
Betrachtet man das jeweilige Zustandekommens des Selbstmords genauer, lässt sich eine Entwicklung feststellen, die unmittelbar zu "L'avventura" führt. War in "Cronaca di un amore" der Selbstmord nur die spontane Vorwegnahme eines geplanten Mordes, ließ Antonioni in "Tentato suicido" Frauen zu Wort kommen, die real einen Selbstmord versucht hatten. Mit dem Ergebnis zeigte er sich unzufrieden, da keine der Befragten generelles beitragen konnte. Dagegen erfüllte die Story von Pavese in "Le amiche" die klassischen Voraussetzungen eines Selbstmords, indem eine Gesellschaft in den Mittelpunkt gestellt wird, deren Kälte eine junge Frau in die Verzweiflung treibt.
Mit dieser Ausgangssituation hat "Il grido" nichts gemeinsam. Aldos (Steve Cochran) Flucht, die ihn entlang des Pos führt, nachdem seine Lebensgefährtin Irma (Alida Valli) ihm gestanden hatte, einen anderen Mann zu lieben, ist vor allem eine Flucht vor sich selbst. Schon am genau konstruierten Aufbau der Story in Form einer Parabel, die am selben Ort beginnt und endet - am Turm, auf dem Aldo seiner Arbeit nachgeht - , wird deutlich, das "Il grido" wenig mit dem Neorealismus gemeinsam hat. Der Anfang und das Ende finden unter umgekehrten Vorzeichen statt - kommt Aldo zu Beginn von seinem Turm herunter, um Irma zu suchen, sucht sie ihn am Schluss, um ihn oben auf dem Turm zu finden. Das er springt, ist ein spontaner Akt, unmittelbar davor ausgelöst, nachdem er sie mit einem Baby im Arm gesehen hatte, aber keine sich ankündigende Verzweiflungstat.
Antonioni hält während der gesamten Laufzeit des Films einen emotionalen Abstand zu seinem Protagonisten, worin ein entscheidender Unterschied zum Neorealismus erkennbar wird, denn erst durch die Identifikation des Betrachters entstand die notwendige Anteilnahme am Schicksal der im Mittelpunkt stehenden Menschen. Auch die Wahl, einen amerikanischen Darsteller als Aldo zu besetzen, erhöhte noch die Distanz. Sicherlich war diese Entscheidung auch produktionstechnischen Zwängen geschuldet, aber Antonioni verwendete diese zielgerichtet.
Zudem ist Aldo selbst nicht in der Lage, seine Gefühle auszudrücken, weshalb seine Konsequenz auf Grund der äußeren Umstände zwar nachvollziehbar ist, aber nicht nachempfunden werden kann. In "L'avventura" ging Antonioni noch einen Schritt weiter, indem er eine Protagonistin auf einer Insel verschwinden lässt. Hier geschieht kein offensichtlicher Selbstmord mehr, aber er besteht weiter als Möglichkeit - die äußeren Umstände könnten dafür sprechen, aber die tatsächlichen Gefühle der Verschwundenen kennt Niemand. Antonionis generelle Thematik der Unfähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen herzustellen, nimmt in der Figur des Aldo schon konkrete Züge an.
Nicht nur durch die für Antonioni ungewöhnliche Ausnahme, seine Handlung unter Arbeitern, Fischern und Hausfrauen stattfinden zu lassen, auch die detaillierte Schilderung des Alltags der Menschen am Fluss - Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger - ließen den Eindruck entstehen, bei „Il grido“ handelt es sich um ein dem Neorealismus nahes Werk. Abgesehen davon, das auch die Regisseure früher neorealistischer Werke - ein Jahrzehnt nach der Hochphase der Stilrichtung – die Umsetzung ihrer politischen Haltung schon lange differenzierten, liegt der entscheidende Unterschied darin, dass es Antonioni nicht um eine Veränderung der Verhältnisse ging.
Natürlich genügt schon die Darstellung der Missstände als Kritik – so wie es Antonioni auch in „Gente del Po“ vermittelte – aber „Il grido“ verzichtet auf eine Betonung der politischen Relevanz, zeigt Menschen, die ihre Situation als gegeben annehmen und die Veränderungen nur im Privaten suchen. Ähnliches lässt sich bei Viscontis „Ossessione“ auch feststellen, aber 1942 genügte Realität schon als Politikum, bei Antonioni wird diese dagegen immer wieder gebrochen durch eine Moderne, die auch den Lebensraum am Po erfassen wird – Rennboote auf dem Fluss oder die Landebahn für Militärflugzeuge in Aldos Heimatort. Der Protest der Bürger, die die Lärmbelästigung fürchten, verdeutlicht die Abkehr von den Zielen des Neorealismus – wer um solche persönlichen Befindlichkeiten kämpft, so berechtigt diese auch sind, braucht sich um das tägliche Brot nicht mehr zu sorgen.
Dass auch das Leben in der Kleinstadt eher grau und ärmlich wirkt, von Antonioni noch stilistisch durch die karge Winterlandschaft und die nebelige Atmosphäre betont, liegt am Blick der heutigen Gegenwart – dem Regisseur ging es um die Darstellung einfacher, solider Verhältnisse. Das gilt auch für Aldo, der einen guten Job hat und ein bürgerliches Leben mit Irma und ihrer gemeinsamen Tochter Rosina führt. Erst seine Odyssee entlang des Po, führt ihn auch zu Menschen, deren Lebensumstände kritischer sind. Er selbst als guter Mechaniker wirkt nie wie ein Opfer der Umstände, sondern scheint immer in der Lage, sofort Arbeit zu finden. Einmal lehnt er ein Angebot nur ab, weil er sich tagsüber um seine Tochter kümmern muss, die er auf seinem ziellosen Weg mitgenommen hatte.
Bemerkenswert in der Beschreibung der italienischen Nachkriegszeit ist dagegen der Umgang mit der Sexualität. Der Film beginnt damit, dass Irma erfährt, dass ihr Ehemann im fernen Australien, wohin er vor 8 Jahren auswanderte, gestorben ist. Das sie selbst schon lange mit dem Vater ihres Kindes unverheiratet zusammenlebte, stößt bei einigen Älteren zwar auf Missfallen, ändert aber nichts daran, dass sie ein akzeptiertes Mitglied der städtischen Gemeinschaft ist. Als Aldo, nachdem er erfahren hatte, das sie ihn nach dem Tod ihres Mannes nicht heiraten will, sondern einen anderen hat, sie mitten im Ort vor vielen Zeugen schlägt, wirkt sein Verhalten wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Irma lässt sich davon nicht einschüchtern und Aldo erfährt keine offene Solidarität.
Dieser Eindruck setzt sich im weiteren Verlauf der Story fort, in der er einer Vielzahl von unverheirateten Frauen begegnet. Nimmt Elvia (Betsy Blair), die ihn seit Jahren kennt und offensichtlich gern hat, schnell Abstand von ihm, nachdem sie von Irma erfuhr, dass diese ihn kurz zuvor verlassen hatte, nutzen Virginia (Dorian Grey), Besitzerin einer kleinen Tankstelle, und die Gelegenheitsprostituierte Andreina (Lyn Shaw) offen ihre Sexualität, um ihn an sich zu binden. Auch wenn ihnen der attraktive Mann gefällt, ist es vor allem Pragmatismus, der sie zu dieser Vorgehensweise treibt – sie sind einsam und können Hilfe im Alltag gebrauchen. Vielleicht nimmt Antonioni damit die Entwicklung etwas vorweg, aber generell ist nach dem Weltkrieg eine veränderte Sicht auf moralische Standards zu beobachten. Familien wurden auseinander gerissen und zerstört, die alten sozialen Bindungen verlieren sich zunehmend (sehr schön auch in der Sequenz beschrieben, in der Virginia ihren aufmüpfigen alten Vater in ein Altersheim steckt) – in „Il grido“ werden erstmals Spuren eines zukünftigen Hedonismus spürbar, den er in seiner kommenden Trilogie deutlicher herausarbeitet.
3. Der Mann
Auch wenn der Gedanke tröstlich ist, Aldos Verhalten als große Liebe zu Irma zu interpretieren, ist er doch falsch. Tatsächlich wird in „Il grido“ niemals von Liebe geredet (außer gegenüber der kleinen Tochter), weder von Aldo, wenn er versucht, Irma zurück zu gewinnen, noch von den Frauen, denen er später begegnet. Das Aldo trotz seiner langen Abwesenheit und der eindeutigen Gelegenheiten bei anderen Frauen, nicht über die Trennung von Irma hinweg kommt, hat den Grund in seinem Festhalten an bisherigen Strukturen und seiner Unfähigkeit zur Selbstreflexion.
Nicht das er wenig redet, ist entscheidend, sondern seine generelle Unfähigkeit, innere Empfindungen nach außen treten zu lassen. In den wenigen Sätzen, die er äußert, wird deutlich, wie schwer es ihm fällt, zu akzeptieren, seinen bisherigen Status verloren zu haben – der Verlust der Frau zerstörte sein Selbstverständnis und seinen Stolz. Dass er sein bürgerliches Dasein reflexartig hinter sich lässt, ist nur der Unfähigkeit geschuldet, diese Gefühle innerhalb der Heimatstadt ertragen zu können. Nur seinem stoischen Verhalten verdankt er es, von den anderen Frauen als stark empfunden zu werden. Doch wenn diese ihn auf seine aktuelle Situation ansprechen, reagiert er empört. Er hat die Veränderung nicht akzeptiert, bleibt abhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung als verantwortungsvoller Arbeiter, Partner und Vater. Irma ist nur das wichtigste Bindeglied dieser Konstellation, die tatsächliche Qualität ihrer Beziehung tritt dahinter zurück.
Optisch unterstützt Antonioni diese eingeschränkte Haltung mit Bildkompositionen, die eingeengte Räume vermitteln. In Innenräumen blickt die Kamera aus einer tiefen, innen liegenden Perspektive und erfasst die Menschen nur in schmalen Ausschnitten, die von Wänden und Türrahmen übrig gelassen werden. Auch bei den Außendarstellungen legt er Wert auf räumliche Begrenzungen – verhangene Himmel, Nebel, Gebäude und nicht zuletzt der allgegenwärtige Fluss vermitteln das Gefühl, nicht frei zu sein. So ist es nur folgerichtig, das Aldo wieder zum Ausgangspunkt seiner Flucht zurückkommt. Keineswegs um sich umzubringen, denn erst in dem Moment, als er des Babys in Irmas Arm gewahr wird, erkennt er, dass es kein Zurück mehr gibt.
Der Selbstmord ist deshalb nicht die Folge einer sich steigernden Verzweiflung, sondern die Eruption nach einer langen Phase der Verdrängung. Irma ahnt seine Gefühle, als sie ihn am Fenster ihres Hauses sieht und versucht noch zu ihm durchzudringen. Der Schrei, den sie ausstößt, als er vom Turm stürzt, gilt einem Mann, der keinen Moment rücksichtslos oder gar erniedrigend behandelt wurde, sondern dem im Gegenteil viel Sympathie entgegen gebracht wurde. Diese psychologische Anlage der männlichen Hauptfigur, ihre Abhängigkeit von gesellschaftlichen Mustern und die daraus folgende Unfähigkeit, offensichtliche Veränderungen zu akzeptieren und neue Emotionen anzunehmen, hat bis heute nichts von ihrer generellen Bedeutung verloren.
„Il grido“ ist kein Film geworden, der im neorealistischen Sinn die Zustände eines Nachkriegsitaliens kritisiert, sondern spielt nur vor dem realen Hintergrund der Region am Po, aus der Antonioni selbst stammt. Tatsächlich ist der geradlinig erzählte Film ein Dokument der Moderne, das schon 1957 einen sezierenden Blick auf die sozialen Veränderungen in der Rolle von Mann und Frau, in der Sexualität und in den Familienstrukturen warf. Eine Thematik, die er in seiner folgenden Trilogie wieder aufnahm.
Obwohl Antonioni in „Il grido“ bewusst eine emotionale Distanz wählte, um Aldo nicht als tragisches Einzelschicksal einer ärmlichen Umgebung oder gar als Opfer einer treulosen Frau zu stilisieren, konnte er dahin gehende Interpretationen nicht verhindern.
Das Antonioni seine nächsten Filme wieder im Kreis der wohlhabenden Großstädter spielen ließ, war ein zu erwartender Schritt, aber die starke Abstrahierung seiner Charaktere und die zunehmende Verklausulierung der Handlung, war eine logische Weiterführung der Thematik einer sich auseinander dividierenden Gesellschaft, die Antonioni zunehmend von ablenkenden Details entschlackte. „Il grido“ ist noch klar strukturiert erzählt und transparent in seinen Charakteren, was aber diverse Fehlinterpretationen nicht verhindern konnte – wahrscheinlich ist der Film zu nah an seinen Betrachtern.
weitere im Blog besprochene Filme von Michelangelo Antonioni:
"Gente del Po" (1943)
"Superstizione" (1949)
"Sette canne, un vestito" (1949)
"Cronaca di un amore" (1950)
"I vinti" (1952)
"L'amore in città" (1953)
"L'avventura" (1960)
"La notte" (1961)
"L'eclisse" (1962)
"Il deserto rosso" (1964)
1 Kommentar:
Hey, schön, dass es hier mal wieder was zu lesen gibt. Gewohnt feine Infos und Interpretation. :)
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