Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Mittwoch, 30. Mai 2012

I magliari (Auf St. Pauli ist der Teufel los) 1959 Francesco Rosi


Inhalt: Mario (Renato Salvatori) hat seine Arbeit in Hannover verloren und überlegt, wieder nach Italien zurückzukehren. Als man ihm in einem italienischen Restaurant keinen Platz anbieten will, weil er zu ärmlich gekleidet ist, und er sich deshalb erregt, lernt er Totonno (Alberto Sordi) kennen, der ihn an seinen Tisch bittet. Scheinbar überaus freundlich, stiehlt er ihm seinen Pass, als eine Polizeikontrolle vorbei kommt, weshalb Mario mit auf die Wache gehen muss.

Doch am nächsten Tag gibt ihm Totonno seinen Pass wieder zurück und beruhigt den verärgerten Mario damit, ihm einen Job besorgen zu wollen, bei dem man sehr gut verdient. Er holt ihn in einen Kreis aus Neapolitanern, die unter der Leitung von Don Raffaele (Carmine Ippolito) Stoffe verkaufen. Totonno nimmt Mario auf einer seiner Touren mit, um ihm das Geschäft näher zu bringen. Tatsächlich nutzt der gerissene Verkäufer, trotz seines mangelhaften Deutsch, alle Tricks, um die Stoffbahnen für einen überteuerten Kurs loszuwerden...


An Francesco Rosis Filmschaffen lässt sich die Entwicklung des italienischen Neorealismus der 40er Jahre bis in die 80er Jahre sehr gut ablesen - von dem frühen Einfluss durch die Mitarbeit als Regie-Assistent bei Luchino Viscontis, über seinen stilibildenden "Salvatore Giuliano" (1961), seiner letzten Zusammenarbeit mit Suso Cecchi D'Amico nach einem Jahrzehnt gemeinsamer Drehbücher, bis zu "Cronaca di una morte annunciata" (Chronik eines angekündigten Mordes) von 1987. Anders als Regisseure wie Visconti, Vittorio De Sica oder Roberto Rossellini, deren Schaffen immer in eine neorealistische und eine post-neorealistische Phase eingeteilt wird, gilt Francesco Rosi vor allem als moderner Polit-Filmer, ohne direkten Bezug zum Stil des Realismus der italienischen Nachkriegszeit.

Dabei ist sein individueller semi-dokumentarischer Stil, den er beginnend mit "Salvatore Giuliano", in "Le mani sulla città" (Die Hände über der Stadt, 1963), "Uomini contro" (Bataillon der Verlorenen, 1970), "Il caso Mattei" (Der Fall Mattei, 1972) bis zu "Lucky Luciano" 1973 zu großer Blüte entwickelte, ohne den neorealistischen Einfluss nicht vorstellbar. Die akribisch erarbeitete Authentizität dieser Filme, verbunden mit einer, trotz einer klaren politischen Haltung, möglichst objektiven Darstellung der darin geschilderten Situation, ist eine konsequente Weiterentwicklung etwa von Rossellinis "Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt, 1945) oder Viscontis "La terra trema" (Die Erde bebt, 1948), an dem er erstmals beteiligt war, und verdeutlicht, das der Realismus im italienischen Film keine zeitliche Limitierung kennt.
 

"I magliari", der als zweite alleinige Regiearbeit nach "La sfida"(1958) entstand - er hatte zuvor bei "Camicie rosse" (Anita Garibaldi, 1952) mit Goffredo Alessandrini und "Kean" (1956) mit Vittorio Gassman zusammen gearbeitet - zeigt einige stilistische Parallelen zum klassischen neorealistischen Film und wirkt, nicht nur wegen Renato Salvatori in einer der Hauptrollen, wie ein Vorläufer zu "Rocco e i suoi fratelli" (Rocco und seine Brüder, 1960) von Luchino Visconti. Thematisch widmen sich beide Filme den Folgen des Zwangs, aus der Heimat auswandern zu müssen, um Arbeit zu finden. In "Rocco e i suoi fratelli" gehen die Protagonisten aus dem armen Süditalien ins wohlhabende Norditalien, in "I magliari" sucht der Toskaner Mario Balducci (Renato Salvatori) Arbeit in Deutschland. Innerhalb der Story - besonders hinsichtlich der Anlage der weiblichen Hauptfigur - lassen sich ebenfalls Übereinstimmungen zu Viscontis Film finden, aber während "Rocco e i suoi fratelli" trotz dessen epischer Erzählweise häufig als Abschluss seiner neorealistischen Phase angesehen wird, ist "I magliari" diesem Stil tatsächlich wesentlich näher. 

Entsprechend konsequent verzichtete der Titel "I magliari" (wörtlich "Die Tuchhändler") auf jedes schmückende Beiwerk, wohingegen der deutsche Titel "Auf St. Pauli ist der Teufel los" unpassend marktschreierisch wirkt. Sicherlich stand auch ein gewisser Werbeeffekt dahinter, aber tatsächlich waren Francesco Rosis realistische Aufnahmen von Hannover und Hamburg, besonders deren Nachtleben – Striptease-Schuppen, Lokale, Cafés und Bordelle (darunter auch Originalaufnahmen der "Herbertstraße") – Ende der 50er Jahre noch eine Sensation. Erstaunlich ist nicht, dass einige dieser Szenen in der deutschen Fassung herausgeschnitten wurden. Aus heutiger Sicht liegt deren Besonderheit in der Authentizität und der atmosphärischen Dichte, begleitet von zeitgenössischer Musik, die einen genauen Eindruck des Lebens in der Bundesrepublik Deutschland dieser Zeit widerspiegeln. Rosi beurteilte nicht, sondern bildete nur ab, worin sich die Entwicklung seines Stils ablesen lässt – in der Gestaltung erinnert er an die neorealistischen Einflüsse, in seiner Neutralität an seine zukünftigen Filme.

In ihrer Zurückhaltung und damit dem Versuch, die Geschehnisse aus einem objektiven Winkel zu betrachten, weist auch die Story auf seine späteren semi-dokumentarischen Werke hin, obwohl sie in der Anlage eher konventionell ist. Weil Mario seine Arbeit verloren hat, will er wieder in seine toskanische Heimat zurückkehren, lernt vorher aber Totonno (Alberto Sordi) kennen, einen offensichtlich erfolgreichen Geschäftsmann, der mit einem schönen Auto durch Deutschland fährt und Stoffe verkauft. Dieser will ihn in der größtenteils aus Neapolitanern bestehenden Gruppe von Tuchhändlern unterbringen, die unter der Leitung von Don Raffaele (Carmine Ippolito) im Raum Hannover arbeitet, plant aber heimlich eine eigene Verkäufergruppe unter seiner Leitung in Hamburg. Dafür nutzt er den Kontakt zu dem reichen deutschen Geschäftsmann Mayer (Josef Dahmen), in dessen viel jüngere Ehefrau Paula (Belinda Lee) sich Mario verliebt.


Diese Szenen leben vor allem vom Spiel Alberto Sordis, der Totonnos Betrügereien hinter viel Witz und Emotionalität verbirgt. Der etwas ruhige, manchmal naiv wirkende Mario wird von ihm mitgerissen, obwohl er dessen falsches Spiel durchschaut, aber als er mit Paula eine Affäre beginnt, schwindet dessen Einfluss. „I magliari“ erzählt im Prinzip eine dramatische Geschichte von Verrat, Betrug, Bandenkrieg und einer unglücklichen Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann, der gezwungen ist, weit entfernt von seiner Heimat Arbeit zu suchen, und einer jungen Frau, die früher in Italien als Prostituierte gearbeitet hatte, sich jetzt aber nicht mehr von ihrem reichen Ehemann trennen will, um ihre materielle Sicherheit zu behalten. 

Doch Francesco Rosi entwickelt seine Story ohne emotionale Schürung und vermeidet extreme Konsequenzen. Das Leben geht in „I magliari“ weiter und die Tragik dahinter zeigt sich alleine in der jeweiligen persönlichen Reaktion – der fehlenden Selbsteinsicht oder einer Entscheidung gegen die eigenen Emotionen. Dank dieser Distanz zum Geschehen, aber auch zu seinen Protagonisten, ist „I magliari“ kein aufrüttelnder Film, keine politische Anklage geworden, sondern das Zeitgemälde einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs. Eine Wertung überlässt Francesco Rosi dem Betrachter und verweist damit direkt auf seine kommenden Werke.

"I magliari" Italien, Frankreich 1959, Regie: Francesco Rosi, Drehbuch: Francesco Rosi, Suso Cecchi D'Amico, Darsteller : Alberto Sordi, Renato Salvatori, Belinda Lee, Aldo Giuffrè, Nino Vingelli, Laufzeit : 112 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Francesco Rosi:

Mittwoch, 23. Mai 2012

L'istruttoria è chiusa: dimentichi (Das Verfahren ist eingestellt: vergessen Sie's!) 1971 Damiano Damiani


Inhalt: Weil er im Verdacht steht, bei einem Autounfall einen Menschen getötet zu haben, kommt der Architekt Vanzi (Franco Nero) in Untersuchungshaft, obwohl er seine Unschuld beteuert. Während draußen die Mühlen der Justiz nur sehr langsam arbeiten, wird er in eine Zelle mit Schwerverbrechern gesteckt, die ihn mit Gewaltandrohungen dazu zwingen, sich mit seinem Geld Privilegien zu erkaufen.

Als Vanzi vor Todesangst kaum noch schlafen kann, wendet er sich an Campoloni (Georges Wilson), einen einflussreichen, älteren Häftling, und bittet ihn, in eine andere Zelle verlegt zu werden. Nur wenig später wird ihm dieser Wunsch erfüllt, den er sich aber mit Gegenleistungen noch verdienen muss...


Damiano Damianis "L'istruttoria è chiusa: dimentichi" (Das Verfahren ist eingestellt : Vergessen Sie' s!) nimmt innerhalb seiner zwischen dem Ende der 60er und Mitte der 70er Jahre entstandenen Polit - Thriller eine Sonderstellung ein. Befassten sich "Il giorno della civetta" (Der Tag der Eule, 1968) und "La moglie più bella" (Recht und Leidenschaft, 1970) noch mit den inneren Strukturen der Mafia und ihren Verpflechtungen in der Gesellschaft, waren "Confessione di un commissario di polizia alprocuratore della repubblica" (Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauerte, 1971), "Perché si uccide un magistrato ?" (Warum musste Staatsanwalt Traini sterben ?, 1974 - hier allerdings in der Rolle eines Regisseurs, der den Fall aufklären will) und "Io ho paura" (Ich habe Angst, 1977) auf der Seite der Ermittler angekommen, die unter Lebensgefahr versuchten, gegen die zunehmende Unterwanderung des Rechtsstaates anzukämpfen.

Seine Filme entwickelten sich zu einer immer generelleren Betrachtung dieser Situation - weg von den kleinstädtischen Mafia - Clans, hin zu einer Gesellschaft, die bis in die höchsten politischen Ämter infiltriert wurde. Franco Nero übernahm in den meisten dieser Filme die wichtige Rolle des Kämpfers gegen einen überlegenen Feind - zuerst noch als einfacher Polizist, später als Staatsanwalt - der in der Regel allein versucht, dessen Machenschaften zu unterbinden. Damiani machte aus seiner pessimistischen Haltung kein Geheimnis, aber in Neros engagierten Rollen verbarg sich noch ein letzter Rest Anstand und Unbestechlichkeit und damit die Hoffnung, die Situation noch ändern zu können. Allein schon die Tatsache, dass Jemand dagegen ankämpfte, hielt diese Illusion aufrecht, so demoralisierend das Ergebnis oft auch war. 
 

Mit diesen gleichzeitig hintergründigen und aktionistischen Polizeifilmen hat "L'istruttoria è chiusa: dimentichi" scheinbar nur wenig gemeinsam. Fast intim und bis auf die letzten Minuten nur in einem Gefängnis spielend, entwickelt der Film eine Story, die auf jede Einleitung oder einen übergeordneten Rahmen verzichtet. Der Architekt Vanzi (Franco Nero) kommt ins Gefängnis und wird nach einem kurzen Gespräch mit dem Gefängnisdirektor (Ferruccio De Ceresa), der ihn einen Moment lang mit einem Mörder verwechselt, in eine Zelle gesteckt. Zuerst noch allein, gerät er bald in eine Gemeinschaftszelle, besetzt von Schwerverbrechern, darunter Piro (John Steiner), der mehrfach lebenslänglich verurteilt wurde.

Trotz einiger vertrauter Genre - Elemente, ist Damiani an keinem klassischen Gefängnis-Film interessiert, auch nicht an einer Kritik an den Zuständen innerhalb der Gefängnismauern, sondern er nutzt den begrenzten Raum, um von innen heraus ein Gesellschaftsbild zu entwickeln, das zusammenfasst, was seine anderen Polit - Thriller im Detail behandeln. Der Betrachter erfährt dabei immer nur so viel, wie sein Protagonist, aus dessen Blickwinkel der gesamte Film erzählt wird. So wird es auch nicht ersichtlich, wie sein Anwalt versucht, die Vorwürfe zu entkräften, Vanzi hätte bei einem Unfall einen Menschen getötet, weshalb er in Untersuchungshaft kam. Deutlich wird dagegen, dass er zum passiven Spielball von Interessen wird, die er nicht kennt.
 

Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass es in dem älteren Häftling Campoloni (Georges Wilson) eine Art Paten gibt, der in souveräner Form die Geschicke aller Anwesenden leitet. Auch Vanzi, dessen Profession als Architekt ständig erwähnt wird und damit dessen gehobene bürgerliche Stellung, wendet sich an ihn, als er sich in seiner Zelle bedroht fühlt, um ihn um eine Verlegung zu bitten. Damit begibt er sich in eine Abhängigkeit, deren Folgen er noch nicht ermessen kann. Damiani verzichtet konsequent auf Hintergrundinformationen, zeigt keine konkreten Verbindungen oder Machtstrukturen auf, lässt aber zunehmend erkennen, das alles was im inneren Bereich des Gefängnisses geschieht, von außen beeinflusst wird. So begrenzt die Räume sind, so unwichtig der einzelne Häftling scheint, so wesentlich kann deren Schicksal für die Machtinteressen bestimmter Gruppen sein.
 
In dieser Konstellation ähnelt der Film Damianis anderen Polit-Thrillern, aber der entscheidende Unterschied liegt in der Rolle Franco Neros. Das er hier keinen Vertreter des Staates spielt, sondern einen normalen, wenn auch angesehenen Bürger, ist nur ein äußerlicher Aspekt, denn Vanzi, als er erkennt, das man ihn dazu benutzen will, seinen Mitinsassen Pasenti (Riccardo Cucciolla) zu verraten, beginnt sich zu wehren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er keinen souveränen Eindruck hinterlassen, hatte sich mit seinem Geld Privilegien erkauft, die dem verheirateten Mann auch Sex mit einer Insassin des benachbarten Frauengefängnisses in der Krankenstation ermöglichten, und wurde nicht wirklich ernst genommen von den meisten seiner Mithäftlinge. Allerdings hatte er bisher nur versucht, irgendwie zurecht zu kommen, aber als Pasenti sich ihm anvertraut, wird er Zeuge eines großen Komplotts und begreift, dass dieser in Lebensgefahr schwebt. 

Einen Moment zeigt Franco Nero auch in "L'istruttoria è chiusa: dimentichi" wieder Anstand und Unbestechlichkeit, aber diesen Eindruck zerstört Damiani unmittelbar. Vanzis Situation im Gefängnis erlaubt keinen Widerstand und er erfährt schnell, was dem geschieht, der sich nicht an die ungeschriebenen Gesetze hält. Dass Franco Nero in gewohnt überzeugender Manier diese Rolle übernahm, zudem optisch und im Gestus den Gesetzesvertretern in Damianis anderen Filmen ähnlich, lässt erkennen, wie gut dieses System aus Bedrohung und Belohnung funktioniert und wie schwach der Einzelne ist.

Im Vergleich zu seinen Polit-Thrillern und Polizeifilmen, die in dieser Phase großer politischer Auseinandersetzungen in Italien entstanden waren, ist "L'istruttoria è chiusa: dimentichi" heute eher unbekannt, obwohl er sich thematisch eingliedert. Vielleicht ist dieses der Kritik an einem gebildeten Bürgertum geschuldet, das sich zunehmend aus der Verantwortung stahl und ins Privatleben zurückzog. Es ist deshalb weniger die Begrenztheit des Handlungsraums, noch der fehlende Blick aus der Totalen, der den Unterschied ausmacht, als der Verzicht auf jeden Hoffnungsschimmer, mit dem Damiani seinen Film beendet. Dabei schließt er mit einer fröhlichen, ausgelassenen Szene und einem selbstbewusst schwadronierenden Protagonisten im Mittelpunkt - doch dieser hat jeden Mut und Anstand verloren.

"L'istruttoria è chiusa: dimentichi" Italien, Frankreich 1971, Regie: Damiano Damiani, Drehbuch: Damiano Damiani, Massimo De RitaDarsteller : Franco Nero, John Steiner, Georges Wilson; Riccardo Cucciolla, Ferrucio De Ceresa, Laufzeit : 102 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Damiano Damiani:

Montag, 14. Mai 2012

L'onorevole Angelina (Abgeordnete Angelina) 1947 Luigi Zampa


Inhalt: Angelina Bianchi (Anna Nagnani) und ihr Mann Pasquale (Nando Bruno) leben mit ihren fünf Kindern innerhalb eines römischen Quartiers, dessen Häuser während der Zeit des Faschismus nicht fertiggestellt wurden. Obwohl ihr Mann als Polizist arbeitet, haben sie kaum genug Geld für die Ernährung ihrer Kinder, noch können sie sich eine bessere Wohnung leisten. Journalisten kommen tagsüber, um sensationslüstern über die primitiven Bedingungen zu berichten, unter denen die Menschen hier leben - keine Innentüren, keine Bäder und kein fließendes Wasser, selbst an die öffentlichen Verkehrsmittel sind sie nicht angeschlossen.

In unmittelbarer Nähe entstehen neue Wohnblocks, aber die Arbeiten daran ruhen schon einige Zeit. Zudem nutzt der einzige Händler die Notlage der Bewohner aus und hortet die zugeteilten Lebensmittel heimlich, um sie teurer auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Als Angelina keine Pasta für ihre Familie kaufen kann, durchschaut sie sein Spiel und es gelingt ihr, gemeinsam mit den anderen Frauen, sein Lager zu plündern. Da er selbst unrecht gehandelt hat, kann er sie dafür nicht verhaften lassen. Davon ermutigt, beginnt Angelina, auch gegen die anderen Missstände anzukämpfen...


Seitdem Anna Magnani in Roberto Rossellinis "Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt) 1945 eine emotional beeindruckende Vorstellung gegeben hatte, war sie für die im realistischen Stil inszenierenden Regisseure der Nachkriegszeit in den Focus gerückt. Mit Alberto Lattuada drehte sie 1946 "Bandito", Rossellini arbeitete erneut 1948 mit ihr zusammen in "Amore", Luchino Visconti besetzte sie in der Hauptrolle in "Bellissima" 1951 und noch 1962 war sie für Pier Paolo Pasolini "Mamma Roma", aber sie blieb auch den komödiantischen Rollen treu, in denen sie seit Mitte der 30er Jahre mehrfach reüssiert hatte. Das Spiel Anna Magnanis befand sich meist auf dem schmalen Grat zwischen Drama und Komödie. Nur wenige Darsteller konnten in ihren Rollen die fließenden Grenzen zwischen Trauer und Freude so deutlich werden lassen.

In den Werken des Neorealismus, besonders Mitte der 40er Jahre, wurde die Darstellung der offensichtlichen Missstände, basierend auf dem Wunsch nach einem politisch, gesellschaftlichen Wandel, noch sehr ernsthaft inszeniert, während Luigi Zampa auch Anna Magnanis komödiantisches Talent für seinen Film nutzte - vielleicht liegt darin eine Erklärung dafür, warum "L'onorevole Angelina" (Abgeordnete Angelina) heute nicht zum Kanon des Neorealismus gezählt werden, obwohl der Ausgangspunkt der Handlung, die Zustände im römischen Quartier „Pietralata“ nach dem Ende des Faschismus, bemerkenswert realistisch dargestellt ist.

Das Haus, in dem Angelina (Anna Magnani) mit ihrem Mann Pasquale (Nando Bruno) und ihren fünf Kindern lebt, gehörte zu einer Siedlung, die noch während der Mussollini - Zeit entstanden war, aber nie fertig gestellt wurde. Zampa lässt die Kamera von außen eindringen, zeigt den nackten Beton der herunter gekommenen Gebäude und wirft den Blick auf die spärlich eingerichteten Innenräume, wo die Bewohner auf Matratzen schlafen, ohne durch Innentüren getrennt zu sein. Weder gibt es ein Bad, noch fließendes Wasser. Die Authentizität dieser Zustände unterstrich Zampa noch durch die Journalisten, die diese unzumutbaren Lebensverhältnisse sensationslüstern auf Bildern festhielten. Dass die Gebäude zudem in das Hochwassergebiet des nahe gelegenen Flusses gebaut worden waren und regelmäßig überschwemmt wurden, gehört heute zur römischen Stadtgeschichte.

Der Grund, warum Menschen an einem solchen Ort leben müssen, lässt der Film schon im ersten Dialog deutlich werden – sie sind zu arm, um sich eine bessere Wohnung leisten zu können. Angelina und ihr Mann liegen schlaflos in ihrem Bett, in der Sorge um die Ernährung ihrer fünf Kinder, obwohl Pasquale sogar einen Job als Polizist hat. Zampa entwirft ein komplexes Bild einer Nachkriegszeit, in der es einerseits an den notwendigen Dingen fehlte, während andererseits Geschäftemacher diese Notlage ausnutzten. So hortet der einzige Händler am Ort seine Waren, um sie für deutlich mehr Geld auf dem Schwarzmarkt verkaufen können, während die Anwohner mit ihren geringen Geldmitteln vor seinem leeren Laden stehen. Als Angelina diesen Plan durchschaut und sie gemeinsam mit den anderen Frauen dessen Lager plündert, gewinnt sie erstmals an Reputation innerhalb der Mitbewohner, besonders als sich herausstellt, das sie nicht verhaftet wird, da der Händler selbst gegen das Gesetz verstoßen hatte.

Parallel entsteht der Konflikt mit ihrem Mann, der nichts von dem Essen haben will, das aus gestohlenen Zutaten gekocht wurde. Es ist nicht nur sein Beruf als Polizist, der ihn mit den Gesetzesübertretungen konfrontiert, sondern auch als Mann sieht er seine Position gefährdet, die ihn immer mehr dazu zwingt, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Doch das hält Angelina nicht davon ab, weitere Rechte einzufordern. Als der Fluss wieder über das Ufer tritt und ihre Gebäude unbewohnbar werden, besetzt sie mit den übrigen Einwohnern des Quartiers einen nahe gelegenen mehrstöckigen Neubau, der als Ersatzbau geplant worden war, dessen Bauarbeiten aber schon einige Zeit zum Stillstand gekommen waren. Dieser Baustopp hatte ebenfalls spekulative Hintergründe, weshalb der reiche Geschäftsmann und Besitzer des Gebäudes Callisto Garrone (Armando Migliari) sich persönlich um den Konflikt kümmert und dabei taktisch klug vorgeht.

Angesichts dieses Szenarios hätte „L’onorevole Angelina“ ein pessimistischer Film werden können, nicht nur über das ergebnislose Anrennen des einfachen Bürgers gegenüber kapitalistischen Interessen, sondern auch über die mangelnde Solidarität unter den Armen und die Bereitschaft jedes Einzelnen, sofort den eigenen Vorteil zu nutzen. Tatsächlich beschreibt Zampas Film die Realität genau in diesem Sinn, aber er hinterlässt einen anderen Eindruck, der nur Anna Magnanis Spiel zu verdanken ist. Das ist einerseits konsequent, denn wäre sie weniger authentisch und mitreißend, nähme man ihr ihre Position als Anführerin, die dank großen Zuspruchs in der Bevölkerung die Chance erhält, als Abgeordnete ins Stadtparlament zu gelangen, gar nicht ab. Andererseits nimmt ihre emotionale Art und ihre tatsächliche Ehrenhaftigkeit (der italienische Begriff „onorevole“ bedeutet auch „ehrenhaft“, sozusagen als Grundeigenschaft eines Abgeordneten), die auch den Versuchungen der Führungsschicht widersteht, den Konflikten die Spitze.

Auch die kleine Liebesgeschichte zwischen Angelinas fast erwachsener Tochter und dem Sohn des Geschäftsmanns (Franco Zeffirelli) vermittelt einen leichteren Grundton, wie auch die Auseinandersetzung mit ihrem Mann Pasquale. Als dieser, demoralisiert von seiner Rolle als Hausmann, sie verlassen will und um eine Versetzung bei der Polizei bittet, kehrt sie reumütig zu ihm zurück und verzichtet auch auf ihre Position als Abgeordnete, um sich wieder ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu widmen. Äußerlich erinnert diese Konstellation an klassische Komödien, in denen am Ende die Konvention siegt, aber Anna Magnanis Fähigkeit, selbst kritischsten Momenten noch positive Aspekte abzugewinnen - etwa als ihre Mitbewohner sich von ihr verraten fühlen und auf sie einstürmen – schließt auch das Gegenteil ein. Als sie ihrem Mann mitteilt, das alles in seinem Sinn geschehen wird, und sie ihre Kinder dazu auffordert, wieder Respekt vor ihrem Vater zu haben, wirkt das keinen Moment unterwürfig, sondern selbstbewusst und bestimmend.

Trotz des realen Hintergrunds, hinterlässt „L’onorevole Angelina“ nicht den tragischen, aufrüttelnden Eindruck anderer neorealistischer Werke dieser Zeit, bedingt durch die menschlich, emotionalen Verwicklungen, die sich letztlich in Wohlgefallen auflösen, was dem Film ein wenig die Reputation als zeitkritisches Werk nahm. Dabei verbirgt sich hinter dem aufregenden, schnellen Geschehen ein Stillstand, der pessimistischer nicht sein könnte. Zampa beschließt sein Werk mit der gleichen Szene, mit der er begann – während die Kinder in den provisorischen Räumen auf ihren Matratzen liegen, kann das Ehepaar Angelina und Pasquale vor Sorgen nicht schlafen. Es ist viel passiert – es wurde gekämpft, gestreikt, gestritten, eingesperrt, sich geeinigt und versöhnt – aber geändert hat sich nichts. In Zampas Film fällt das nur nicht so schnell auf – wie im richtigen Leben.

"L'onorevole Angelina" Italien 1947, Regie: Luigi Zampa, Drehbuch: Piero Tellini, Suso Cecchi d'Amico, Darsteller : Anna Magnani, Nando Bruno, Armando Migliari, Franco Zeffirelli, Ave Ninchi, Laufzeit : 88 Minuten


Dienstag, 8. Mai 2012

Rocco e i suoi fratelli (Rocco und seine Brüder) 1960 Luchino Visconti


Inhalt: Nach dem Tod des Familienvaters, fährt die Familie Rapondi, bestehend aus den vier Brüdern Simone (Renato Salvatori), Rocco (Alain Delon), Ciro (Max Cartier) und Luca (Rocco Vidolazzi) sowie ihrer Mutter Rosaria (Katina Paxinou), von Süditalien nach Mailand, um dort an der Seite des ältesten Bruders Vincenzo (Spiros Focás) ein neues Leben anzufangen. Dieser wohnt dort schon einige Zeit und sie erhoffen sich von ihm eine Unterkunft und Arbeit. Doch Vincenzo reagiert überrascht, als seine Familie vor der Wohnung seiner zukünftigen Schwiegereltern steht, wo sie gerade seine Verlobung mit Ginetta (Claudia Cardinale) feiern.

Nachdem seine Mutter die Umstände erfahren hatte, reagiert sie verärgert und zwingt Vincenzo, sich um sie zu kümmern, wie es seine Aufgabe als Familienoberhaupt wäre. Vincenzo fügt sich, organisiert eine Unterkunft, nachdem er erfahren hatte, mit welcher Methode seine Familie später an eine anständige Stadtwohnung kommt, und nimmt seine Brüder Simone und Rocco mit zum Boxtraining. Dort werden die Verantwortlichen aufmerksam auf den schlagkräftigen Simone und bieten ihm einen Vertrag an…


Als die vier Brüder Simone (Renato Salvatori), Rocco (Alain Delon), Ciro (Max Cartier) und Luca (Rocco Vidolazzi) Parondi sowie ihre Mutter Rosaria (Katina Paxinou) aus Apulien am Mailänder Bahnhof ankommen, werden sie dort nicht erwartet. Im Gegenteil ist der älteste Sohn Vincenzo (Spiros Focás), der schon einige Zeit in Mailand lebt, überrascht, als seine Familie vor der Wohnung steht, wo er gerade mit der Familie von Ginetta (Claudia Cardinale) ihre gemeinsame Verlobung feiert. Was einen Moment zu einem Freudenausbruch führt, endet schnell in einem Eklat - Vincenzos Mutter ist erbost darüber, das ihr Sohn keine Trauer hinsichtlich des Todes seines Vaters zeigt und sie nicht zuvor gefragt wurde. Vincenzo ordnet sich dem Diktat seiner Mutter unter, die ihm auch den weiteren Umgang mit Ginetta verbietet, und folgt ihr in eine triste Kellerwohnung, in der die Familie kurz darauf unterkommt.

Läge Luchino Viscontis Intention nur in der Beschreibung des Zerfalls einer Familie aus dem ländlichen Raum Süditaliens, die auf Grund der dort herrschenden Armut und Arbeitslosigkeit gezwungen ist, nach Mailand auszuwandern - wie es häufig oberflächlich interpretiert wird - hätte er seinen Film nach wenigen Minuten beenden können. Dieser Zerfall zeigt sich schon in der ersten Szene des Films, worüber auch die von der Mutter erzwungene Rückkehr Vincenzos in den Familienkreis nicht hinweg täuschen kann. Nur wenig später wird er sich heimlich widersetzen. Darin eine Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen in der Großstadt und dessen Auswirkungen auf die Sozialisation zu verstehen, greift ebenfalls zu kurz, denn das setzte voraus, das ihre vorherige Situation intakt gewesen wäre. Doch der Familie ging es zuvor, auch als der Vater noch lebte, schlecht, wie vielen ihrer apulischen Landsleuten – Rocco erwähnt einmal, das Landarbeiter, die sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen auflehnten, im Gefängnis landeten.

Auf diese Zustände, im Grunde die Ursache für das Verlassen der Heimat, geht Visconti nicht näher ein. Zudem beschreibt er das Stadtleben ohne übertriebene Dramatik und vermittelt nie den Eindruck, als ginge es der Familie hier schlechter. Jeder der Brüder erhält seine Chance und selbst die ärmlichen Wohnverhältnisse stellen sich nur als Übergangsphase heraus. Dieser Aspekt ist von wesentlicher Bedeutung, denn anders als Pier Paolo Pasolini in „Accattone“ von 1961, wollte Visconti keine konkrete Kritik an menschenunwürdigen Verhältnissen üben, auch die Folgen der Industrialisierung und des damit einher gehenden Kapitalismus waren in Apulien nicht weniger deutlich hervorgetreten, sondern einen generellen Blick auf eine sich rasant verändernde Gesellschaft und deren Auswirkungen auf den Einzelnen werfen. Das er sich beispielhaft auf eine Familie aus Süditalien konzentrierte, ließ den Bruch zwischen einer Tradition, die Jahrhunderte überdauert hatte, und einer Gegenwart, die die Unterschiede in den Lebensformen zunehmend nivellierte, stärker hervortreten.

Auch in seinem nachfolgenden Film „Il gattopardo“ (Der Leopard, 1963) ging es um diese gesellschaftlichen Veränderungen, aber aus einem frühen, übergeordneten Blickwinkel heraus, während es sich bei den Mitgliedern der Familie Rapondi um das letzte Glied in dieser Kette handelt und damit um Menschen, deren Handeln unmerklich bestimmt wird. Der strenge Formalismus, mit dem Visconti seinen Film in fünf Kapitel aufteilte – jeweils einem Bruder gewidmet, dem Alter nach geordnet – weist darauf hin, das eine Reduzierung der Thematik auf das Schicksal heimatlos gewordener Menschen im industrialisierten Norden seinem generellen Gedanken nicht gerecht wird. Die häufig hergestellte Verbindung zum Stil des Neorealismus der 40er Jahre, ist nicht korrekt, sieht man einmal davon ab, dass der Film in der realen Gegenwart spielt. Nur zwei der fünf Brüder wurden von einem Italiener gespielt, die Darstellerin der Mutter ist Griechin – Viscontis Konzentration lag weder auf einem Naturalismus, noch auf der genauen Darstellung realer Lebensverhältnisse, sondern auf einem epischen Drama, das die emotionalen Auswirkungen des gesellschaftliche Wandels am Beispiel von fünf männlichen Prototypen demonstriert.


Vincenzo:

Als Erstgeborener wäre Vincenzo prädestiniert für die Hauptrolle gewesen, aber stattdessen nimmt er in Viscontis Film nur eine untergeordnete Funktion ein. Spätestens nach dem Tod des Vaters hätte er als Familienoberhaupt für den Schutz und die Versorgung der restlichen Familie sorgen müssen – so wie es Tradition in seiner südlichen Heimat war und wie es seine Mutter einfordert. Zwar bemüht er sich kurzfristig, den Brüdern zu helfen, stellt auch den Kontakt zu dem Boxstall her, der darauf hin Simone verpflichtet, und organisiert eine Unterkunft, aber darüber hinaus gilt sein Augenmerk dem eigenen Leben. Die Beziehung zu Ginetta und die Akzeptanz ihrer Familie hatte er sich schon vor der Ankunft seiner Familie in Mailand erworben und auch seine Mutter kann ihn nicht davon abbringen.

Visconti widmet seinem weiteren Lebensweg nur wenige Szenen, ohne diese inhaltlich zu vertiefen. Von eventuellen Problemen erfährt der Betrachter nichts – die Hochzeit und die Geburt zweier Kinder erzeugen das Bild eines funktionierenden bürgerlichen Lebens. Er hält zwar weiterhin verlässlich Kontakt zu seiner Familie, aber ohne seine traditionelle Rolle einzunehmen, was sich im Konflikt zwischen Simone und Rocco offenbart, in den er sich nicht einmischt. Visconti betrachtete seine Entwicklung keineswegs kritisch, sondern zeigt in seiner Figur auch die Vorteile einer individualisierten Gesellschaft. Als seine Mutter Rosario mit der ihr üblichen Vehemenz und Theatralik von ihm die Rolle als Familienoberhaupt einfordert, spürt man die Last dieser Verantwortung. Die Veränderung hin zu einer modernen Gesellschaft, auch unter dem Diktat einer Leistungsgesellschaft, hätte nicht funktioniert, wenn nicht gleichzeitig auch Freiräume entstanden wären.


Simone:

Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, steht lange Zeit Simone im Mittelpunkt der Handlung. Als Zweitältester nicht im gleichen Maße mit Verantwortung für die Familie belastet, gesteht ihm seine Mutter, da er sich zudem als der talentierteste Boxer unter den Brüdern herausstellt, den Freiraum zu, sich auszuleben. Das er später zu einer tragischen Figur wird, ließe ihn leicht als Opfer der Verhältnisse anzusehen – ein unerfahrener, naiver Junge vom Land, der zuerst den Verlockungen der Großstadt erliegt, um später an deren harten Regeln zu scheitern. Doch Visconti interessiert dieses Klischee nicht, sondern entwickelt seine Figur komplex im Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne.

Sein plötzlicher Erfolg beim Boxen und die Aussicht auf Wohlstand, erzeugt bei Simone natürlich eine gewisse Erwartungshaltung, aber für eine solche Konstellation bräuchte es keinen Jungen vom Land – auch andere Charaktere könnten die Bodenhaftung verlieren. Zudem verzichtet der Film auf jede plakative Zuspitzung – weder der Trainer, noch sein Promoter sind unanständige oder besonders eigennützige Charaktere. Im Gegenteil leiden sie unter Simones fehlender Ernsthaftigkeit, der sich nur schwerlich zu einem disziplinierten Leben und dauerhaftem Training durchringen kann. Visconti zeichnet Simone als einen unsteten, fragilen Charakter, dessen Begegnung mit der Prostituierten Nadia (Annie Girardot), die auf der Flucht vor einem Freier zufällig in der Kellerwohnung der Parondis auftaucht, erst die eigentliche Konfrontation auslöst.

In der Figur der Nadia kulminiert das Drama in „Rocco e i suoi fratelli“, denn ihre offensive Sexualität und ihr spielerischer Umgang damit, trifft auf einen noch tief in den traditionellen Geschlechterrollen verhafteten Mann, der einerseits fasziniert ist, andererseits ihre Signale nicht begreift. Simone, der sich in sie verliebt, interpretiert ihr Verhalten als Entgegenkommen, da er ihre Sexualität stärker deutet, als ihre Sprache. Aber zur Katastrophe kommt es erst, als er, obwohl er sie zu diesem Zeitpunkt fast zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte, erfährt, das sie mit seinem Bruder Rocco zusammen ist. Visconti entwickelt ein klassisches Liebesdrama, das sich noch steigert, als Rocco auf die Beziehung mit ihr zugunsten seines Bruders verzichtet – und Nadias Gefühle damit enttäuscht.

Zu einer ähnlichen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern wäre es in Apulien wahrscheinlich nicht gekommen, aber nur, weil die traditionellen Verhaltensregeln eine solche Konstellation von vornherein verhindert hätten. In der Gegenwart der Großstadt waren viele dieser Regeln verloren gegangen, aber Viscontis Intention lag nicht in der Konservierung alter Muster, sondern in der Kritik an der neuen Leistungsgesellschaft. Es ist nicht Simone, der diesen Zustand symbolisiert, denn er reagiert noch archaisch, nicht fähig, sich anzupassen, sondern Nadia. Sie ist eine Verlorene, einerseits in der Gegenwart angekommen, deren Vorteile sie zu genießen scheint, sprachlich und sexuell emanzipiert, aber ohne echten Halt, weshalb sie sich in den Mann verliebt, der ihr dieses Gefühl vermitteln kann.


Rocco:

Als mittlerer Bruder bleibt Rocco lange Zeit unscheinbar, wird auch beim Boxen nicht entdeckt, arbeitet in einer Wäscherei und geht, als es dort Ärger mit seinem Bruder Simone gibt, zum Militär. Alain Delon wirkt in seiner Rolle anfangs fast einfältig, sprachlich langsam und ohne besondere Energie, aber mit der Zeit wird deutlich, das er das eigentliche Zentrum der Familie ist und Derjenige, der am stärksten mit seiner Heimat verwurzelt bleibt. Das er sich auch in Nadia verliebt, als er sie nach seinem Militärdienst zufällig wieder trifft, liegt an ihrem vollständig anderen Verhalten ihm gegenüber. Offen berichtet sie ihm von ihrer Gefängnisstrafe und ebenso ehrlich ist sie in ihren Gefühlen.

Rocco wirkt auch in der Großstadt geerdet, nie seine inneren Prinzipien verratend und diszipliniert in seinem Verhalten. Als Simones Trainer, entnervt von dessen Eskapaden, Rocco erneut boxen sieht, fällt ihm dessen Talent erstmals auf. Er erfährt, dass der junge Mann seine Zeit beim Militär für intensives Training genutzt hatte, und empfiehlt ihn weiter. Das sie seinen Bruder statt ihn fördern, interessiert Simone, der zuletzt nur noch verloren hatte, scheinbar nicht mehr, erst dessen Beziehung zu Nadia lässt alle inneren Verletzungen aus ihm herausbrechen.

Doch für Rocco gelten weiterhin die Ideale der Familie, weshalb er Simone, trotz dessen gewalttätigen Ausbruchs, verzeiht und auf Nadia verzichtet. Zunehmend wird deutlich, dass Rocco zur eigentlichen tragischen Figur wird, dessen Anstand ihn in die Abhängigkeit treibt und die junge Frau, die bei ihm Halt fand, zerstört. Simones Entwicklung zum Verbrecher, der sich trotz des Verhaltens seines Bruders nicht versöhnlich zeigt, den äußeren Umständen anzulasten, wäre dagegen verfehlt, denn er hatte unter den Brüdern die besten Voraussetzungen. Viel mehr vermittelt Visconti, das Roccos Festhalten an den erlernten Regeln seiner Heimat und sein soziales Verhalten innerhalb der Familie nicht mehr zeitgemäß sind. Sein fehlender Egoismus kehrt sich gegen ihn.


Ciro:

Als Zweitjüngster kann sich Ciro im Schatten der großen Brüder unauffällig entwickeln. Er, noch jugendlich bei der Ankunft in Mailand, macht eine Ausbildung bei Alfa Romeo, und bekommt danach einen Job in deren Motor-Fabrik. Äußerlich ähnelt sein solides Leben dem seines ältesten Bruders Vincenzo - auch er steht kurz davor, eine Familie zu gründen - aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Vincenzo war noch ein Einwanderer aus dem Süden, Ciro ist schon ein Teil der Großstadt.

Lange Zeit kommt Ciro in Viscontis Film nur am Rande vor, aber im letzten Drittel wird er zu einer bestimmenden Figur. Im Gegensatz zu Vincenzo, der sich aus allem raus hält, mischt sich Ciro ein und bietet Simone Geld dafür, das er Mailand verlässt und die Familie in Ruhe lässt. Anders als Rocco, der alles versucht, Simone wieder zurückzuholen, denkt Ciro pragmatisch. Die Familie ist für ihn ein Konstrukt, das funktionieren soll. Sein Selbstbewusstsein zieht er aus seinem beruflichen Fortkommen, nicht erkennend, das er nur ein kleiner Arbeiter in einem großen Betrieb ist, der als Teil einer Schicht von Sirenen zur Arbeit gerufen wird.

An der Figur des Ciro zeigt sich erneut, dass nicht die dramatischen Ereignisse um Simone die eigentliche Intention Viscontis transportieren, sondern die scheinbaren Nebenfiguren. In Ciro hat sich schon die Haltung der modernen Leistungsgesellschaft manifestiert, einer allgemeinen Effektivität verpflichtet, aber ohne den Verlust der eigenen Identität noch zu bemerken. Auch dahinter verbirgt sich eine Tragik, aber keine, die Ciro noch selbst spürt.


Luca:

Der jüngste Sohn, zum Ende des Films immer noch ein Kind, funktioniert vor allem als Projektionsfläche für seine Brüder. Fälschlicherweise wird in einigen Texten behauptet, Luca ginge wieder in seine apulische Heimat zurück, aber tatsächlich drücken seine Brüder nur die Hoffnung aus, dass er später einmal zurückkehren wird. Dahinter verbergen sich der Wunsch nach besseren Lebensverhältnissen und die Rückkehr zu alten Traditionen, aber Visconti macht kein Geheimnis daraus, das es bei der Hoffnung bleiben wird. Luca wird einen ähnlichen Weg gehen wie Ciro.


Betrachtet man die Reaktionen auf „Rocco e i suoi fratelli“ im Jahr seines Erscheinens, erstaunt die Beurteilung als besonders pessimistisches Werk, weshalb auch in der deutschen Fassung Szenen entfernt wurden, die diesen Charakter noch betonten. Erklärbar wird das durch den Zeitkontext, denn Anfang der 60er Jahre befanden sich viele Menschen in einer ähnlichen Situation wie die Rapondi-Brüder - voller Hoffnung auf eine Zukunft, die Wohlstand und Glück versprach, gleichzeitig aber noch in ihren Traditionen verhaftet. Viscontis analytischer Blick, der ohne Übertreibungen auskommt, wirkt aus heutiger Sicht nur noch realistisch – die hier beschriebenen Zustände sind schon lange Normalität.

Nicht überraschend ist dagegen der Erfolg des Films im Kino, denn trotz seiner formalen Strenge, entwickelte Visconti einen komplex angelegten Film, der mit seiner Vielfalt die beinahe dreistündige Laufzeit mühelos füllt, jede Entwicklung seiner Protagonisten emotional nachvollziehbar werden lässt und von großer Spannung bleibt. „Rocco e i suoi fratelli“ ist ein Paradebeispiel eines Film, der eine Geschichte zu erzählen hat, die unterhält und mitreißt, gleichzeitig aber auch eine innere Haltung vermittelt.

"Rocco e i suoi fratelli" Italien 1960, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi d'Amico, Darsteller : Alain Delon, Renato Salvatori, Annie Girardot, Katina Paxinou, Claudia Cardinale, Laufzeit : 169 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luchino Visconti:

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.