Samstag, 29. Juni 2013

Don Camillo (Don Camillo und Peppone / Le petit monde de Don Camillo) 1952 Julien Duvivier

Inhalt: 1946, ein kleiner Ort in der italienischen Po-Ebene – Giuseppe Bottazzi, genannt „Peppone“ (Gino Cervi), hat die Wahl zum Bürgermeister der Stadt für die Kommunistische Partei Italiens (KPI) gewonnen und lässt sich auf dem zentralen Platz der Stadt feiern. Ein Ereignis, zu dem auch ein Abgeordneter der Parteizentrale gekommen ist, um eine Rede zu halten. Für den katholischen Priester Don Camillo (Fernandel) ist der Sieg der Kommunisten ein Frevel, weshalb er sich deren Reden nicht länger anhören möchte, die zu seiner ebenfalls zentral gelegenen Kirche herüber dringen. Entgegen der Worte Gottes, der ihn darauf hinweist, dass die KPI korrekt gewählt worden wäre, beginnt er die Glocken der Kirche so laut zu läuten, dass die Menschen auf dem Platz ihr eigenes Wort nicht mehr hören können.

Der Partei-Abgeordnete empfiehlt Peppone dagegen einzuschreiten, aber dieser weiß aus den gemeinsamen Tagen im Widerstand, dass Don Camillo sich zu wehren weiß. Doch plötzlich läuft die Menge auf die Kirche zu und Don Camillo greift schon nach seinem Gewehr, bis er sieht, dass sie in eine Seitenstraße biegen zum Haus Peppones. Dort gibt es einen weiteren Grund zu feiern, denn Peppones Frau hatte gerade einen gesunden Jungen entbunden. Allerdings bringt das den Bürgermeister in die Bredouille, denn er braucht jetzt Don Camillo, weil der Junge getauft werden soll – auf den Namen Lenin…


"Don Camillo", wie der Film unter Verzicht seines Gegenspielers Peppone in der italienischen Originalfassung heißt, spielte, als er 1952 herauskam, wenige Jahre zurückversetzt im Jahr 1946 in der norditalienischen Po-Ebene, basierend auf den Geschichten des Journalisten Giovanni Guareschi, die er für seine Satirezeitschrift „Candido“ geschrieben hatte, und die sein Verleger 1948 als Sammlung herausgab. Der Handlungsort und die Lebenssituation der Bürger wurden darin authentisch wieder gegeben, der italienische Hauptdarsteller Gino Cervi hatte seit den 30er Jahren mehrere Hauptrollen unter Regisseur Alessandro Blasetti gespielt - darunter auch in "4 passi fra le nuvole" (Lüge einer Sommernacht, 1942) - der als ein Wegbereiter des Neorealismus gilt, und "Don Camillo" - Regisseur Julien Duvivier war in Frankreich ein maßgeblicher Vertreter des "poetischen Realismus". Trotzdem wird "Don Camillo" nie in die Nähe eines realistischen Stils gerückt, sondern erlangte seinen bis heute anhaltenden Bekanntheitsgrad als reine Komödie, die zudem noch vier weitere Fortsetzungen erfuhr.

Die Besetzung des Komikers Fernandel in der Titelrolle - seit den 30er Jahren ein sehr populärer Schauspieler in Frankreich – scheint diese Einordnung zu rechtfertigen, aber sie beruhte auf einem ausdrücklichen Wunsch des Autors Guareschi, der sich ein Mitsprachrecht an der Verfilmung hatte einräumen lassen. Tatsächlich nahm sich Fernandel bei der Verkörperung des Priesters als Komiker zurück und spielte ihn als brachialen, engagierten Vertreter der Kirche, dem frömmelndes Gehabe und sanfte Gesten fremd sind. Diese Umkehrung eines typischen Priesterverhaltens scheint den Witz dieser Figur auszumachen, aber dahinter verbarg sich ein klares politisches Statement, das Guareschi in der gemeinsamen Vergangenheit der beiden Protagonisten Don Camillo und Peppone manifestierte. Dass Beide zusammen im Widerstand gekämpft hatten, lässt der Film fast nebenbei einfließen, aber damit begründet sich nicht nur deren tief verwurzelter, letztlich jede Meinungsverschiedenheit überwindender, Zusammenhalt, sondern auch ihr Charakter – agiert Gino Cervi als Kommunist äußerlich noch typisch, ist er intern in der Lage, auf ideologische Sturheiten zu verzichten, womit Guareschi die scheinbar größtmöglichen Gegensätze vereinbarte.

Wäre die Anlage des Films nur ein witziges Spiel mit einer unrealistischen Ausgangssituation geworden, wäre „Don Camillo“ kaum über eine Fußnote der Filmgeschichte hinausgekommen, aber Guareschi gelang mit seiner satirischen Erzählung ein genaues Abbild der damaligen Situation in Italien. Besonders die Figur des „Don Camillo“ ist ein überaus geschickter Drahtseilakt zwischen Kritik an der sehr konservativen katholischen Kirche, die ihren Einfluss geltend machte, um den Wahlsieg der kommunistischen Partei bei den ersten demokratischen Wahlen 1948 zu verhindern, ohne deshalb den christlichen Glauben in Frage zu stellen. Im Gegenteil - Gott reagiert mit großer Weisheit und Humor auf Don Camillo, der jeden Trick versucht, um seine sehr menschlichen Emotionen auszuleben. In diesen hintergründigen Dialogen zeichnet Guareschi das sehr positive Bild eines verständigen Gottes, dass der damals gepredigten Strenge der Kirche vehement widersprach. Ähnlich differenziert spielt Gino Cervi als kommunistischer Bürgermeister „Peppone“, der den Zwiespalt der italienischen Arbeiterbewegung zwischen Tradition und Revolution wunderbar personifiziert.

Aus heutiger Sicht wirken die hier gezeigten Konflikte harmlos, aber kurz nach der Zeit des Faschismus war der Aufbau eines Bürgerzentrums, für das sich Peppone einsetzt – Don Camillo erstreitet als Kompromiss einen Kindergarten – oder der Streik der Landarbeiter von großer Bedeutung. Und der Film macht kein Geheimnis aus seiner wohlwollenden Haltung. Selbst die Liebesgeschichte zwischen Gina (Vera Talchi) und Mariolino (Franco Interlenghi) - er Sohn eines armen Bauern, sie Tochter eines reichen Großgrundbesitzers -  war ein Politikum, das am Ende mit vereinten Kräften von Gott, seinem Priester, der alten der Monarchie nachtrauernden Lehrerin (Sylvie) und dem kommunistischen Bürgermeister gelöst wird. Das war kein Happy-End, sondern ein Statement, von dem der Film geschickt mit diversen Prügeleien, Plakat-Schmierereien und einem wunderbar getürkten Fußballspiel ablenkt.

„Don Camillo“ oder „Le petit monde de Don Camillo“ wie es beim französischen Co-Produzenten treffend heißt, war keine Komödie im Stil der späteren „Commedia all'italiana“, die ihre Kritik hinter beißendem Humor verbarg, sondern schildert eine kleine heile Welt mit Menschen und einem Gott, die über ihren Schatten springen können. Doch naiv, wie es dem Film häufig unterstellt wurde, war er nicht. Guareschi verwandelte die widersprüchlichen Strömungen der italienischen Nachkriegszeit mit Humor in ein idealisiertes Bild, dass im Grunde mit einfachen menschlichen Mitteln zu erreichen gewesen wäre. Zu Beginn, als Don Camillo seine kleine Stadt aus dem Off vorstellt, bezeichnet er die Menschen als normal wie überall sonst auch, am Ende des Films, als sie ihn nach seiner Versetzung sowohl volkstümlich, als auch kommunistisch verabschiedet haben, sagt er das genaue Gegenteil – Niemand sonst hätte sich so verhalten. In diesem Punkt macht sich der Film keine Illusionen.

"Don Camillo" Italien / Frankreich 1952, Regie: Julien Duvivier, Drehbuch: Julien Duvivier, René Barjavel, Giovanni Guareschi (Roman), Darsteller : Fernandel, Gino Cervi, Franco Interlenghi, Vera Talchi, Sylvie, Laufzeit : 103 Minuten

Samstag, 22. Juni 2013

Fantozzi (Das größte Rindvieh weit und breit) 1975 Luciano Salce

Inhalt: Pina Fantozzi (Liù Bosisio) ruft unterwürfig bei der Firma ihres Mannes an, die über einen respektheischend langen Namen verfügt. Sie formuliert vorsichtig, dass sie sich langsam Sorgen um ihren Mann Ugo (Paolo Villaggio) macht, der seit 18 Tagen nicht mehr nach Hause gekommen wäre – eine Mitteilung, die in dessen Firma eine routinemäßige Vorgehensweise auslöst. Ein Spezialist für das Auffinden vermisster Mitarbeiter nimmt Fantozzis Geruch an dessen Schal auf, den sie in dessen Spind finden. Dort entdecken sie auch seine Stempelkarte, was beweist, dass er sich innerhalb des Gebäudes befinden muss.

Tatsächlich wird der Spezialist schnell fündig und entdeckt ihn hinter der Abmauerung eines alten Toilettentracks, den die Firma vor 18 Tagen vorgesehen hatte. Fontazzi beklagt einen leichten Hunger, aber seine Kollegen nehmen keine Notiz von seinem Auftauchen, sondern sind intensiv mit ihrem „Schiffeversenken“ Spiel beschäftigt. Nur Signorina Silvani (Anna Mazzamauro), in die Fontazzi seit sieben Jahren heimlich verliebt ist, nutzt seine Anwesenheit, ihm weitere Akten auf seinen überfüllten Tisch zu türmen…


Obwohl der deutsche Verleih mit dem Titel "Das größte Rindvieh weit und breit" versuchte, auch mit "Fantozzi" auf die Mitte der 70er Jahre nach Deutschland schwappende Sexfilm/Klamaukwelle aus Italien aufzuspringen, misslang dieses Unterfangen, denn während es der Film in Italien zu neun Fortsetzungen in mehr als 20 Jahren brachte - immer mit Paolo Villaggio in der Rolle des Ugo Fontazzi - kam nicht einmal die erste noch von Regisseur Luciano Salce verantwortete Fortsetzung "Il secondo tragico Fantozzi" (1976) in die deutschen Kinos. Oder zumindest auf Video heraus wie Ende der 70er Jahre diverse italienische Sex-Klamotten (darunter "L'insegnante" (Die Bumsköpfe, 1975), die in Deutschland zu unrecht das heute vorherrschende Image über die italienische Komödie prägten. Es überrascht vordergründig, dass die absurden, slapstickhaften oder schlicht blöden Erlebnisse des kleinen Angestellten Ugo Fontazzi außerhalb Italiens keine Anhänger fanden.

Tatsächlich wird besonders an den ersten beiden "Fantozzi"- Filmen der feine Unterschied zwischen der "Commedia all'italiana" zu den immer oberflächlicheren Sex-Komödien dieser Zeit deutlich. Während diese ausschließlich der Unterhaltung dienten, besaß die klassische italienische Komödie ein genaues Gespür für die Realität, die sie zwar in verzerrter Form wiedergab, dabei hinter dem witzigen Treiben immer auch die Tragik vermittelnd, mit der sie die gezeigten Verhältnisse letztlich kritisch beleuchtete. Die Entwicklungslinie von "Guardie e ladri" (Räuber und Gendarm, 1951) über "I soliti ignoti" (Auch Diebe haben es schwer, 1958), der heute als erster signifikanter Vertreter der "Commedia all'italiana" gilt, bis zu "Fantozzi" lässt sich entsprechend leicht herstellen. Regisseur Luciano Salce gehörte nicht nur früh seit "Il federale" (Zwei in einem Stiefel, 1961) zu einem wichtigen Vertreter des Genres, sondern prägte mit "La voglia matta" (Lockende Unschuld, 1962) entscheidend die erotische Variante, die sich zur "Commedia sexy all'italiana" weiter entwickeln sollte.

In den 60er Jahren beteiligte sich Salce auch intensiv am Episodenfilm ("Alta infedeltà", 1964), der ihn mit einer Vielzahl an Kollegen zusammenbrachte, darunter mit Mario Monicelli der neben Steno prägende Regisseur der "Commedia all'italiana". Dessen 1966 erschienener Film „L'armata Brancaleone“ (Die unglaublichen Abenteuer des hochwohllöblichen Ritters Branca Leone) zeichnete sich wie „Fantozzi“ durch einen Humor aus, der sich ohne genaue Sprachkenntnisse und das Wissen über landestypische Eigenheiten nicht vollständig erschließt, weshalb sein Bekanntheitsgrad außerhalb Italiens beschränkt blieb. An der Fortsetzung „Brancaleone alle crociate“ (Brancaleone auf Kreuzzug ins heilige Land, 1970), die stark gekürzt in die deutschen Kinos kam, war auch der Komiker Paolo Villaggio in einer seiner ersten Rollen beteiligt. Nur wenig später schrieb er sich in zwei Romanen die Figur des „Ugo Fantozzi“ auf den eigenen Leib und gelangte durch deren Verkörperung auf der Kinoleinwand in Italien zu großer Popularität. Aus dem Blickwinkel eines kleinen, unauffälligen Angestellten schildert Villagio dessen verbissen geführten, ständig scheiternden Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens, wobei ihm tiefe Einblicke in den italienischen Alltag gelangen. Trotz der humorvollen Inszenierung und Fantozzis Unverwüstlichkeit, lässt der Film die Ignoranz und den Egoismus einer Sozialisation deutlich werden, in der nur der Erfolgreiche etwas gilt – unabhängig davon, ob gerechtfertigt oder nicht - eine bis heute unveränderte Situation, die hier an spezifisch italienischen Eigenarten durchgespielt wurde.

Villaggio wählte eine episodenhafte Erzählweise, die zwar unterschiedliche Aspekte des Arbeits- und Privatlebens in sich abgeschlossen behandelt, dabei aber eine Art geistiger Klammer verwendend – auch dank der ironischen Überleitungen aus dem Off – die dem Film einen zusammenhängenden Charakter verlieh. Für die gesamte Handlung bestimmend bleiben Fantozzis vergebliche Annäherungsversuche an seine Kollegin Signorina Silvani (Anna Mazzamauro), womit der Film die Idealisierung des „kleinen Mannes“ vermeidet, der zuerst immer auch ein Mann ist. Obwohl Fantozzis Stellenwert auf unterster Ebene angesiedelt ist, wie schon die erste Szene des Films verdeutlicht, in der ihn seine Frau Pina (Liù Bosisio) erst nach 18 Tagen als vermisst meldet (seiner Firma war seine Abwesenheit noch nicht aufgefallen), will er Signorina Silvani, immerhin schon zum zweiten Mal zur „Miss“ der 40. Etage gewählt, erobern. Anna Mazzamauro, die diese Rolle sieben weitere Male verkörpern sollte, ist in ihrer spitznasigen Dünnheit nicht unbedingt ein Schönheitsideal, weiß aber ihre Wirkung geschickt einzusetzen, weshalb sie Fantozzi immer gerade so viel entgegen kommt, dass er den Mut nicht ganz verliert.

Auch wenn Fantozzi in allen Situationen eine komische Figur abgibt und viele Niederlagen einstecken muss, vermied es der Film, ihn vollkommen der Lächerlichkeit preiszugeben. Zwar fällt es ihm selbst schwer, seine Tochter Mariangela (Plinio Fernando) zu küssen, die mehr wie ein Äffchen aussieht, aber als sich die Chefs seiner Firma bei einer Weihnachtsgratifikation über ihr Aussehen lustig machen und sie damit zum Weinen bringen, schreitet er vehement ein. Zunehmend wird deutlich, dass es nicht Fantozzi ist, um den es hier wirklich geht, sondern um seine Umgebung, die angesichts seiner wenig ernstzunehmenden Figur ganz aus sich herausgeht und damit die Mechanismen der italienischen Gesellschaft demaskiert. Auch darüber hinaus spart der Film nicht mit bösen Seitenhieben - etwa als Fantozzi in ein Gefängnis gesperrt wird, um eine medizinisch betreute Diät zu machen, und das Personal deutsch spricht. Irgendwann reicht es Fantozzi und ihm wird klar, dass er nur ausgenutzt und hintergangen wird. Er lässt sich zu dem Einzigen noch größeren Außenseiter in der riesigen Firma versetzen – einem Kommunisten, der an einem abgelegenen Ort im Keller sein Dasein hinter Aktenbergen fristet.

Es kommt zu einer großartigen Schlusssequenz, die die damalige gesellschaftspolitische Situation in Italien treffend auf den Punkt brachte. Als er – nach monatelangem Studium des kommunistischen Manifestes – vor Wut einen Stein auf das Firmengebäude wirft und eine Glasscheibe zertrümmert, wird er zum obersten Chef der Firma gerufen, den sonst Niemand zu Gesicht bekommt, weshalb seine Existenz unter den Mitarbeitern angezweifelt wird. Viele absurd wirkende Gerüchte ranken sich um seine Person, auch das verdiente Mitarbeiter in einer Art Aquarium schwimmen dürfen, dass sich auf dem obersten Stockwerk befinden soll. Doch tatsächlich erweist sich das Chef-Büro als karg eingerichteter Raum und der Direktor bittet ihn auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Schnell schwinden Fantozzis Bedenken, auch weil sein Chef seinen Ansichten mit Verständnis begegnet. Immer mehr wird dieser zu einer gottgleichen Person, der kapellenartige Charakter des Raumes wird deutlich und Fantozzi nimmt auf der Kniebank vor dem Altar platz, als der sich der Bürotisch erweist. Fantozzi wagt es, ihn nach dem Aquarium zu fragen - die hintere Wand öffnet sich und in seiner Güte lässt er ihn dort schwimmen. Fantozzis Widerstand ist gebrochen und er nimmt wieder seinen gewohnten Platz innerhalb der Firma ein – der Film endet wie er begonnen hat. 

"Fantozzi" Italien 1975, Regie: Luciano Salce, Drehbuch: Luciano Salce, Leonardo Benvenuti, Piero De Benardi, Paolo Villaggio (Roman), Darsteller : Paolo Villaggio, Anna Mazzamauro, Liù Bosisio, Plinio Fernando, Nello Pazzafini, Laufzeit : 103 Minuten

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Montag, 10. Juni 2013

La terra trema : Episodio del mare (Die Erde bebt) 1948 Luchino Visconti

Inhalt: Ntoni (Antonio Arcidiacono) gehört einer Familie in Aci Trezza an, einem Ort an der sizilianischen Ostküste, die seit Generationen als Fischer arbeiten. Nachdem sein Vater tödlich verunglückte, ist er als ältester Sohn verantwortlich für das Überleben seiner Familie. Doch er will sich dem ewigen Kreislauf nicht mehr hingeben, der die Fischer jeden Abend aufs Meer zwingt, um am nächsten Morgen nur einen Hungerlohn von den Großhändlern zu erhalten. Gegen den Willen der dörflichen Gemeinschaft nimmt er eine Hypothek auf sein Haus auf, kauft sich von dem Geld ein eigenes Schiff und fischt auf eigene Rechnung. Die von den weiblichen Familienmitgliedern gesalzenen Fische will er selbst zu eigenen Preisvorstellungen auf dem Markt verkaufen.

Zuerst läuft es gut und er gewinnt Ansehen als Geschäftsmann, aber da er gezwungen ist, täglich zu fischen, um den Kredit abzahlen zu können, riskiert er zu viel. Bei einem Sturm wird sein Schiff so stark beschädigt, dass er und seine Brüder froh sind, mit heiler Haut davon zu kommen. Ein anderes Fischerboot schleppt sie an Land, aber seine Geschäftsidee ist zerstört. Nicht nur, dass er selbst nicht mehr aufs Meer fahren kann, auch die anderen Fischer wollen ihn nicht mehr bei sich arbeiten lassen…


Der neue realistische Stil im italienischen Kino verstand sich seit Luchino Viscontis "Ossessione" (1942) als Antwort auf den Mussolini-Faschismus, nicht nur in der Abkehr einer geschönten Realität mit einer idealisiert dargestellten Sozialisation, sondern ganz konkret in seiner politischen Ausrichtung - Regisseure wie Luchino Visconti oder Roberto Rossellini machten aus ihrer kommunistischen Haltung keinen Hehl. Während der Spätphase des Kriegs und den ersten Nachkriegsjahren konnten sie den Freiraum für exemplarische Werke wie "Roma, città aperta" (Rom offene Stadt, 1945, Rossellini) , "Scuscia" (Schuhputzer, Vittorio De Sica, 1946) oder "Caccia tragica" (Tragische Jagd, Giuseppe De Santis,1947) nutzen, aber die gesellschaftlichen Veränderungen holten sie schnell ein. Der aus sehr wohlhabenden Verhältnissen stammende Adlige Luchino Visconti finanzierte "La terra trema" 1947 aus privaten Mitteln, konnte damit aber nur den ersten Teil „Episodio del mare“ seiner geplanten Trilogie über die arbeitende Bevölkerung auf Sizilien verwirklichen, denn nachdem die christliche Partei 1948 die ersten demokratischen Wahlen gewonnen hatte, wurden offen linksgerichtete Filme nicht mehr finanziell gefördert.

Neben diesen pragmatischen Veränderungen zeigten sich auch die Grenzen eines konsequent realistischen Stils. Die vom Krieg zerstörten Häuser und die ärmliche Situation der Menschen bildeten in den frühen neorealistischen Filmen einen authentischen Hintergrund für die inmitten dieser Verhältnisse spielenden Dramen, aber zunehmend wurde der Grat zwischen Stilwillen, Intention und einem realen Szenario schmaler. Die Konsequenz, eine Insel als solitären Raum zum Hintergrund zu wählen, traf nicht nur Visconti. Rossellini ließ seinen 1950 entstandenen Film „Stromboli“ auf der gleichnamigen Vulkaninsel spielen und auch Damiano Damiani drehte den vom Neorealismus beeinflussten "L'isola di Arturo" (Insel der verbotenen Liebe, 1962) vor dem Hintergrund einer archaisch geprägten Gesellschaft, an der die zukünftige soziale Entwicklung noch exemplarisch durchdacht werden konnte. „La terra trema“ entstand 1947 in dem Fischerdorf Aci Trezza an der Ostküste Siziliens, einem von industriellen Einflüssen noch unberührten Ort, in dem die Menschen seit Generationen nach unveränderten Regeln lebten.

Viscontis Konsequenz, nur Einheimische zu besetzen, die ausschließlich ihre sizilianische Muttersprache benutzten – nur die Stimme aus dem Off spricht Italienisch – und die Handlung ungeschönt in dem kleinen, kargen Ort am Meer spielen zu lassen, ließ „La terra trema“ zu einem Hauptwerk des Neorealismus werden, vermittelte gleichzeitig aber auch, wie gezielt die hier gezeigte Authentizität vom Regisseur, Drehbuchautor Antonio Pietrangeli und Regie-Assistent Francesco Rosi erschaffen wurde. Dafür war weniger der Handlungsrahmen verantwortlich, der auf dem 1881 erschienenen Roman „I malavolia“ des sizilianischen Dichters Giovanni Verga beruhte – er beschreibt darin das harte Leben der Fischer auf der Insel - als die Drehbuchbearbeitung durch Antonio Pietrangeli und Luchino Visconti. Die sonst allgegenwärtige katholische Kirche, sieht man von den Heiligenbildern an den Wänden einmal ab, spielt in „La terra trema“ keine Rolle, denn Visconti ging es darum, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeitern detailliert heraus zu arbeiten, verbunden mit den tradierten Verhaltensmustern der Ausgebeuteten, deren Einhaltung erst die bestehenden Machtverhältnisse bestärken.

Ntoni (Antonio Arcidiacono) ist der älteste Sohn einer alteingesessenen Fischerfamilie, der nach dem Tod des Vaters – er war von einem Fischfang nicht wieder zurückgekehrt - verantwortlich für seine zahlreichen Familienmitglieder ist, die gemeinsam in ihrem einfachen Haus leben. Jeden Abend geht er auf einem Fischerboot seiner Arbeit nach, begleitet von seinen jüngeren Brüdern, die - kaum dem Kleinkindalter entwachsen - mitarbeiten müssen. Zur Schule geht Niemand von ihnen, denn auch so reicht es für die Familie gerade zum Überleben. Obwohl sie einer anstrengenden und gefährlichen Arbeit nachgehen, kaufen ihnen die Großhändler die Fische nur zu geringen Preisen ab, ihren eigenen Gewinn damit maximierend. Die Konsequenzen dieser Konstellation sind offensichtlich – die Fischer haben keine Möglichkeit aus dieser Position der Abhängigkeit auszubrechen und leiden unter geringer Bildung, Armut und fehlenden Aufstiegschancen. Detailliert beschreibt der Film das traditionelle soziale Gleichgewicht. Als Töchter eines armen Fischers haben Ntonis hübsche Schwestern Rosa (Rosa Catalano) und Mara (Nelluccia Giamonna) nur wenig Chancen auf eine angemessene Heirat, aber auch Ntoni selbst ist kein geeigneter Bräutigam für die von ihm begehrte Nedda (Rosa Costanzo).

„La terra trema“ gelingt trotz der Gratwanderung zwischen Viscontis formaler Bildsprache, die die karge Landschaft und ihre Bewohner in wunderschönen, klar aufgebauten, dabei die Tiefe des Raums betonenden Bildern erfasst und der beabsichtigten politischen Botschaft, ein reales Abbild des Lebens der Menschen an diesem Ort. Zudem verzichtete Visconti auf einen vordergründigen ideologischen Duktus, so wie Ntonis Verstoß gegen die herrschende Ordnung nicht kommunistisch motiviert ist, sondern sein Bestreben, selbstständig als Fischer arbeiten zu wollen, um das Preisdiktat der Abnehmer zu brechen, schlicht geschäftstüchtig ist. Doch Visconti ging es weniger darum, auf die Ausbeutung kleinerer Berufsgruppen aufmerksam zu machen, sondern wollte das archaische Szenario dazu nutzen, um grundsätzliche gesellschaftspolitische Missstände aufzuzeigen, deren hier in reiner Form gezeigten Mechanismen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Ntonis nicht konformes Verhalten und damit sein Ausbruch aus der ihm traditionell zugewiesenen Rolle, konfrontiert die anderen Fischer mit ihrer eigenen Passivität und Feigheit. Doch anstatt seine nahe liegende Idee aufzugreifen, lehnen sie sein aus ihrer Sicht unangemessenes Verhalten ab und lassen ihn allein. Es bedarf weder eines großen Unglücks, noch einer Kette von Missgeschicken, um Ntoni die Grenzen aufzuzeigen. Sein mit einem Kredit finanziertes Schiff gerät in einen Sturm und wird stark beschädigt - ein alltägliches Risiko für einen Fischer und gleichzeitig ein Ereignis, dass Visconti nicht ohne Grund in der Mitte des Films geschehen lässt. Denn sein Hauptgewicht liegt auf der zweiten Hälfte, die sich den daraus entstehenden Konsequenzen widmet. Es sind nicht die Gutachter und Bankangestellten, die vertragsgemäß das Haus pfänden, als er seine Kreditraten nicht mehr zahlen kann, sondern der Ausschluss aus der Gemeinschaft, der ihn scheitern lässt und in deren Folge auch seine Geschwister beschädigt werden.

Ntoni wird zutiefst erniedrigt und bekommt keine Arbeit mehr, eine seiner Schwestern lässt sich auf einen Carabinieri ein und verliert damit ihr moralisches Ansehen und sein Bruder gerät an zwielichtiges Gesindel und verlässt die Heimat, aber das eigentliche Drama liegt darin, dass diese Folgen leicht zu verhindern gewesen wären, hätten die Fischer, die alle unter den bestehenden Verhältnissen leiden, zusammen gehalten. Visconti lässt an diesem exemplarischen Beispiel deutlich werden, dass der Einzelne zu schwach ist, um sich gegen eine bestehende Ordnung aufzulehnen, selbst wenn diese die Mehrheit offensichtlich benachteiligt. Vorurteile, tradierte Rollen und Werte erschweren die Entstehung einer Solidargemeinschaft, die Visconti in „La terra trema“ als Ideal zwar beschwört, aber nicht einlöst, denn die Machtverhältnisse bleiben bestehen, womit sich der Film seinen realistischen Charakter bis heute bewahrt hat.

"La terra trema: Episodio del mare" Italien 1948, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Antonio Pietrangeli, Giovanni Verga (Roman), Darsteller : Antonio Arcidiacono, Giuseppe Arcidiacono, Rosa Catalano, Rosa Costanzo, Alfio Fichera, Laufzeit : 153 Minuten

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Montag, 3. Juni 2013

Sette dollari sul rosso (Django - die Geier stehen Schlange) 1966 Alberto Cardone

Inhalt: „El Cachal“ (Fernando Sancho) überfällt mit seinen Männern die Ranch von Johnny Ashley, tötet dessen indianische Ehefrau und raubt ihren zweijährigen Sohn Jerry. Johnny Ashley (Anthony Steffen) kann nach seiner Rückkehr nur noch die Toten begraben und schwört Rache für das grausame Verbrechen. Der Sheriff warnt ihn davor, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, aber Johnny will sich seinen Männern nicht anschließen, sondern seinen Weg alleine gehen. Er ahnt nicht, dass Jerry bei „El Cachal“ aufwächst, der seine Bande nach einem erfolgreichen Raub auflöst und verschwindet, weshalb Johnny ihn sehr lange vergeblich zu finden versucht.

Zwanzig Jahre später ist Jerry (Roberto Miali) selbst zu einem gnadenlosen Verbrecher geworden, der sich Frauen mit Gewalt nimmt und Wehrlose erschießt. Sein vermeintlicher Vater will mit ihm die Bank einer Großstadt ausrauben, weshalb er die Lage auskundschaften soll. Dazu begibt er sich in den Saloon der Schwestern Emily (Loredana Nusciak) und Sybil (Eilsa Montés), nicht ahnend, dass auch Johnny Ashley dort bei Emily zu Besuch ist…


Die Geschichte ist altbekannt - obwohl  "Sette dollari sul rosso" (wörtlich "Sieben Dollar auf Rot") 1966 noch kurz vor Corbuccis "Django" in die italienischen Kinos kam, erging es dem Film in Deutschland wie vielen anderen Italo-Western dieser Zeit. Der von Anthony Steffen gespielte Protagonist Johnny Ashley wurde in "Django" umbenannt, um den Film 1969 unter dem Titel "Django - die Geier stehen Schlange" in die Kinos bringen zu können, zusätzlich mit dem Werbesatz "Der neueste Django - einer der härtesten, die es bisher gab" versehen. Es ließe sich leicht über diese falsche Behauptung und die Namensänderung hinwegsehen, wäre dieser Umgang nicht signifikant für den niedrigen Stellenwert der Filme im Auge der damaligen Vertriebsgesellschaft. Ende der 60er Jahre war der Zenit des Italo-Western-Genres schon überschritten, weshalb die Filme möglichst reißerisch vermarktet wurden, wozu auch eine Synchronisation beitrug, die vor allem auf flotte Sprüche setzte, was den dramatischen Charakter von "Sette dollari sul rosso" abschwächte und damit die Intention des Films verfälschte.

Johnny Ashley (Anthony Steffen) ist eine tragische Figur, der bei seiner Heimkehr nicht nur seine erschossene Frau auffindet, sondern feststellen muss, dass sein zweijähriger Sohn Jerry verschwunden ist. Anthony Steffen, der in "Perché uccidi ancora" (Jetzt sprechen die Pistolen, 1965) und "Una bara per lo sceriffo" (Eine Bahre für den Sheriff) kurz hintereinander gleich in zwei Hauptrolle im Western reüssierte und zu einem führenden Vertreter des Genres werden sollte, spielte diesen Mann, den die Verzweiflung antreibt, ernsthaft und mit sparsamer Mimik, ohne den Gestus eines von sich selbst überzeugten Pistoleros. Im Gegenteil fällt die deutliche Betonung auf, dass "Selbstjustiz" kriminell ist - eine Ausnahme innerhalb des Italo-Western-Genres. Ashley wird deshalb vom Sheriff gefragt, ob er die Position eines Hilfssheriffs übernehmen will, damit er im Namen des Gesetzes handeln könnte. Er lehnt die Bitte zwar ab, um allein Rache zu üben, hält sich aber doch an diese Regel und tötet ausschließlich in Notwehr.

Für den Part des Gegenspielers wählte Alberto Cardone, dessen wenige Regiearbeiten sich hauptsächlich auf das Western-Genre beschränkten, Fernando Sancho, der den mexikanischen Bandenboss "El Cachal" wie gewohnt mit brachialer Lust am Verbrechen spielt und ohne zu zögern Frauen und Unbewaffnete erschießt. Auch Ashleys Frau hatte er getötet, bevor er den kleinen Jerry mitnahm, um ihn von seiner Frau als seinen eigenen Sohn aufziehen zu lassen. Erwachsen geworden tritt Jerry (Roberto Miali) ganz in die Fußstapfen seines vermeintlichen Vaters und übertrifft ihn sogar noch an hinterhältiger Rücksichtslosigkeit. Der große charakterliche Unterschied zwischen "El Cachal" und Jerry sowie dem einsamen Rächer Ashley ist von entscheidender Bedeutung für die dramatische Entwicklung des Films, weshalb der penetrante Versuch der deutschen Synchronisation, aus dem Scout und Familienvater einen knallhart vorgehenden, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen führenden "Django"-Typus zu machen, die innere Tragik dieser Situation nicht zulässt. Als Emily (Loredana Nusciak) gegenüber Ashley nichts als Angst, Einsamkeit und Bitterkeit für ihre Zukunft sieht, geht die Synchro einfach lässig darüber hinweg, um den Unterhaltungswert nicht zu stören.

Allerdings erleichterte „Sette dollari sul rosso“ diese Vorgehensweise, weil sich der Film nach dem dramatischen Beginn ein wenig in den Weiten der Italo-Western-Welt verliert. Der Grund lag in der storytechnischen Aufgabe, etwa 20 Jahre überbrücken zu müssen, damit aus dem Kleinkind Jerry ein erwachsener Fiesling werden konnte – ein epischer Zeitraum aus dem Blickwinkel von Banditen und Revolverhelden im Western. Um zu erklären, warum Ashley so viel Zeit benötigt bis er endlich den Mörder seiner Frau findet, wird „El Cachal“ ein gewinnträchtiger Überfall angedichtet, woraufhin sich dessen Bande auflöst. Ashley hilft es deshalb wenig, ein früheres Mitglied zu erwischen und zum Reden zu bringen, denn der Unterschlupf der Bande ist längst verlassen und „El Cachal“ macht nicht mehr von sich Reden. Die Szenen im Mittelteil bieten zwar gelungene Western-Action, wirken aber beliebig aneinander gereiht und ohne stringent auf den Showdown am Ende hinzuführen. Im Gegenteil stellt sich die Frage, wieso „El Cachal“ nach einer so langen Zeit einer „bürgerlichen Existenz“ plötzlich wieder zum Banditen wird, der diesmal zusammen mit seinem Sohn die Bank einer Stadt überfallen will ? – Zudem ausgerechnet in dem Ort, indem sich auch Ashley gerade eingefunden hat, leicht angegraut von seiner jahrzehntelangen Suche.

Dem Drehbuch gelingt es nicht, die sehr gute und im Italo-Western außergewöhnliche Idee, einen Vater auf seinen als Kleinkind geraubten und zum Verbrecher gewordenen Sohn treffen zu lassen, über die gesamte Laufzeit schlüssig umzusetzen, da die Überleitung zwischen Ausgangssituation und dem dramatischen Ende nicht funktioniert. Trotzdem ist das letzte Drittel des Films spannend und nachvollziehbar inszeniert – zumindest in der Originalfassung – und entwickelt im Zusammenspiel der drei männlichen Protagonisten mit den beiden Schwestern Emily und Sybil (Elisa Montés) eine dramatische Zuspitzung, begleitet von einem stimmigen melancholischen Score, deren Ausgang nicht vorhersehbar ist.

"Sette dollari sul rosso" Italien / Spanien 1966, Regie: Alberto Cardone, Drehbuch: Juan Cobos, Melchiade Coletti, Arnaldo Francolini, Amedeo Mellone, Darsteller : Anthony Steffen, Fernando Sancho, Roberto Miali, Loredana Nusciak, Elisa Montés, Laufzeit : 96 Minuten