Montag, 29. Dezember 2014

Cannibal Holocaust (Nackt und zerfleischt) 1980 Ruggero Deodato

Inhalt: Während im TV noch Bilder der Verabschiedung der vierköpfigen Film-Crew gezeigt werden, darunter der optimistische Regisseur Alan (Carl Gabriel York) und seine Lebensgefährtin Faye (Francesca Fijardi), gelten sie schon lange als vermisst. Sie wollten im ostasiatischen Dschungel einen Dokumentarfilm über einen noch von der Zivilisation unberührten Eingeborenen-Stamm drehen, bei dem es sich um Kannibalen handeln soll, doch inzwischen fehlt jede Spur von ihnen.

Der Anthropologie-Professor Monroe (Robert Kerman) erklärt sich bereit, nach ihnen zu suchen und begibt sich in das gefährliche Dschungelgebiet, wo ihm ein erfahrener Führer zur Seite gestellt wird. Schnell muss Monroe erfahren, dass seine Vorstellungen von Moral und Empathie hier keine Rolle spielen – als sie sich schon in der Nähe des Stammes befinden, wird er von seinem Begleiter dazu gezwungen, tatenlos zuzusehen, als ein Mann seine Frau erst vergewaltigt und dann tötet. Seinem Gespür für die Verhaltensweisen der Eingeborenen ist es aber zu verdanken, dass er ihr Vertrauen gewinnt, und so mit dem Schicksal der Film-Crew konfrontiert wird…


Auf Grund des vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrads, über den die wenigen aus italienischer Produktion stammenden "Kannibalismus" - Filme noch heute verfügen, hat sich der Eindruck einer kurzen, verdichteten Genre-Phase manifestiert, die als extremster Ausschlag einer Entwicklung gilt, mit der die finanziell angeschlagene italienische Filmindustrie, Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, versuchte, der wachsenden Konkurrenz aus Hollywood mit einer zunehmenden Gewaltspirale und bewussten Provokationen Paroli zu bieten (siehe "Das italienische Kino frisst sich selbst"). Ruggero Deodatos "Cannibal Holocaust" (Nackt und zerfleischt) gebührt innerhalb des Genres der fragwürdige Ehrenplatz des gewalttätigsten und kontroversesten Films, dessen gesellschaftskritische Relevanz jeweils nach Standpunkt zwischen einem vorgeschobenen Deckmantel für den blutrünstigen Inhalt und einer intelligenten Abrechnung mit der modernen (Medien)Gesellschaft angesiedelt wird. Gemein ist den gegensätzlichen Haltungen in der Regel die Ablehnung der im Film detailliert gezeigten Tiertötungen, die ganz generell die Frage aufwerfen, ob die exzessive Gewalt für eine kritische Botschaft notwendig ist oder nur plakative Sensationsgelüste bedient?


I. Die 70er Jahre: Der Vietnam-Krieg und die neue Medienlandschaft

So wie Umberto Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ (Mondo Cannibale, 1972) nur dank des deutschen Verleihtitels den Status eines Kannibalenfilms erhielt – innerhalb der Abenteuerfilmhandlung vor exotischer Kulisse nimmt die Kannibalismus-Thematik nur einen kurzen Randaspekt ein - gibt es für „Cannibal Holocaust“ kein direktes Vorbild. Autor Gianfranco Clerici griff zwar auf Details des von ihm mit verfassten Drehbuchs zu Deodatos erstem Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“ (Mondo Cannibale 2 – der Vogelmensch, 1977) zurück, ließ aber sowohl aktuelle Film-Strömungen, als auch die gesellschaftspolitische Entwicklung in Folge des Vietnamkrieges einfließen, der heute als erster „Medien-Krieg“ gilt. Regisseur Sidney Lumet hatte die Auswirkungen einer nur an Zuschauerzahlen orientierten, immer rücksichtloser vorgehenden Sensations-Berichterstattung im Fernsehen schon 1976 in „Network“ thematisiert, aber Clerici und Deodato gelang es, dessen satirischen, im Stil einer Dokumentation vorgetragenen Gestus so mit den Motiven des Abenteuer- und „Mondo“-Films zu kombinieren, dass ein vollständig neues Konzept daraus entstand.

Seitdem der Erfolg von „Blair Witch Projekt“ (1999) in regelmäßigen Abständen neue „Found Footage“-Filme in die Kinosäle spült, hat die Mär eines aufgefundenen, noch rohen Filmmaterials, das Auskunft über seinen Erzeuger und seine Begleiter geben kann, etwas an Faszination verloren, aber in „Cannibal Holocaust“ wurde dieses Stilmittel nicht nur erstmals in einem Langfilm eingesetzt, sondern so geschickt inszeniert, dass es dem Film ab der Laufzeitmitte eine vollständige Wendung gibt. Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Handlung bewusst konventionell – vier Menschen, die im Dschungel einen Dokumentarfilm drehen wollten, kehren nicht mehr zurück, weshalb sich der Anthropologe Professor Monroe (Robert Kerman) auf den Weg in die noch unerforschten Gefilde macht, um deren Schicksal in Erfahrung zu bringen. Sowohl „La montagna del dio cannibale“ (Die weiße Göttin der Kannibalen, 1978), als auch „Mangiati vivi!“ (Lebendig gefressen, 1980), der ebenfalls mit Robert Kerman in der Hauptrolle nur wenige Wochen nach „Cannibal Holocaust“ in die italienischen Kinos kam, wählten eine vergleichbare Ausgangssituation.

Das galt auch für den anfänglichen Charakter des Films, der aus dem zivilisatorischen Blickwinkel erzählt wird und damit den Betrachter in Sicherheit wiegt. Professor Monroe bekommt einen erfahrenen Dschungel-Führer an die Seite gestellt, der weiß, wie er mit den wilden Tieren und den Eingeborenen umzugehen hat – das klassische Klischee des harten Kerls, der den Professor zwingt, nicht einzugreifen, als ein Stammesmitglied seine Frau erst vergewaltigt und dann brutal erschlägt. Dem Anthropologen Monroe wiederum gelingt es, nachdem sie das Dorf der Kannibalen erreicht hatten, deren Vertrauen zu gewinnen. Er entkleidet sich und lässt sich auf ihre Lebensweise ein, darunter auch der Verzehr von Menschenfleisch. Eine Szene, in der die Frauen seinen Körper untersuchen und an seinem Penis ziehen, zitiert unmittelbar Deodatos ersten Kannibalismus-Film „Ultimo mondo cannibale“, dessen Anlage wesentlich komplexer wirkte in dem Versuch, tiefer in das archaische Verhalten der Eingeborenen einzudringen.

Dagegen erscheint „Cannibal Holocaust“ zu Beginn als typischer Abenteuerfilm in der Tradition von „Il paese del sesso selvaggio“, in dem die Eingeborenen nicht über die Rolle des exotischen Grusel-Beiwerks aus Sicht des westlichen Kulturkreises hinauskamen. Eine Sichtweise, die sowohl Sergio Martinos „La montagna del dio cannibale“, als auch Joe D’Amatos „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ (Nackt unter Kannibalen, 1977) eigen ist – den beiden einzigen Kannibalen-Filmen, die zwischen Deodatos zwei Genre-Werken herauskamen. Von einer verdichteten Genre-Phase kann angesichts der gleichzeitigen Massenproduktion der italienischen Filmindustrie keine Rede sein, ganz abgesehen davon, dass drei Jahre Abstand zwischen zwei thematisch verwandten Filmen damals einer Ewigkeit gleich kamen. Umberto Lenzi drehte allein zwischen 1975 und 1978 sieben Polizieschi und legte 1980 und 1981 noch zwei Kannibalen-Filme nach. Daran wird viel mehr deutlich, dass Deodato und Autor Clerici mit ihrem zweiten Film auf die generelle Medien-Entwicklung der letzten Jahre reagierten, möglicherweise erst dadurch motiviert wurden, sich ein zweites Mal dem Genre zu widmen.


II. Der Perspektivwechsel

Die Intelligenz der Inszenierung zeigt sich nicht allein im damals neuartigen Stilmittel „Found Footage“ – Professor Monroe erhält im Tauschgeschäft die Filmaufnahmen der vier getöteten Dokumentarfilmer – das die zweite Hälfte des Films prägt, sondern mehr noch in einem fast unmerklich vorgenommenen Perspektivwechsel. Vordergründig ändert sich nur wenig. Wurde die erste Handlungshälfte aus dem Blickwinkel des Professors betrachtet, nimmt die Kamera nun die Sicht der vier Dokumentarfilmer ein. Es bleibt bei einer von außen kommenden Perspektive auf den Eingeborenen-Stamm, nur wird die Distanz zwischen Betrachter und Story langsam zerstört, indem der Zuschauer an die Seite des Professors gestellt wird, der die Aufnahmen für die Veröffentlichung in einer TV-Sendung prüfen soll. Damit wird dem Betrachter eine doppelte Perspektive aufgezwungen – die des Voyeurs, der den Unterhaltungswert einschätzen soll, und die des Kamerateams, dessen wahre Beweggründe sich zunehmend offenbaren.


Deren menschenverachtendes, rücksichtloses Vorgehen, nur um einen möglichst sensationellen Bericht verkaufen zu können, entsprach der schon in „Network“ formulierten Kritik. Die angebliche zivilisatorische Überlegenheit gegenüber dem Naturvolk hatte Deodato selbst zuvor in seinem „Ultimo mondo cannibale“ als fragile Hülle entlarvt. In „Cannibal Holocaust“ ging er darüber hinaus. Er zielte auf den Konsumenten ab, auf dessen Erwartungshaltung und Urteil. Sowohl die Bilder des Vietnamkrieges, die TV-Jagd nach Sensationen oder die „Mondo“-Filme und ihre Ableger dienten trotz des darin verbreiteten „realen“ Schreckens vor allem der Unterhaltung, beließen den Betrachter immer auf der heimischen Couch oder dem bequemen Kinosessel, von wo aus es sich aus sicherer Distanz gruseln ließ. Am Ende des Films existiert diese Distanz nicht mehr, verliert die Gewalt-Orgie jeden Unterhaltungs-Charakter, da eine Parallelität zwischen Sensations-Geilheit und Betroffenheit entsteht – der Zuschauer wird gleichzeitig zum Opfer und Täter.


III. Notwendigkeit von Gewaltdarstellungen

Diese Intention des Films lässt sich an vielen Details ablesen, besonders hervorstechend an Riz Ortolanis‘ Filmmusik, die nicht zufällig eine direkte Verbindung zu „Mondo cane“ (1962) herstellte. Die Schönheit seiner Empathie erzeugenden Musik steht im starken Kontrast zu den Ereignissen auf der Kinoleinwand – mit diesem Effekt arbeiteten schon die Macher von „Mondo cane“ -  und steigert damit die Fallhöhe zwischen moralischem Anspruch und der Realität menschlicher Abgründe. Während dieses Stilmittel als unstrittig gilt, werden die detailliert gezeigten, realen Tiertötungen fast ausschließlich abgelehnt, obwohl deren Art der Inszenierung ebenfalls als Reaktion auf die „Mondo“-Filme und ihre Nachfolger zu verstehen ist. Weder zeigt „Cannibal Holocaust“ Aufnahmen einer brutalen Tierwelt - gemäß dem beliebten Motto „Fressen und gefressen werden“ - noch Opfer-Rituale oder bewusst von Menschen angestrengte Tierkämpfe, wie sie in „Mondo Cane“ oder Lenzis „Il paese del sesso selvaggio“ selbstverständlich vorkamen. Einzig zur Nahrungsaufnahme werden die Tiere durch Menschen getötet – eine millionenfache tägliche Selbstverständlichkeit.

Das allein hätte die schrecklichen Bilder nicht gerechtfertigt, aber erst die Kombination aus Realität und den gestellten Aufnahmen exzessiver Gewalt, besonders gegenüber Frauen, führt zu dem notwendigen Distanzverlust des Betrachters, um ein entspanntes Sehvergnügen zu verhindern. Sicherlich lässt sich je nach persönlicher Sensibilität über einzelne Szenen diskutieren, aber für die Intention des Films sind die Gewaltdarstellungen zwingend notwendig, wie sie – nicht weniger umstritten - auch Pier Paolo Pasolini in „Salò o le 120 giornate di Sodoma" (Die 120 Tage von Sodom, 1975) vorsah. Es wird immer Betrachter geben, die sich an den extremen Gewaltaufnahmen delektieren und den Film nicht näher an sich heranlassen, so wie die Intention intellektuell auch ohne die schockierenden Szenen zu verstehen ist. Aber sowohl Pasolini, als auch Deodato genügte keine theoretische Abhandlung, kein bequemes selbstkritisches Geplänkel, sie wollten die menschlichen Abgründe körperlich erfahrbar werden lassen, wie ein Schlag in die Magengrube. Wer einmal „Cannibal Holocaust“ gesehen hat, vergisst ihn nicht mehr – allein die Erinnerung daran, treibt die Tränen in die Augen.

"Cannibal Holocaust" Italien 1980, Regie: Ruggero Deodato, Drehbuch: Gianfranco Clerici,  Darsteller : Robert Kerman, Carl Gabriel Yorke, Francesca Ciardi, Perry Pirkanen, Luca Barbareschi, Laufzeit : 92 Minuten

Der Film lief in der deutschen Kinofassung beim 5. Forumtreffen "Deliria Italiano" in Nürnberg vom 10. bis 11.10.2014

weitere im Blog besprochene Filme von Roggero Deodato: 

"Zenabel" (1969)
"Ultimo mondo cannibale" (1977)

Freitag, 5. Dezember 2014

La montagna del dio cannibale (Die weiße Göttin der Kannibalen) 1978 Sergio Martino

Inhalt: Susan Stevenson (Ursula Andress) und ihr Bruder Arthur (Antonio Marsina) versuchen die Genehmigung zu erhalten, im ostasiatischen Dschungel nach Susans seit Monaten verschollenem Ehemann zu suchen, der dort anthropologische Forschungen betrieb. Die Behörden glauben nicht daran, dass er noch lebt, aber Susan will nicht aufgeben und überredet Professor Foster (Stacy Keach), der die Region als Einziger kennt, sie zu begleiten. Er glaubt, dass Susans Mann zu einer Insel gelangt ist, auf der sich der Berg des „Kannibalen-Gotts“ befindet, der von einem geheimnisvollen Stamm bewohnt wird.

Ohne Genehmigung begeben sie sich in den Dschungel und dringen unter lebensgefährlichen Bedingungen bis zum Ozean vor, von wo aus sie zu der Insel übersetzen. Dort angekommen, sehen sie sich nicht nur einer feindlichen Tierwelt ausgesetzt, sondern auch ein maskierter Attentäter hat es offensichtlich auf sie abgesehen…


Allein die Tatsache, dass die wenigen Kannibalismus-Filme der späten 70er Jahre noch heute als eigenständige Genre-Phase im italienischen Film Erwähnung finden, lässt auf den tiefen Eindruck schließen, den sie trotz ihrer preiswerten und spekulativen Machart hinterließen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Rassismus, Misogynie, ekelhafte Gewaltdarstellungen und Tiertötungen erzeugten heftige Ablehnung. Vom "Mondo"- Film seit „Mondo cane“ (1962) beeinflusst, täuschten sie einen realen Hintergrund vor, der irgendein Forscher-Team in die noch unentdeckten Gebiete Ostasiens oder am Amazonas führte, wo sie einen bisher unbekannten Volksstamm vermuteten, der zuvor noch nie Berührung mit der Zivilisation hatte. Doch die Kritik an der ungehemmten Darstellung archaischer Verhaltensmuster konnte nicht die Faszination auf eine Nachkriegsgeneration verhindern, die erstmals in Friedenszeiten aufwachsen konnte und im Zuge der generellen Liberalisierung im Kino seit den frühen 60er Jahren nach Tabubrüchen dürstete.

Genügten Ende der 60er Jahre noch Nuditäten, verbunden mit dem Versprechen einer frei ausgelebten Sexualität, um die bürgerliche Moral herauszufordern, erreichten Mitte der 70er Jahre schon Sado-Maso-Spielarten ein großes Publikum ("Histoire d'O" (Die Geschichte der O, 1975)). In Italien entwickelte sich parallel aus der ureigenen „Commedia all’Italiana“ der Ableger „Commedia sexy all’italiana“, der seine erotischen Bilder in eine Komödienhandlung einbettete, die zwischen Albernheiten und gesellschaftskritischen Aspekten oszillierte. Regisseur Sergio Martino gehörte zu den führenden Vertretern dieses Genres, zu dem er in der Hochphase zwischen 1973 („Giovannona Coscialunga disonorata con onore“)  und 1983 („Occhio, malocchio, prezzemolo e finocchio“) elf Filme besteuerte, die heute nahezu unbekannt sind – im Gegensatz zu "La montagna del dio cannibale" (Die weiße Göttin der Kannibalen), seinem einzigen Kannibalen-Film.

Dabei ließ der Regisseur keinen Zweifel daran, dass die Themenwahl vor allem der Vorgabe der Produktionsgesellschaft seines älteren Bruders Luciano Martino geschuldet war, wirtschaftlich erfolgreiche Filme zu drehen. Um Produktionskosten zu sparen, wickelte er am exotischen Drehort in Ostasien neben "La montagna del dio cannibale" noch "L'isola degli uomini pesce" (Insel der neuen Monster, 1978) und "Il fiume del grande caimano" (Der Fluß der Mörderkrokodile) - jeweils nach selbst verfassten Drehbüchern - ab, die zwar häufig in einem Zug mit seinem Kannibalismus-Film genannt werden, aber dem Science-Fiction-Horror bzw. Tier-Horror-Genre zuzurechnen sind. Sie entstanden in Folge des Kassenknüllers „Jaws“ (Der weiße Hai, 1975), der das Horror-Genre im Mainstream-Kino salonfähig werden ließ, und wurden meist mit internationalen Stars besetzt, die ihren Karrierehöhepunkt schon hinter sich hatten – ein Versuch der darbenden italienischen Filmindustrie, der wachsenden Übermacht Hollywoods trotz ungleicher finanzieller Mittel Einhalt zu gebieten  (siehe „Das italienische Kino frisst sich selbst“).

Entsprechend gehörten mit Ex-Bond Girl Ursula Andress und Stacy Keach in "La montagna del dio cannibale" zwei bekannte Namen zur Darstellerriege, aber Sergio Martino griff auch auf seinen Landsmann Claudio Cassinelli zurück, mit dem er zuvor den Poliziesco "Morte sospetta di una minorenne" (1975) gedreht hatte, um ihn in allen drei Ostasien-Streifen in einer der Hauptrollen zu besetzen. In "La montagna del dio cannibale" stößt er in der Rolle des Dschungel-Arztes Manolo zwar erst nach einem Drittel der Laufzeit auf Susan Stevenson (Ursula Andress) und deren Bruder Arthur (Antonio Marsina), die unter der Führung von Professor Edward Foster (Stacy Keach) den verschollenen Ehemann Susans suchen, kann aber als Sympathieträger punkten, als es für die Protagonisten weiter in Richtung des sagenumwobenen Bergs des Kannibalen-Gotts geht. Von dort sind nur Wenige lebend zurückgekommen - darunter Professor Foster, der nach wie vor unter den traumatischen Umständen seiner Gefangenschaft leidet.

Auch für Sergio Martino - wie zuvor schon für Joe D’Amato bei der Entwicklung seines vierten „Emanuelle nera“ - Streifens „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ (Nackt unter Kannibalen, 1977) - wurde der Erfolg von Ruggero Deodatos „Ultimo mondo cannibale“ (Mondo cannibale 2 – Der Vogelmensch, 1977) zum Auslöser, die Kannibalen-Thematik in Angriff zu nehmen. Und ähnlich D‘Amato orientierte sich Martino in der Story-Anlage mehr an Umberto Lenzis „Il paese del sessio selvaggio“ (Mondo cannibale, 1972) als an Deodatos kompakter, tief in die archaische Lebenswelt der Urwaldbewohner eindringenden Sichtweise. Der Blick auf den Kannibalen-Stamm bleibt immer aus der Distanz des westlichen Kulturkreises, stellt das Verhalten der weißen Abenteurer nicht in Frage – von üblichen Geldgier-Mechanismen einmal abgesehen - und verkommt spätestens mit den Sodomie- und Selbstbefriedigungsszenen beim Fest um die weiße Göttin, für die Susan von den Kannibalen gehalten wird, zum sensationsheischenden, rassistische Vorurteile bestätigenden Panoptikum. Auch die realen Tiertötungen, wie sie früh in den „Mondo“-Filmen gezeigt wurden, die schon für Lenzis Film Pate standen, haben in Martinos Film nur den fragwürdigen Zweck, zusätzlichen Grusel zu entfachen. Inhaltlich stehen sie in keiner Verbindung zur Story.

D’Amato hatte in „Emanuelle e gli ultimi cannibali“ auf Tiertötungen jeder Art verzichtet, Sergio Martino bot dagegen die reifere Inszenierung an. Von den wenigen Szenen nach dem Motto „Fressen und gefressen werden“ zu Beginn und der abschließenden Eskalation am Berg des Kannibalen-Gotts schuf Martino gemeinsam mit Autor Cesare Frugoni, der ebenfalls bei allen drei vor Ort entstandenen Filmen zum Team zählte, eine klassische Abenteuerstory, die über eine stimmige Figurenkonstellation verfügt und sich über eine Vielzahl an Zwischenstationen abwechslungsreich entwickelt – allein das actionreiche Geschehen am Wasserfall nimmt kaum weniger Zeit ein als die abschließenden Ereignisse am Kannibalen-Hort. Die seltenen Nacktaufnahmen wirken – anders als bei D’Amato - nicht künstlich integriert (von der erwähnten Selbstbefriedigungsszene abgesehen) und es kommt zu keinen zeremoniellen Vergewaltigungen wie sie schon in Lenzis Film an der Tagesordnung waren und von D’Amato zitiert wurden. Zudem ist es dem Spiel der damals 42jährigen Ursula Andress zu verdanken, dass trotz diverser Geschlechter-Klischees der Eindruck der Misogynie zurückhaltend blieb. Sergio Martino erwähnte, wie selbstbewusst und ohne Angst sich die Darstellerin im Dschungel bewegte und etwa die Szene mit der Schlange bewältigte – eine Haltung, die sich auf ihre Rolle übertrug.

Trotz dieser Qualitäten wird an "La montagna del dio cannibale" und mehr noch im Vergleich zu den zwei weiteren Abenteuerfilmen der Ostasien-Trilogie deutlich, wie sehr die Kannibalismus-Thematik als reißerischer Aufhänger diente. Auf Basis einer identischen Anlage - weiße Abenteurer schlagen sich durch das unbekannte Terrain einer exotischen Welt – variierte Martino darin unterschiedliche populäre Horror-Sujets. Während ein Riesenkaiman in "Il fiume del grande caimano" als „Weißer Hai“-Epigone herhalten musste, wurden unter dem Oberbegriff „Kannibalismus“ fremdartige Stammesrituale, exotische Speisen, eine gnadenlose Tierwelt und eine ungehemmt ausgelebte Sexualität zusammengefasst - die eigentliche Menschenverspeisung sollte den makabren Höhepunkt abgeben. Mit einer kritischen Gegenüberstellung unterschiedlicher Kulturkreise, wie sie Deodato in „Ultimo mondo cannibale“ anklingen ließ, hatte das nichts zu – Sergio Martinos Abenteuerfilm hätte auch unter anderen Vorzeichen funktioniert.

"La montagna del dio cannibale" Italien 1978, Regie: Sergio Martino, Drehbuch: Sergio Martino, Cesare Frugoni, Darsteller : Ursula Andress, Stacy Keach, Claudio Cassinelli, Antonio Marsina, Franco Fantasia, Laufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Sergio Martino:


Sonntag, 30. November 2014

Emanuelle e gli ultimi cannibali (Nackt unter Kannibalen) 1977 Joe D'Amato

Inhalt: Emanuelle (Laura Gemser) schmuggelt sich als Fotoreporterin in eine New Yorker Heilanstalt, mischt sich unter die Patienten und wird zufällig Zeugin, als eine junge Frau einer Krankenschwester die Brustwarze abbeißt und sie isst. Nachdem diese überwältigt und auf einer Liege festgeschnallt wurde, begibt sich Emanuelle heimlich in deren Zimmer und versucht sie mit Zärtlichkeiten zu beruhigen. Dabei entdeckt sie oberhalb der Vagina ein Tattoo, dass sie fotografiert.

In der Zeitungs-Redaktion gibt ihr der Chefredakteur den Tipp, den Anthropologen Marc Lester (Gabriele Tinti) aufzusuchen, um ihn nach der Bedeutung des Tattoos zu befragen. Der Professor reagiert sehr interessiert, denn es handelt sich um das Kennzeichen eines im Amazonas-Gebiet, weitab jeder Zivilisation lebenden Kannibalen-Stamms, bei dem die Frau aufgewachsen sein muss. Um seine Worte zu unterstreichen, zeigt er Emanuelle einen Dokumentarfilm, der deren Grausamkeit verdeutlicht. Trotzdem will die Fotoreporterin den Weg in die unbekannte Wildnis wagen und bittet den Professor, sie zu begleiten…



Gesteigerte Fleischeslust

Zärtlicher Abschied von New York
1977 hatte die Soft-Sex-Welle ihren Höhepunkt bereits überschritten. Unter dem vielsagenden Titel "Emmanuelle goodbye" kam der dritte und vorläufig letzte Teil der französischen "Emmanuelle" - Reihe in die Kinos, die seit ihrem Erscheinen 1974 zu einem bis heute stehenden Begriff für das Erotik-Film-Genre geworden war. Auch die indonesisch-niederländisch stämmige Laura Gemser hatte 1977 schon ihren vierten Film als "Emanuelle nera" (Schwarze Emanuelle) abgedreht, dem italienischen Pendant zur französischen "Emmanuelle", das aus rechtlichen Gründen auf ein "m" im Namen verzichten musste. Nicht der einzige Unterschied, denn Laura Gemser, die nach ihrem ersten Auftritt als "Emanuelle nera" (1975) auch eine Nebenrolle in "Emmanuelle: L'antivierge" (Emmanuelle 2 - Garten der Liebe (1975)) an der Seite Sylvia Kristels spielte, verkörperte einen gänzlich anderen Frauen-Typus. Als eigenständig agierende Fotoreporterin begibt sie sich zu den Brennpunkten der Welt.

Wie üblich haben es die wilden Tiere besonders auf Frauen abgesehen...
Eine Vorlage für Joe D'Amato, der ab der ersten Fortsetzung "Emanuelle nera: Orient reportage" (Black Emanuelle 2. Teil (1976)) Regie führte und spätestens mit der Übernahme auch des Drehbuchs bei Teil Vier ("Emanuelle - Perché violenza alle donne?" (Emanuela: Alle Lüste dieser Welt (1977)) die Reihe ganz in seinem Sinn gestaltete. Nicht nur, dass er ohne Laura Gemsers Mitwirkung mit nachträglich integrierten expliziten Sex-Szenen für alternative Fassungen sorgte, um der zunehmend aufkommenden Konkurrenz durch den Pornofilm zu begegnen, thematisch wusste er geschickt Exploitation mit Erotik zu einem Sensationsversprechen zu verbinden. Zwar steht seine Orientierung an Ruggero Deodatos "Ultimo mondo cannibale" (Mondo Cannibale 2 - der Vogelmensch, 1977) bei der Entwicklung seiner Story für den fünften "Emanuelle"-Streifen "Emanuelle e gli ultimi cannibali" (Nackt unter Kannibalen) außer Zweifel, aber das betraf mehr dessen wirtschaftlichen Erfolg und damit die Akzeptanz beim Publikum als die inhaltliche Ausrichtung. Schon in "Emanuelle e Françoise (Le sorelline)" (Foltergarten der Sinnlichkeit, 1975), der nichts mit der "Emanuelle nera"-Reihe zu tun hat, schuf Joe D’Amato eine Mischung aus Sex und Horror, die in einer Szene auch die Kannibalismus-Thematik streifte.

... die sich davon aber nicht die Laune verderben lassen.
Für D’Amato besaß diese vor allem das Potential, den exploitiven Charakter seiner „Emanuelle“-Filme weiter zu steigern, deren Einfluss durch das „Mondo“-Genre in der Verwendung pseudo-dokumentarischer Gewalt- und Tötungssequenzen nicht zu übersehen war. In dieser Hinsicht lässt sich eine größere Nähe zu Umberto Lenzis „Il paese del sessio selvaggio“ (Mondo Cannibale, 1972) als zu Deodatos erstem Kannibalen-Film feststellen, denn D’Amato war an keiner Auseinandersetzung mit archaischen menschlichen Verhaltensmustern interessiert, sondern nutzte die Ereignisse um den Kannibalen-Stamm als oberflächlich-spekulativen Hintergrund für den nächsten investigativen Trip seiner Hauptfigur Emanuelle. Anders als Lenzi, dessen Sex-Szenen integrativer Bestandteil der Handlung blieben, inszenierte D’Amato die gut ausgeleuchteten Erotikszenen im Dschungel in starkem Kontrast zum gewalttätigen Kannibalismus-Geschehen und bewies damit einen eigenständigen Ansatz, weshalb die häufige Einordnung dieses zweiten italienischen Kannibalismus-Films als reines Deodato-Vehikel falsch ist („Das italienische Kino frisst sich selbst“).


Kastrationsängste


Allein die Anzahl schöner Frauen, die D’Amato in den Dschungel trieb, unterschied seinen Film schon von gängiger Genre-Ware. Gehörte in der Regel eine Frau zum Abenteurer-Team, schlagen sich neben Emanuelle noch Isabelle (Mónica Zanchi), die Nonne Angela (Annamaria Clementi) und nicht zuletzt Nieves Navarro - seit dem frühen Italo-Western “Una pistola per Ringo“ (Eine Pistole für Ringo, 1965) in der Rolle als verführerische Schönheit festgelegt - als Maggie McKenzie, Gattin eines fiesen Großwildjägers (Donald O’Brien), durch den Regenwald, der seine Herkunft als europäisches Strauchwerk nicht verbergen kann. D’Amato nutzte diese Besetzung für regelmäßige Soft-Sex-Szenen, die die sonst schnell geschnittene Handlung minutenlang unterbrachen. Besonders die gemeinsame Badeszene mit Laura Gemser und Mónica Zanchi wirkt in ihrer verspielt-sanften Ausgestaltung inmitten der angeblichen Wildnis fast absurd, erfüllte aber trefflich die ästhetische Erwartungshaltung an eine Lesben-Szene, die den männlichen Betrachter an den sonst heterosexuellen Neigungen der Protagonistinnen nicht zweifeln ließ.

Auch die emanzipatorische Ausrichtung der selbstständig agierenden Emanuelle wurde relativiert, indem ihr eine souveräne männliche Figur zur Seite gestellt wurde. Erst Professor Marc Lester (Gabriele Tinti) ermöglicht ihr den Trip zum Amazonas, denn der Anthropologe erkennt in dem Tattoo, das Emanuelle auf dem Körper einer scheinbar Wahnsinnigen vorfand, eine Verbindung zu einem dort lebenden Kannibalenstamm – nicht erstaunlich, dass sie sofort vom Sex mit ihm träumt. Die Fotoreporterin hatte sich zuvor undercover in eine New Yorker Heilanstalt eingeschlichen und wurde Zeuge, wie die junge Patientin einer Schwester die Brustwarze abbiss und verspeiste. Eine sehr gewagte Einleitung in Richtung Kannibalismus-Thematik, die der Professor nur wenig später mit seinen pseudo-dokumentarischen Aufnahmen einer Kastration noch toppt. Beide Motive wiederholen sich im Lauf der Handlung ein weiteres Mal in expliziterer Form, womit D’Amato den größtmöglichen Horror betonte – den Verlust der geschlechtsspezifischen Identität.

Allein unter inszenatorischen Gesichtspunkten betrachtet, lassen sich die Schwachpunkte in der Storyentwicklung, die oberflächliche Figuren-Gestaltung und der unausgewogene Charakter des Films nicht übersehen, aber mit dessen ständig zwischen Soft-Sex und Kannibalen-Horror wechselnder Handlung bewies D’Amato sein Einfühlungsvermögen für die Bedürfnisse und Ängste männlicher Betrachter, angesichts der fortschreitenden weiblichen Emanzipation, Ende der 70er Jahre. "Emanuelle e gli ultimi cannibali" kontrastierte den Schrecken amputierter Penisse und zerstörter weiblicher Körper mit ästhetischen Aufnahmen schöner Frauen, die sich letztlich dem Mann unterordnen. Als am Ende des Films Emanuelle, angesichts der vielen Opfer, Selbstzweifel über ihr Vorgehen als Fotoreporterin äußert, erhält sie von Professor Marc Lester sofort Absolution – die Welt ist noch in Ordnung.

"Emanuelle e gli ultimi cannibali" Italien 1977, Regie: Joe D'Amato, Drehbuch: Joe D'Amato, Romano Scandariato, Darsteller : Laura Gemser, Gabriele Tinti, Donald O'Brien, Nieves Navarro, Mónica Zanchi, Laufzeit : 90 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Joe D'Amato:

Sonntag, 16. November 2014

...E tu vivrai nel terrore! L'aldilà (Die Geisterstadt der Zombies) 1981 Lucio Fulci

Inhalt: Louisiana 1927: Einige Männer kommen per Boot über einen Fluss, Andere erreichen das Hotel mit dem Auto, bevor sie gemeinsam das Zimmer 36 aufsuchen, in dem ein Maler (Antoine Saint-John) kurz davor steht, ein Gemälde zu vollenden. Doch dazu kommt es nicht mehr. Die Männer misshandeln ihn brutal, schleppen ihn in den Keller, wo sie ihn kreuzigen und seinen Körper mit Löschkalk zerstören.

Mehr als 50 Jahre später kehrt wieder Leben in das alte Hotel ein, in dem die damalige Hinrichtung geschah. Lisa Merrill (Catriona McColl) hat es geerbt und will es mit Hilfe ihres Freundes Martin (Michele Mirabella), einem Architekten, wieder in Stand setzen – eine fast herkulische Aufgabe, angesichts des baulichen Zustands und ihrer geringen finanziellen Möglichkeiten. Als einer der Arbeiter schwer verunglückt, kommt erstmals der Arzt John McCabe (David Warbeck) zu dem Hotel, der aber nichts mehr für den Mann tun kann. Doch Lisa fasst Vertrauen zu ihm und bittet ihn erneut zu kommen, als sich die unerklärlichen Ereignisse häufen…


 "...auch du wirst im Schrecken leben! Das Jenseits" - eine wenig vielversprechende Aussicht, mit der Lucio Fulci den Betrachter direkt ansprach und damit schon den Unterschied zu seinen Zombie-Vorgängern betonte. "...e tu vivrai nel terrore! L'aldilà" (wenig inspiriert als "Die Geisterstadt der Zombies" veröffentlicht oder inhaltlich falsch "Über dem Jenseits" tituliert) gilt als dritter Teil der "Zombie-Trilogie" nach "Zombi 2" (Woodoo - die Schreckensinsel der Zombies, 1979) und "Paura nella città dei morti viventi" (Ein Zombie hing am Glockenseil, 1980), die Fulci jeweils mit Drehbuchautor Dardano Sacchetti, Kameramann Sergio Salvati und Komponist Fabio Frizzi entwickelte. Dank der gruseligen Atmosphäre, gepaart mit sehr grafischen Splatter-Effekten, die Fulci in jedem seiner Filme zu steigern wusste, lag die "Trilogie"-Einordnung nah, täuscht aber ein wenig darüber hinweg, dass die Kreativen die Zombie-Thematik jeweils sehr unterschiedlich umsetzten.

Erinnerte "Zombi 2" noch an die traditionelle Saga ("I walked with a Zombi" (Ich folgte einem Zombie, USA 1943)) und spielte größtenteils auf einer Karibik-Insel, war "Paura nella città deimorti viventi" in den USA angekommen - der bevorzugte Handlungsort im italienischen Genre-Film dieser Phase, um beim italienischen Publikum trotz des offensichtlich geringen Budgets mit der Konkurrenz "Hollywood" mithalten zu können (siehe den Essay "Das italienische Kino frisst sich selbst"). Die tödliche Gefahr durch die wieder auferstandenen Toten wird den Bewohnern eines kleinen Ortes zwar nur langsam bewusst, aber sie blieb eine Bedrohung von außen, gegen die sich die Protagonisten gezielt zur Wehr setzen konnten. Diese eindeutige Trennlinie existiert nicht mehr in "...e tu vivrai nel terrore! L'aldilà", in dem die Gefahr aus dem Inneren zu kommen scheint und die Untoten nicht mehr klar von den Lebenden unterschieden werden können.

Wie gewohnt nutzte Autor Sacchetti okkulte Zeichen und Formeln, um die mehr als 50 Jahre nach der Eingangsszene, in der ein Maler brutal hingerichtet wird, einsetzende Handlung vorzubereiten, aber mehr noch als in den Vorgängern bemühte er sich gar nicht erst um eine schlüssige Durchführung der Story, sondern trieb sein Spiel mit den unterschiedlichen Ebenen so weit, dass die kommenden Ereignisse nur schwer vorherzusehen sind. Anders als im typischen Zombie-Film bedeutet eine Übermacht an Angreifern noch nicht den sicheren Tod, der stattdessen  in ganz anderer Form überraschend eintreten kann – wie in der Bibliotheks-Szene, in der das Opfer gefräßigen Taranteln ausgesetzt wird. Ein unrealistisches, aber wirkungsvolles Szenario.

Einzigen erzählerischen Halt vermitteln die Figuren der Hotel-Erbin Lisa Merrill und des Arztes John McCabe, der zum ersten Mal an den Ausgangsort des Grauens gerufen wird, als bei den Renovierungsarbeiten ein Unglück geschieht. Catriona McColl, die schon die Hauptrolle in "Paura nella città dei morti viventi" spielte und bei dem Versuch, das geerbte Hotel mit Hilfe ihres Freundes Martin wieder zu reaktivieren, dessen Vergangenheit herauf beschwört, wurde diesmal David Warbeck an die Seite gestellt, der sich Anfang der 80er Jahre als Protagonist der Söldner-Filme unter der Regie Antonio Margheritis („L‘ultimo cacciatore“ (Jäger der Apocalypse, 1980) ) auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand. Zunehmend werden sie durch ein Geschehen aneinander geschweißt, das sprunghaft die Szenen wechselt, Spuren legt und Hinweise gibt, die nicht weiter verfolgt werden und Figuren einführt oder töten lässt, ohne die Hintergründe genauer zu betrachten.

Dank des stimmigen Setting, der Kameraführung und nicht zuletzt der Musik Fabio Frizzis sind Kritiker geneigt, über die Schwächen der Story hinwegzusehen, dabei lässt sich darin gerade die Stärke eines Films erkennen, der sich den üblichen Zombie-Adaptionen entzieht und zu einem halluzinatorischen Trip wird, in dem Reales nicht mehr von Irrealem unterschieden werden kann. Eine konsequente Weiterentwicklung der beiden ersten Zombie-Filme Fulcis, die seine Ankündigung im Filmtitel nicht als leeres Versprechen erscheinen lässt: „…auch du wirst im Schrecken leben!“

"...E tu vivrai nel terrore! L'aldilà" Italien 1981, Regie: Lucio Fulci, Drehbuch: Lucio Fulci, Dardano Sacchetti, Giorgio Mariuzzo,  Darsteller : David Warbeck, Catriona MacColl, Cinzia Monreale, Antoine Saint-John, Michele Mirabella, Laufzeit : 84 Minuten

Abschlussfilm des 5. Forumtreffens "Deliria Italiano" in Nürnberg vom 10. bis 11.10.2014

weitere im Blog besprochene Filme von Lucio Fulci:

Dienstag, 4. November 2014

La spiaggia (Der Skandal) 1954 Alberto Lattuada

Inhalt: Anna Maria Mentorsi (Martine Carol) bekommt ihre kleine Tochter am Bahnhof von zwei Nonnen übergeben, in deren Kloster das Mädchen sonst untergebracht ist, um mit ihr einen kurzen Urlaub am Meer zu verbringen. Auf der Zugfahrt lernt sie Silvio (Raf Vallone), den Bürgermeister von Pontorno kennen, der so sehr von seinem Städtchen schwärmt, dass sie spontan beschließt, dort aus zu steigen und in einem schönen, unmittelbar am Strand gelegenen Hotel, ein Zimmer findet.

Als sie am erstmals zum Strand geht, findet sie diesen menschenleer vor und döst mit ihrer Tochter im Arm ein, bis sie vom Lärm vieler Badegäste geweckt wird. Tatsächlich herrscht großer Trubel in dem Badeort, womit die zurückhaltende hübsche Frau nicht gerechnet hatte. Da sie sehr freundlich behandelt wird, beginnt sie langsam Bekanntschaften zu machen, bis ein ehemaliger Klient sie erkennt und als Prostituierte entlarvt...




Die faschistische Mussolini-Administration und der Krieg lagen erst wenige Jahre zurück, die Schäden waren noch lange nicht beseitigt, aber im Land herrschte Aufschwung und Optimismus. Nicht nur Deutschland, auch Italien erlebte in den 50er Jahren ein "Wirtschaftswunder" - die Prosperität wuchs und der sommerliche Urlaub am Mittelmeer wurde wieder zur Normalität. Per Zug fielen besonders Frauen und Kinder im August in die Feriendomizile ein, während viele Ehemänner nur an den Wochenenden dazu stießen, da sie weiter arbeiten mussten. Auf Grund der geografischen Nähe der Städte zu den Badeorten eine Besonderheit, die im italienischen Film häufig thematisiert wurde ("Peccato veniale", (Der Filou, 1974)), denn es war ein offenes Geheimnis, dass der Freiraum weidlich genutzt wurde. Oder wie ein kleiner Junge im Anblick des eintreffenden Zugs, auf den sommerlich leicht geschürzte Frauen am Bahnsteig warten, seinen Vater fragt: "Was bedeutet es, dass der Zug voll gehörnter Ehemänner ist?"

Regisseur Lattuada, dessen Kriegsheimkehrer-Drama "Il Bandito" (Der Bandit, 1946) zu den frühen neorealistischen Filmen zählt, widmete sich in "La spiaggia" (übersetzt "Der Strand") der sommerlichen Seite des Lebens mit Meer, Spaß und Liebeleien. Während die Kinder Burgen bauen und am Wasser spielen, lassen sich ihre Mütter von gut gebräunten jungen Männern verwöhnen, die im Hintergrund auch mal einen doppelten Salto vom Sprungbrett zum Besten geben. Die Bars und Promenaden werden von für den Entstehungszeitraum des Films erstaunlich leicht geschürzten jungen Damen bevölkert und Mario Carotenuto, in den 70er Jahren als Witzfigur einer der führenden Nebendarsteller in der "Commedia sexy all'italiana" ("La dotoressa del distretto militare" (Die Knallköpfe der 6.Kompanie, 1976)), gab hier schon früh eine Kostprobe seiner Paraderolle des selbstgefälligen Spießbürgers mit dominanter Ehefrau, der sein Glück vergeblich bei anderen Frauen sucht. Trotz dieser humorvollen Aspekte, einer schwungvollen Inszenierung und gewagter erotischer Einblicke in schönstem Ferrania-Color erlangte Lattuadas Film keine große Popularität und ist heute nahezu vergessen.

Denn der Regisseur meinte es ernst. Seine Sicht auf den Egoismus und die Doppelmoral der Italiener ist weder überzeichnet, noch ironisch, sondern von einem beißenden Realismus, der kein Urlaubs-Feeling hinterlässt. Die Konfrontation einer Spaß-Gesellschaft mit einer Prostituierten bedarf des Blicks in die 50er (und sicherlich noch 60er) Jahre, um die Wirkung auch auf die damaligen Betrachter des Films nachvollziehen zu können. Prostituierte waren im Neorealismus nicht ungewöhnlich (in „Il Bandito“ spielte Anna Magnani eine Bardame), aber ihnen blieb die Nähe zu ihrem Gewerbe jederzeit anzumerken, ihre Optik entsprach dem Klischee. In „La spiaggia“ inszenierte Lattuada seine Protagonistin dagegen als seriös gekleidete junge Frau mit einer kleinen Tochter, die sich als Witwe ausgeben muss, da eine ledige Mutter, unabhängig von ihrem Beruf, schon gegen das moralische Diktat verstieß.

Lattuadas Wahl der französischen Darstellerin Martine Carol für die Hauptrolle war ein zusätzlicher Schachzug, denn Carol galt seit „Caroline chérie“ (Im Anfang war nur Liebe, 1951) als Sex-Symbol und war in vielen ihrer Filme in mindestens einer Szene nackt zu sehen. In „La spiaggia“ blieb sie stets hochgeschlossen und selbst gegenüber dem sich um sie ernsthaft bemühenden Silvio (Raf Vallone), dem Bürgermeister des Urlaubsorts Pontorno, zurückhaltend. Sie benahm sich damit nicht nur entgegengesetzt zur Erwartungshaltung an ihre Rolle, sondern auch zu einer Umgebung, die hemmungslos ihrem Vergnügen nachging. Wunderbar sezierend auch die Nebengeschichte um eine dank ihrer Frauen-Ratgeber-Zeitungskolumne in der Öffentlichkeit stehende Autorin, die mit Verweis auf ihren Arbeitgeber bedauernd die ständigen privaten Fragen ihrer Umgebung ablehnt. Tatsächlich schreibt ihr Liebhaber die Texte, der wiederum schnell das Weite sucht, als der Wochenend-Zug am Urlaubsort eintrifft. Seine Frau und seine zwei kleinen Kinder befinden sich an Bord.

Die von Lattuada beabsichtigte Provokation der bürgerlichen Gesellschaft und die Offenlegung ihrer verlogenen Scheinmoral hat inzwischen viel von ihrer Wirkung verloren, aber Mitte der 50er Jahre griff der Regisseur damit eherne moralische Gesetze an – eine Intention, die auch seine späteren Filme prägte. Beruhte die Verpflichtung der damals 33jährigen Martine Carol auf der Umkehrung ihres Rufs als Sex-Symbol, besetzte er ab „Guendalina“ (Gwendalina, 1957) mehrfach sehr junge Darstellerinnen und inszenierte sie bewusst erotisch. Auch Catherine Spaak, damals erst 15jährig, verhalf er mit "I dolci inganni" (Süße Begierde, 1960) auf diese Weise zum Karrierebeginn. Keine zufällige Wahl, denn ihr Vater Charles Spaak war ebenfalls am Drehbuch zu "La spiaggia" beteiligt. Lattuadas offener Umgang mit der Sexualität verstand sich als anti-bürgerlich und war eine konsequente Weiterentwicklung seiner neorealistischen Filme – ein häufiges Motiv linksgerichteter Regisseure in den 50er und frühen 60er Jahren, die damit den Boden für die zunehmende Liberalisierung bereiteten.

„La spiaggia“ deshalb ausschließlich historische Verdienste zuzugestehen - etwa als Vorläufer der „Commedia sexy all’italiana“ - wäre trotzdem falsch, denn dafür ist Lattuada zu pessimistisch, seine Kritik am Bürgertum, die weit über deren Doppelmoral hinausgeht, zu fundamental. Außer der unverheirateten Mutter, die gezwungen ist, ihre Tochter in einem Nonnenkloster aufziehen zu lassen, existiert im Film nur der Bürgermeister als positiv besetzte Figur, dessen Versuche, ihr beizustehen, sich als wirkungslos erweisen. Aber es gibt noch den Millionär Chiastrino (Carlo Bianco), einen alten Misanthropen, der mit Niemandem redet und das Treiben am Strand mit seinem Fernglas beobachtet. Er ist in der Lage, die Meinung des Volkes zu beeinflussen, denn sein Reichtum qualifiziert ihn dazu in den Augen einer Umgebung, die um seine Sympathie buhlt. Doch seine der jungen Mutter angebotene Hilfe bedeuten Rettung und Niederlage zugleich.

"La spiaggia" Italien, Frankreich 1954, Regie: Alberto Lattuada, Drehbuch: Alberto Lattuada, Luigi Malerba, Charles Spaak, Rodolfo Sonego,  Darsteller : Martine Carol, Raf Vallone, Carlo Bianco, Mario Carotenuto, Clelia Matania, Laufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Alberto Lattuada:

Samstag, 25. Oktober 2014

Cronaca di un amore (Chronik einer Liebe) 1950 Michelangelo Antonioni

Inhalt: Carloni (Gino Rossi) wird zu seinem Chef gerufen, um einen neuen Auftrag entgegen zu nehmen. Der Detektiv soll für den reichen Fabrikanten Fontana (Frederico Sarmi) mehr über dessen Ehefrau Paola (Lucia Bosè) in Erfahrung bringen. Fontana hatte die deutlich jüngere Frau in den letzten Kriegsjahren geheiratet, weiß aber wenig über deren Vergangenheit, in der er Männergeschichten vermutet. Carloni fährt in Paolas Heimatstadt, wo sie unter einfachen bürgerlichen Bedingungen aufgewachsen ist, stößt bei seinen Nachforschungen aber auf Misstrauen.

Paola, die dank Fontana in luxuriösen Verhältnissen lebt, erfährt davon, ohne zu ahnen, dass ihr eifersüchtiger Mann dahinter steckt. Aus Angst, die Polizei  untersucht den Tod einer damaligen Freundin, nimmt sie wieder Kontakt zu Guido (Massimo Girotti) auf, mit dem sie damals eine heimliche Liebesbeziehung hatte. Dessen Verlobte war in einen Aufzugschacht gefallen, ohne dass ihr Guido und sie zu Hilfe gekommen wären. Seitdem plagt sie das schlechte Gewissen, weshalb sie sich vor vielen Jahren von Guido trennte, aber als sich wieder begegnen, erwachen ihre Gefühle füreinander erneut…


Michelangelo Antonioni war eng an der Erneuerung des italienischen Films in den 40er Jahren beteiligt. Er schrieb an den Drehbüchern zu Roberto Rossellinis Frühwerk "Un pilota ritorna" (1942) und zu Giuseppe De Santis' "Caccia tragica" (Die tragische Jagd, 1947). Zudem dokumentierte er in "Gente del Po" (1943) früh die armseligen Lebensbedingungen der am Po lebenden Menschen – ein Kurzfilm, dem er noch weitere spezifische Einblicke in die italienische Realität folgen ließ („Sette canne, un vestito“ (1950)). Trotzdem wird sein Name nie im direkten Zusammenhang mit dem Neorealismus genannt, der sinnbildlich für die Modernisierung des italienischen Kinos steht. Im Gegenteil. Sein erster Langfilm "Cronaca di un amore" (Chronik einer Liebe, 1950) wurde heftig dafür kritisiert, dass seine Story innerhalb der reichen Gesellschaftsschicht spielte – neben der großzügigen Stadtwohnung des Fabrikanten Fontana (Frederico Sarmi) standen Modesalons, Edel-Restaurants oder die Probefahrt mit einem Maserati für den Hintergrund einer Handlung, die sich scheinbar den Befindlichkeiten einer winzigen Elite widmete.

Damit wurde „Cronaca di un amore“ stilbildend für das weitere Werk Antonionis, dessen Filme nur selten („Il grido“ (Der Schrei, 1957)) innerhalb prekärer Lebensverhältnisse angesiedelt waren. Trotzdem ist es nicht nur falsch, diesem die gesellschaftskritische Relevanz abzusprechen, auch die darin enthaltenen Parallelen zum Neorealismus sind offensichtlich -  beginnend mit Massimo Girotti in der männlichen Hauptrolle, der seit Viscontis „Ossessione“ (Besessenheit, 1942) zu einem führenden Darsteller des Neorealismus aufgestiegen war und mit Rossellini („Desiderio“ 1946, „Amore“ 1948), De Santis („Caccia tragica“), Pietro Germi („Juventù perduta“ (Jugend verboten, 1947), „In nome della legge“ (Im Namen des Gesetzes,1949) und Luigi Zampa („Anni difficile“, 1948) zusammenarbeitete. Eine Besetzung, die Antonionis Orientierung an „Ossessione“, der als erster neorealistischer Film gilt, noch betonte.

Die von ihm erdachte Figur des am Existenzminimum lebenden Autoverkäufern Guido (Massimo Girotti) ähnelt dem arbeitslosen Herumtreiber in Viscontis Film sowohl hinsichtlich dessen Liebesbeziehung zu einer Frau aus wohlhabenderen Verhältnissen, als auch im später gemeinsam gefassten Plan, ihren Gatten zu ermorden. Zwar spielte die Story in „Ossessione“ , basierend auf dem Roman „When the postman rings twice“ (Wenn der Postmann zweimal klingelt), auf tieferen sozialen Ebenen, aber in beiden Filmen wird die materielle Diskrepanz zwischen den Liebenden zum Auslöser des Mordplans – die zwei Frauen wollen jeweils den Mann, ohne ihre gesicherte gesellschaftliche Stellung zu verlieren. Mit seiner klar komponierten, die allgemeine Tristesse betonenden Bildsprache sowie der artifiziellen musikalischen Begleitung durch ein Saxophon/Klavier-Duo grenzte sich Antonioni stilistisch deutlich gegenüber Viscontis grobkörniger Wiedergabe einfacher Lebensverhältnisse ab, aber das Vorbild blieb jederzeit sichtbar.

Auch in „Cronaca di un amore“ stammt die weibliche Hauptfigur ursprünglich aus der selben sozialen Schicht wie ihr Liebhaber, was der Film im Stil einer Kriminalstory aufdecken lässt, die Antonionis Einfluss durch das US-Kino verdeutlicht. Fontana beauftragt eine Detektei, die Vergangenheit seiner schönen jungen Frau Paola (Lucia Bosé), von der er nach sieben Jahren Ehe kaum etwas weiß, zu untersuchen. Die Wege des Detektivs Carloni (Gino Rossi) in Paolas Kindheit und Jugend führen ihn in einfache bürgerliche Verhältnisse, der alles Prätentiöse fehlt, wie es Paola inzwischen ganz selbstverständlich lebt. Bosé, die 1947 zur ersten „Miss Italia“ nach dem Krieg gewählt wurde, verkörperte einen für die Entstehungszeit sehr selbstbewussten Frauentyp. Ob sie Antonioni lässig rauchend, am Steuer ihres Autos oder im Bett mit Guido zeigt – nur wenige Frauen besaßen diesen Freiraum, den Paola ausschließlich der materiellen Sicherheit ihres Mannes verdankt. Darauf zu verzichten ist sie nicht bereit, weshalb sie Guido dazu überredet, ihn zu töten.

Schon die Gegenüberstellung von „Chronik“ und „Liebe“ im Filmtitel verweist auf Antonionis wenig emotionale Interpretation großer Gefühle - ebenfalls stilbildend für sein späteres Werk, das den egoistischen Missbrauch von Liebe, verbunden mit der Unfähigkeit zu Nähe, wiederholt thematisierte. Damit kehrte er Viscontis Ansatz um, der die Liebe zwischen den beiden Protagonisten als Strudel inszenierte, der sie wie Ertrinkende aneinander band. Solche Emotionen existieren in „Cronaca di un amore“ nicht, dessen dramatische Entwicklungen entsprechend wenig Tragik vermitteln. Im Gegenteil bringt erst das Misstrauen des Ehemanns die Ereignisse im Stil einer selbsterfüllenden Prophezeiung in Gang. Paola und Guido hatten sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, nachdem seine damalige Verlobte tödlich verunglückt war. An deren Unfalltod gaben sich die heimlich Liebenden eine Mitschuld, die sie auseinandertrieb. Erst die Nachforschungen des Detektivs – sie glauben, er will die damaligen Vorfälle untersuchen – bringt sie wieder zueinander.

In „Ossessione“ standen die überbordenden Gefühle sinnbildlich für die verzweifelte Situation der in Armut lebenden Menschen, wurden die tragischen Folgen zur Anklage gegen eine von der Mussolini-Administration verheimlichte Realität - eine Sichtweise, die von der Hoffnung auf Veränderung motiviert war, wie sie typisch für die frühen neorealistischen Werke wurde. Von diesem unterschwelligen Optimismus ist in Antonionis „Cronaca di un amore“ nichts mehr zu spüren. Selbst in ihren wenigen innigen Momenten wirken die Liebenden verhalten, veranschaulichte Antonioni ihre innere Leere durch weite, gleichförmige und unbelebte Räume. Entsprechend bedurfte es keines Mords für das Scheitern ihrer Liebe, dessen echte Konsequenzen angesichts der oberflächlichen Schwüre und Versprechungen viel zu extrem gewesen wären. Antonioni unterschied darin nicht zwischen arm und reich, sondern nutzte die Abwesenheit jeder klassenkämpferischen Parole für die Herausarbeitung einer Sozialisation, deren realistische Analyse ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren hat.

"Cronaca di un amore" Italien 1950, Regie: Michelangelo Antonioni, Drehbuch: Michelangelo Antonioni, Silvio Giovanetti, Francesco Maselli, Daniele D'Anza, Darsteller : Lucia Bosé, Massimo Girotti, Ferdinando Sarmi, Gino Rossi, Gino Cervi, Laufzeit : 98 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Michelangelo Antonioni:

"Gente del Po" (1943)
"Superstizione" (1949)
"Sette canne, un vestito" (1949)
"I vinti" (1952)
"L'amore in città" (1953)
"Il grido" (1957)
"L'avventura" (1960)
"La notte" (1961)
"L'eclisse" (1962)
"Il deserto rosso" (1964)