Sonntag, 12. Juni 2011

Miracolo a Milano (Das Wunder von Mailand) Vittorio De Sica 1951

Inhalt: Es war einmal eine sehr alte Frau, Lolotta (Emma Gramatica), die in ihrem Gemüsebeet ein winziges Baby fand. Sie nannte es Totò und zog es liebevoll bis zu ihrem Tod auf. Sie hatte keine Verwandten und Freunde und wurde nur von dem Jungen auf ihrem letzten Weg begleitet, der darauf hin in ein Waisenhaus kam, bis er als Erwachsener entlassen wurde.

Nur mit wenigen Utensilien in seiner Tasche stand Totò (Francesco Golisano) allein auf den winterlichen Straßen Mailands. Als es Abend wurde, hatte er weder eine Arbeit, noch eine Unterkunft gefunden. Zudem stahl ihm ein Dieb seine Tasche, aber er verfolgte ihn und konnte ihn einholen. Totò erklärte dem alten Mann, dass darin nichts von Wert enthalten wäre, aber dieser entgegnete ihm, dass er nur die Tasche selbst haben wollte, weil er sie so schön fand. Darauf schenkte ihm Totò seine Tasche und der Dieb nahm ihn mit zu seiner Unterkunft. Gemeinsam schliefen sie in der engen, provisorisch gebauten Baracke, bis diese am nächsten Morgen - wie auch die anderen Behelfsbauten - vom kalten Wind zerstört wurde. Gemeinsam versuchten die Armen einen Sonnenstrahl zu erhaschen, um sich ein wenig zu wärmen, aber Totò wollte sich das nicht mehr länger ansehen.

Er organisierte den Bau einer Barackenstadt, deren Gebäude zumindest stabil genug waren, um dem Wetter zu trotzen. Immer mehr mittellose Menschen, die keine Unterkunft mehr hatten, zogen an diesen Ort und bildeten eine funktionierende Gemeinschaft unter der freundlichen Führung des überall aktiven Totò. Selbst mit dem reichen Besitzer des Grundstücks konnten sie sich einigen, doch das ändert sich, als an diesem Ort Öl gefunden wird. Der neue Besitzer will das Gelände räumen lassen und setzt dafür gnadenlos die Polizei ein...


Bis heute gilt "Miracolo a Milano" (Das Wunder von Mailand) als eines der wichtigsten Werke des Neorealismus, obwohl dem Film gleichzeitig dessen spezifische Eigenschaften abgesprochen werden und De Sicas Film in der Folge von "Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe) auch zeitgenössische Zuschauer und Kritiker irritierte. Die gewählte Form eines Märchens, welches zusätzlich durch fantastische Elemente im Film betont wird, hatte scheinbar wenig mit der Abbildung der Realität zu tun, der sich der Neorealismus verschrieben hatte.

Abgesehen davon, dass es nie einen generellen, in sich homogenen Filmstil gegeben hatte, ist Vittorio de Sicas Verfilmung eines Buches von Cesare Zavattini, die konsequenteste Umsetzung seines eigenen Stils, dessen Popularität dadurch entstand, dass er der düstersten Realität noch menschliche Züge abgewinnen konnte. Anders als in Roberto Rossellinis oder Luchino Viscontis Filmen dieser Epoche, durchbrach er den Pessimismus durch kleine, scheinbar nebensächliche Geschichten, wie etwa die Freundschaft des einsamen "Umberto D." zu seinem kleinen Hund. Durch diese Elemente blieben De Sicas Filme immer in einem für den Betrachter emotional erträglichen Rahmen, in dem er sich das Schicksal benachteiligter Menschen ansehen konnte.

Auch heute noch kann man darüber streiten, ob De Sicas Stil die Realität verharmloste oder erst zugänglich machte, doch während in Filmen wie "Ladri di biciclette" oder "Umberto D." die harte Realität und menschliche Züge untrennbar miteinander verwoben sind, lassen sich in "Miracolo a Milano" diese deutlich unterscheiden - während die Realität der mittellosen Menschen in der Barackensiedlung am Rande Mailands nicht beschönigt wird, verfügen alle menschlichen und positiven Entwicklungen über märchenhafte Züge. Sie kulminieren letztlich alle in der Figur des Totò (Francesco Golisano), der in einer Art Kreuzung aus unschuldigem Parsifal und "Hans im Glück", den armen Menschen zu Hilfe kommt. Seine Figur begründet sich aus dem Epilog des Films, denn obwohl von seinen realen Eltern ungeliebt als Findelkind ausgesetzt, wird er von der alten Lolotta (Emma Gramatica) gefunden und mit so viel Liebe aufgezogen, dass er ab sofort gegen jedes menschliche Unbill resistent ist. Er akzeptiert es einfach nicht. 


Durch diese bewusst übertrieben gezeichnete Figur, der zudem noch seine Ziehmutter aus dem Himmel mit einer Taube zu Hilfe kommt, stellt Zavattini der realen Welt eine Irrealität gegenüber, die im Film zwar sehr unterhaltend ist, aber von keinem Betrachter als tatsächliche Lösung angesehen werden kann. Dadurch erhält auch De Sicas Schilderung eines Kapitalismus in der italienischen Gesellschaft, deren Elend nicht mehr als Folge des Krieges, sondern als Auswuchs einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung angesehen wird, eine entsprechende Kontur, die dem Regisseur und seinem Autor erhebliche Kritik von konservativer Seite einbrachte. Eine für De Sica ungewohnte Situation, da er sich nicht zu kommunistischen Idealen bekannte - eine gerade in den Anfängen des Neorealismus, als Reaktion auf den Faschismus, übliche Haltung.

Aus der heutigen Sicht wirkt die Solidarität unter den Armen vielleicht etwas beschönigend, aber diese wird nur von der Märchenfigur Totò ausgelöst, während De Sica immer wieder in kleinen Nebengeschichten deutlich macht, wie egoistisch letztlich der Einzelne handelt. "Miracolo a Milano" kann in seiner kritischen Anlage neben den thematischen Nachfolgern "Accattone" von Pier Paolo Pasolini, 1961, und Ettore Scolas "Brutti, sporche e cattivi" (Die Schmutzigen, Hässlichen und Gemeinen) von 1976 problemlos bestehen. Pasolini hatte den Gedanken an eine Veränderung aufgegeben, bei Scola hatten es sich die Menschen inzwischen im Elend eingerichtet, aber auch bei De Sica gab es schon keine irdische Erlösung mehr.

Wer das Lachen Totòs, seine Liebe zu Edvige (Brunella Bovo) und den gemeinsamen Ritt der Armen auf dem Besenstil als Zeichen für menschliche Moral und den Sieg der Zuversicht ansieht, sollte nicht vergessen, dass diese Dinge am Ende in den Wolken verschwinden.

"Miracolo a Milano" Italien 1951, Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Cesare Zavattini, Suso Cecchi d'Amico, Darsteller : Francesco Golisano, Emma Gramatica, Brunella Bovo, Paolo Stoppa, Gugliamo Barnabò, Laufzeit : 92 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Vittorio De Sica:
"L'oro di Napoli" (1954)
"Il tetto" (1956)
"La ciociara" (1960)

Mittwoch, 1. Juni 2011

I giorni contati 1962 Elio Petri

Inhalt: Als Cesare (Salvo Randone) nach der Arbeit mit dem Bus nach Hause fährt, erlebt er, wie ein Fahrgast tot auf einer Sitzbank aufgefunden wird. Er war einfach während der Fahrt gestorben. Am nächsten Morgen bleibt der 54jährige, obwohl er von seiner Vermieterin daran erinnert wird, zur Arbeit zu gehen, einfach liegen. 

Erst am Abend, in seinem besten Anzug, verlässt er sein Zimmer und geht zu einem Freund, der nachts mit einer Kolonne die Zebrastreifen auf Roms Straßen malt. Ihm erklärt er, dass er nicht mehr Arbeiten, sondern von seinem Ersparten leben will, um die wenige Zeit, die ihm, der im gleichen Alter wie der im Bus Gestorbene ist, noch bleibt, zu nutzen. Doch damit stößt er bei Niemandem auf Verständnis...


Obwohl Elio Petris zweiter Film "I giorni contati" (wörtlich "Die gezählten Tage") 1962 sogar als bester Film des "Mar del Plata"-Filmfestivals in Argentinien ausgezeichnet wurde, konnte Petri damit nicht an den Erfolg seines Erstlings "L'assassino" (Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?) anknüpfen. In Deutschland oder in den USA kam der Film gar nicht erst in die Kinos. Vordergründig könnte man das mit der im Vergleich zu Marcello Mastroianni geringeren Popularität des Hauptdarstellers Salvo Randone begründen, der als bekannter Charakterdarsteller meist in den Nebenrollen besetzt wurde. Auch das Kriminal-Genre, dass Petri in seinem ersten Film anklingen ließ und das der deutsche Titel noch betonte, hatte sicherlich zusätzliche Zugkraft, obwohl "L'assassino" wenig damit zu tun hatte, aber der eigentliche Grund dürfte in einer Thematik liegen, die einen generellen und letztlich sehr fatalistischen Blick auf existentielle Fragen des Lebens wirft.

An Parallelen und Einflüssen gab es genügend, als Petris Film herauskam. Die Nähe zu Michelangelo Antonioni wurde erwähnt, sein Stil als italienische Variante der "Nouvelle vague" gerühmt und auch der Einfluss des Neorealismus, der Petri seit den frühen 50er Jahren geprägt hatte, in denen er als Drehbuchautor und später als Regieassistent besonders mit Giuseppe De Santis ("Roma ore 11", 1951) zusammen gearbeitet hatte, trat in "I giorni contati" deutlicher hervor als in "L'assassino". Die größte Parallele, aus der letztlich Petris Kernaussage entstand, wurde seltsamerweise nicht hinzugezogen - die Nähe zu Vittorio De Sicas "Umberto D.", der von Petri in der Grundanlage nahezu zitiert wurde und der ein Jahrzehnt zuvor erschienen war.

Die Erfahrungen der 50er Jahre hatten - ähnlich wie Pier Paolo Pasolinis es in seinem 1961 gedrehten Film "Accattone" ausdrückte - zu einer tiefen Enttäuschung des überzeugten Kommunisten Elio Petri darüber geführt, dass die nach dem Krieg erhoffte Wandlung der italienischen Gesellschaft nicht eingetreten war. So wie "Accattone" als moderne Variante von De Sicas "Miracolo a Milano" (Das Wunder von Mailand) angesehen werden kann, so wandelte "I giorni contati" die Thematik des allein stehenden, alten Mannes aus "Umberto D." in die Gegenwart der frühen 60er Jahre. Beiden jüngeren Filmen ist dabei gemein, dass sie wesentlich konkreter und genereller gestaltet wurden, was besonders für Petris Film gilt, der kaum noch Distanz zum Zuschauer zulässt.

Schon der 1952 entstandene "Umberto D." basierte auf ersten Veränderungen in der italienischen Gesellschaft nach dem Krieg, in der für einen alten, mittellosen Mann kein Platz mehr vorhanden war, aber De Sica konnte sich noch des Mitleids der Betrachter für den sympathischen alten Herrn mit seinem kleinen Hund sicher sein, auch weil dieser letztlich als Außenseiter begriffen wurde und die gerechtfertigte Empörung seinen rücksichtslosen, egoistischen Zeitgenossen galt. Über diesen Bonus verfügt Cesare (Salvo Randone) bei Elio Petri nicht mehr, denn er ist mit seinen 54 Jahren nicht nur zwanzig Jahre jünger als Umberto D., sondern verdient sein Geld als Klempner und verfügt über gewisse Ersparnisse. Als er - wie jeden Tag - von der Arbeit mit dem Bus nach Hause fährt, erlebt er, wie ein Mann seines Alters tot auf seinem Sitz aufgefunden wird. Er hatte einfach einen Herzinfarkt erlitten. Cesare, geschockt von dieser Erfahrung, beschließt nicht mehr zu arbeiten, sondern die Jahre, die ihm noch bleiben, für sinnvollere Dinge zu nutzen.

Betrachtet man diesen anfänglichen Aspekt ist Cesare entgegen gesetzt zu Umberto D. angelegt. Wurde der alte Mann zum Außenseiter wider Willen, wird Cesare, ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft, freiwillig und ohne äußerlichen Zwang zum Außenseiter. Aus der heutigen hedonistischen Gesellschaft heraus nicht ungewöhnlich, war ein solches Verhalten Anfang der 60er Jahre unvorstellbar - besonders für ein Mitglied der Arbeiterklasse. Cesare stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Genauer, er wagt es, sie zu stellen. Anstatt zu arbeiten schlendert er durch Rom, geht in Museen, trifft eine alte Freundin wieder, besucht sein Heimatdorf und versucht, seine Tage zu genießen.


Selbstverständlich funktioniert "I giorni contati" auch ohne jeden Bezug, aber die konkreten Zitate aus "Umberto D." lassen zusätzlich deutlich werden, wie kritisch Petri nicht nur die aktuelle Situation betrachtete, sondern die gesamte gesellschaftliche Entwicklung. Cesare lebt ebenfalls zur Miete in einem Zimmer, dass von einer älteren Frau vermietet wird, die ihm zwar wohlwollend gegenüber steht, da er bisher immer seine Miete zahlte, aber sogleich Bedenken äußert, als sein Geld langsam knapp wird. Besonders prägnant ist aber die Parallele zu der Freundschaft mit einer sehr jungen Frau - bei Umberto D. das Hausmädchen, hier die Tochter der Vermieterin - die jeweils als Einzige zu Vertrauten werden, mit denen sie offen sprechen können. Beide Mädchen zeichnen sich durch eine gewisse Naivität und wenig Bildung aus, aber während sie bei "Umberto D." in ihrer Anständigkeit selbst zum Opfer wurde, verschafft sich die Tochter des Hauses daraus Vorteile und zieht Cesare sein Geld aus der Tasche - angeblich wegen eines Jobs, um dann mit einer neuen Perücke herbei zu stolzieren.

In "I giorni contati" hat die Gesellschaft jede Unschuld verloren. Selbst das Betteln, zu dem sich Umberto D. trotz seiner Not damals nicht in der Lage sah, ist hier zum Geschäft geworden. Als Cesare in Geldnot gerät, trifft er auf eine Bande von Versicherungsbetrügern, die ihm den Arm brechen wollen, um mit einem fingierten Unfall Schadensersatz heraus zu holen. Im Gegensatz zu Umberto D. verfügt der Witwer Cesare zwar noch über einen Sohn, aber diese sozialen Kontakte sind in "I giorni contati" nur noch Makulatur und können nicht die völlige Einsamkeit überdecken, in die Cesare zunehmend gerät. Er scheitert mit seinem Vorhaben, den ewigen Trott nicht mehr weitermachen zu wollen, nicht nur an seinem fehlenden Einkommen, sondern an einer Umgebung, die keinerlei Verständnis für seine Eskapaden aufbringt.

Es ist Salvo Randones großartigem Spiel zu verdanken, dass er nicht nur den Film als einziger Protagonist mühelos trägt, sondern in seiner souveränen Ausstrahlung niemals den Eindruck eines Verwirrten macht. Im Gegenteil wirken seine Entscheidungen konsequent und richtig, die er auch mit Selbstbewusstsein vertritt. Selbst seine fast ausschließlich negativen Erfahrungen bringen ihn nicht aus der Ruhe, bis auch er langsam die Kontrolle verliert, als er in seiner Notlage zum Versicherungsopfer werden soll. Doch das ist nur ein kurzer Moment, bevor Cesare wieder sein Handeln selbst bestimmt. Er kehrt wieder zu seinem Job als Klempner zurück.

Nur punktuell, fast unmerklich lässt Elio Petri tragische Momente zu, spielt niemals auf der emotionalen Klaviatur, wie es De Sica in "Umberto D." tat, treibt dagegen die Handlung schnell und jederzeit unterhaltend voran, ohne in philosophische Tiefen zu verfallen, aber auch ohne dass es an seiner kritischen Haltung den geringsten Zweifel gibt. Elio Petri, der hier die Erfahrungen seines Vaters, der ein Leben lang Arbeiter war und den er sehr schätzte, einfließen ließ, lässt Cesare am Ende sterben. Auf der Heimfahrt im Bus nach der Arbeit.

"I giorni contati" Italien 1962, Regie: Elio Petrio, Drehbuch: Elio Petri, Darsteller : Salvo Randone, Regina Bianchi, Franco Sportelli, Vittorio Caprioli, Paolo Ferrari, Laufzeit : 94 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Elio Petri: