Freitag, 6. Januar 2017

Il boom (1963) Vittorio De Sica


Giovanni Alberti (Alberto Sordi) mit Ehefrau Silvia (Gianna Maria Canale)
Inhalt: Zwar hält Giovanni Alberti (Alberto Sordi) ein dickes Geldbündel in der Hand – es sind die Ersparnisse seiner Mutter -  aber er weiß, dass es nicht reichen wird, um die Schulden zu begleichen, die er auf Grund seines verschwenderischen Lebensstils angehäuft hat. Nachdem er vergeblich seinen Gläubiger um einen Aufschub gebeten hatte, versucht er während seiner üblichen Tagesaktivitäten – Tennis, Besuch der Pferderennbahn, Restaurant – seine Freunde und Geschäftspartner um einen Kredit zu bitten. Doch diese halten sein Anliegen entweder für einen Witz oder reagieren abweisend. Sein Compagnon schläft ein, während Alberti ihm von ihrer langjährigen Zusammenarbeit vorschwärmt. 

Alberti hofft auf eine Chance bei Bausetti (Ettore Geri)
Einzig die zufällige Begegnung mit dem älteren, sehr angesehenen Ehepaar Bausetti verspricht noch eine Chance, weshalb Alberti am nächsten Vormittag im Büro des vielbeschäftigten Bauunternehmers vorspricht. Doch Bausetti lehnt Albertis spekulative Investitions-Pläne ab und will ihn rausschmeißen. Nur dessen Frau (Elena Nicolai) ergreift Position für den zunehmend verzweifelten Alberti und lädt ihn für den Nachmittag in ihren Palazzo ein. Voller Hoffnung belügt er noch seine Frau Silvia (Gianna Maria Canale), der Geldsorgen fremd sind, dass alles in Ordnung wäre, aber Signora Alberti macht ihm ein Angebot, auf das er nicht vorbereitet war…


Nach ersten Erfahrungen als Regisseur Anfang der 40er Jahre mit komödiantischen Filmen, in denen er auch die Hauptrolle übernommen hatte, begann mit "I bambini ci guardano" (1944) Vittorio De Sicas ernsthafte Auseinandersetzung mit der italienischen Gegenwart, auch gekennzeichnet durch seine erste Zusammenarbeit mit Drehbuchautor Cesare Zavattini. Gemeinsam prägten sie den Neorealismus, dem sie bis 1956 mit "Il tetto" (Das Dach) treu blieben. Länger als jeder andere Vertreter dieses Stils, der seinen Höhepunkt Anfang der 50er Jahre überschritten hatte - ein Grund dafür, warum De Sicas Regie-Karriere nach "Umberto D." (1952) zunehmend ins Stocken geriet.

Erst 1960 - vier Jahre nach "Il tetto" - begann ein neuer Abschnitt, der die Phase seiner größten Popularität und Erfolge einleiten solle. Für ihre Hauptrolle in "La ciociara" (Und dennoch leben sie, 1960) erhielt Sophia Loren den Oscar für die weibliche Hauptrolle. "Ieri, oggi, domani" (Gestern, Heute und Morgen, 1963) wurde mit dem Oscar als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. De Sica stieg zum Star der "Commedia all'italiana" auf - in seiner amüsanten Form zwischen italienischem Temperament und dezent gesellschaftskritischem Gestus, dem er noch mit "Matrimonio all'italiana" (Hochzeit auf Italienisch) fröhnte, jeweils mit Sophia Loren und Marcello Mastroianni in den Hauptrollen. Auch die internationalen Produktionen "Caccia alla volpe" (Jagt den Fuchs, 1966) mit Peter Sellers und "Woman times seven" (Siebenmal lockt das Weib, 1967) mit Shirley MacLaine schlossen an ein Image an, in dass ein Film wie "Il boom" nicht passen wollte. Obwohl dieser mitten in De Sicas Erfolgsphase entstanden war und nahezu prototypisch für die "Commedia all'italiana" steht, blieb der Film über Italien hinaus unbekannt. Offensichtlich fehlte der Wohlfühl-Charakter. 


Das dicke Geldbündel täuscht, denn...
Das Instrumentalstück „Wheels“ des Billy Vaughn-Orchesters stand 1961 monatelang an der Spitze der deutschen Single-Charts. Der Titel und der Interpret sind heute nur noch Wenigen bekannt, aber die treibende Melodie hat fast Jeder schon einmal gehört. Regisseur Vittorio De Sica nutzte sie als rhythmischen Hintergrund eines Films, der das Lebensgefühl in Italien Anfang der 60er Jahre, nach einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Aufschwungs, beschreibt. Die Wirtschaft boomt, das Bruttosozialprodukt steigt, der Konsum wächst – und Jeder will ein Stück vom Kuchen abbekommen. Dass es dabei nicht ausgeglichen zugeht, daran gibt es schon in der ersten Szene keinen Zweifel. Während ein alter Mann einen knittrigen Schein in den Händen hält, zählt Giovanni Alberti (Alberto Sordi) die Lire-Scheine seines dicken Bündels. Der Unternehmer Alberti braucht das Geld für seinen luxuriösen Lebensstil. Ein Appartement in Top-Lage, ein schnelles Auto für sich, ein Fiat für seine schöne Frau Silvia (Gianna Maria Canale) und jeden Abend Party in angesagten römischen Locations mit seinen Freunden und Geschäftspartnern. Ein Leben im ständigen Vorwärtsgang – „the wheels go on“.

... nur Albertis Mamma hält noch zu ihrem Sohn
Diesem Tempo passt sich auch der Rhythmus eines Films an, der nicht lange braucht, um den Moment des Glücks zu Beginn als Illusion herauszustellen. Das Geldbündel stammt vom Sparbuch seiner alten Mutter, aber es reicht nicht annähernd, um seine hohen Schulden zu begleichen. Albertis Gläubiger gewährt ihm keinen Aufschub und seine Versuche, seine Freunde um einen Kredit zu bitten – auf dem Tennisplatz, an der Rennbahn oder im Restaurant – scheitern. Sein wichtigster Geschäftspartner schläft ein, während Alberti ihm von ihrer langen Freundschaft vorsäuselt. Einzig die Begegnung mit dem schwerreichen Baumagnaten Bausetti (Ettore Geri) verspricht eine Chance, aber dieser lehnt den Investitions-Vorschlag des jüngeren Kollegen ab. Er hätte sich seine Firma in 50 Jahren mit harter Arbeit aufgebaut, während Alberti mit windigen Spekulationen versuche, das gleiche Geld in einem Jahr zu verdienen.

Seinen gehobenen Lebensstil kann sich Alberti nicht mehr leisten...
Das langjährige Team Cesare Zavattini / Vittorio De Sica griff in „Il boom“ auf seine neorealistischen Wurzeln zurück und kombinierte sie mit einem komödiantischen Unterton. Herauskam eine „Commedia all‘italiana“ in Reinform, versehen mit einem gnadenlosen Humor, bei dem das Lachen nicht mehr im Hals stecken bleibt, sondern gar nicht erst aufkommen will. In seiner Anlage erinnert „Il boom“ an "Il tetto" (Das Dach, 1956), in dem ein junges aus armen Verhältnissen stammendes Ehepaar auf vielfältige Weise versucht, im prosperierenden Rom eine eigene Wohnung zu finden. Daran knüpfte Autor Zavattini seine Kritik an einem Wirtschaftswachstum, das einen Großteil der Bevölkerung in Armut zurückließ, um in "Il sicario" (Das bittere Leben, 1961) auf die Seite der Profiteure zu wechseln. Der unter der Regie von Damiano Damiani entstandene Film nahm die Thematik von „Il boom“ konkret vorweg und beschrieb die Situation eines Bauunternehmers aus der Oberschicht, dessen Firma nicht genug Geld für seinen verschwenderischen Lebensstil abwirft. Um die Pleite zu verhindern, lässt er den alten Freund seines Vaters, dem er viel Geld schuldet, umbringen. Als Mörder beauftragt er einen einfachen Arbeiter, der auf Grund seiner Arbeitslosigkeit nach einem Gefängnisaufenthalt nicht mehr in der Lage ist, seiner Familie etwas zu bieten und der deshalb fürchtet, Frau und Kind zu verlieren.

...und seine Freunde verweigern ihm die Hilfe
Die Verlockungen der Konsumgesellschaft und die Sucht nach dem schnellen, leichten Erfolg waren in ihrer Auswirkung auf alle Bevölkerungs-Schichten eine Folge des Wirtschaftswachstums nach dem Krieg. Eine Entwicklung, die auch zu einer leichteren Durchdringung der sozialen Ebenen führte. Die Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg bestand ebenso, wie die Gefahr des Verlusts an Ansehen. Der Bauunternehmer in "Il sicario" beauftragt den Killer, um seine traditionelle familiäre Stellung zu bewahren, Giovanni Alberti in „Il boom“ versucht dagegen, seine mühsam erreichte soziale Position nicht wieder zu verlieren. Seine Eltern sind Kleinbürger, die nur wenig mit seinem luxuriösen Lebensstil anfangen können, ihren Sohn aber selbstlos unterstützen. Dieser hatte mit Silvia, der Tochter eines Generals, nicht nur in die Oberschicht eingeheiratet, seine Partnerschaft mit einem angesehenen Investor ermöglichte ihm den Zugang in die besseren Kreise.

Seine Frau und ihr Vater (Federico Giordano) machen ihm schwere Vorwürfe...
Erst nach mehr als einem Drittel der Laufzeit findet der 2jährige Sohn Albertis in einem Nebensatz Erwähnung, obwohl „Il boom“ ausführlich den Tagesablauf des Protagonisten und seiner Frau beschreibt bis sie tief in der Nacht wieder nach Hause kommen. Berührung mit ihrem Kind gibt es keine. Dafür ist allein das Hausmädchen zuständig, das in einem kleinen Zimmer in der geräumigen Wohnung schläft. Doch dieses Leben zwischen Statussymbolen und teuren Freizeitvergnügungen übersteigt Albertis finanzielle Möglichkeiten bei weitem. Als seine Schulden bekannt werden, verlässt ihn nicht nur seine Frau, sondern auch seine Freunde wenden sich von ihm ab. Es bietet sich ihm nur ein Ausweg, auf den er in seiner hoffnungslosen Situation wieder zurückkommt. Er verkauft für viel Geld die Hornhaut seines linken Auges an den Magnaten Bausetti, der seit seiner Jugend auf dieser Seite nahezu blind ist. Die Spende der Hornhaut eines gesunden Menschen verspricht medizinischen Erfolg.

...weshalb Alberti auf Signora Bausettis (Elena Nicolai) Angebot zurückkommt
Wenn Jemand bereit ist, nur für den Erhalt seiner gesellschaftlichen Stellung und ein luxuriöses Leben auf ein Auge zu verzichten, warum sollte man an seinem Schicksal teilhaben? – Was sich nach einer Satire auf die Konsumgesellschaft anhört, ist in „Il boom“ von demaskierender Realität. Zu verdanken ist das vor allem dem Spiel Alberto Sordis, dessen komisches Talent zwingend notwendig ist, um die Tragik hinter seiner Figur ertragen zu können. Sein Giovanni Alberti ist weder ein skrupelloser Geschäftemacher, noch der Vertreter einer hedonistischen Spaßgesellschaft. Er liebt seine Familie und spielt den ewigen Witzbold und Unterhalter nur, um in der besseren Gesellschaft anerkannt zu werden. Wie viele andere vor und nach ihm träumte er von einem besseren Leben und ist in eine Falle geraten, aus der er nicht mehr herauskommt.

Die zentrale Szene des Films, in der Alberti einer Einladung der Ehefrau Bausettis (großartig die Operndiva Elena Nicolai in ihrer ersten Filmrolle) in deren Palazzo nachkommt, steht für die komplexe Sichtweise Zavattinis. Einen Moment lang hatte er geglaubt, die knapp 60jährige wäre seinem Charme erlegen und suche ein Abenteuer mit einem jüngeren Mann, aber Signora Bausetti ist von einem anderen Kaliber als seine sonstige Umgebung – ernsthaft, unerschütterlich und standesbewusst. Als sie ihm das Geschäft mit seinem Auge anbietet, frieren seine Gesichtszüge ein, denn er weiß, dass er verloren hat – unabhängig davon, ob er sich weigert oder zustimmt. Ihre Frage entsprang keiner Arroganz, sondern der Sorge um ihren Mann. Doch allein, dass sie ihn fragte, beweist ihm, dass er nie zu Ihresgleichen gehören wird. Die Transparenz eines gesellschaftlichen Aufstiegs und die Versprechungen des Wirtschaftswunders erweisen sich als fragile Illusion.

Zuerst lehnt Alberti das Ansinnen der Signora Bausetti ab, aber als er feststellen muss, dass ihn seine Frau verlassen hat und ganz Rom von seinen Schulden weiß, muss er handeln. Der Strudel, in den der zunehmend Verzweifelte gerät, ist ein Paradebeispiel für einen tragikomischen Parforceritt. Albertis Gefühlslage wechselt ständig zwischen Verdrängung und ungeschönter Offenheit. Doch weder kann er damit sich selbst helfen, noch versteht seine Umgebung seine Kritik. Der sympathische Durchschnittstyp Giovanni Alberti böte sich als Identifikationsfigur geradezu an, wäre sein Beispiel nicht gleichzeitig so entlarvend. Obwohl Vittorio de Sicas frivoler Beitrag zum Episodenfilm „Boccacio '70“ (1962) sehr gut ankam, und er mit seinem wenige Monate später folgenden Film „Ieri, oggi e domani“ (Gestern, heute und morgen, 1963) große Erfolge feierte und Preise bis zum Oscar einheimste – jeweils nach einem Drehbuch Cesare Zavattinis - blieb „Il boom“ die internationale Vermarktung verwehrt. Auch in Deutschland kam der Film nicht in die Kinos, gegen den De Sicas populäre Werke dieser Phase von zahnloser Harmlosigkeit sind. 

"Il boom" Italien 1963, Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Cesare Zavattini, Darsteller : Alberto Sordi, Gianna Maria Canale, Ettore Geri, Elena Nicolai, Federico Giordano, Laufzeit : 85 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Vittorio De Sica:

"Ladri di biciclette" (1948) 
"Miracolo a Milano" (1951) 
"Umberto D." (1952)
"Stazione Termini" (1953) 
"L'oro di Napoli" (1954) 
"Il tetto" (1956) 
"La ciociara" (1960) 
"I sequestrati di Altona" (1962) 
"Boccaccio '70" (1962) 
"Ieri, oggi, domani" (1963) 
"Le streghe" (1967)

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