Montag, 6. Februar 2017

La Cina è vicina (China ist nahe) 1967 Marco Bellocchio


Vittorio (Glauco Mauri) will Giovanna (Daniela Surina) beeindrucken...
Inhalt: Carlo (Paolo Graziosi) und Giovanna (Daniela Surina), zwei junge Kommunisten, die eine heimliche Liebesbeziehung führen, arbeiten beide für Vittorio (Glauco Mauri), einem Abkömmling einer alteingesessenen und sehr wohlhabenden Familie, der mit seiner Schwester Elena (Elda Tattoli) und dem deutlich jüngeren 17jährigen Bruder Camillo (Pierluigi Aprà) in einem städtischen Palazzo lebt. Giovanna unterstützt den als Lehrer tätigen Vittorio bei dessen Forschungen und Carlo wird sein Assistent, nachdem seine linksgerichtete Partei ihn zum Kandidaten für die kommende Kommunalwahl aufgestellt hat. Eine Wahl, die Vittorios Eitelkeit schmeichelt und ihn hoffen lässt, dass seine Chancen bei Giovanna steigen. 

...was ihm bei seinem jüngeren Bruder (Pierluigi Aprà) nicht gelingt
Mit der Praxis des Wahlkampfs tut sich Vittorio dagegen schwer. Erst weigert er sich aus dem Wagen zu steigen, weil ihm nicht genügend Zuhörer anwesend sind, dann – nachdem Carlo ihn überredet hatte, doch aufzutreten – schlägt er ein Kind, das ihm sein Manuskript aus der Hand gerissen hatte. Mit dem Ergebnis, dass er von plötzlich aus den Häusern hervorströmenden Männern verprügelt wird, was er wiederum gegenüber Giovanna als heroischen Kampf gegenüber dem politischen Feind darstellt. Kein Wunder, dass ihn sein jüngerer Bruder verabscheut, der sich selbst für den wahren Vertreter der kommunistischen Ideologie im Geist Maos hält. Tagsüber arbeitet er an einem katholischen Internat und betreut die dort lernenden Knaben, aber in seiner Freizeit widmet er sich dem politischen Kampf…


Oscar Brazzi - Von der Hochkultur zum Sex-Film 

"La Cina è vicina" wurde von der VIDES unter Leitung von Franco Castaldi produziert, die zuvor schon Filme von Mario Monicelli ("I soliti ignoti", 1958), Pietro Germi ("Divorzio all'italiana", 1961), Francesco Rosi ("Salvatore Giuliano", 1962) oder Luchino Visconti ("Vaghe stelle dell'orsa...", 1965) herausgebracht hatte, die heute zum kulurellen Erbe Italiens zählen. Auch "La Cina è vicina" brachte es auf die Liste der "100 Film italiani di salvare" (100 zu bewahrende italienische Filme). Seit "Vaghe stelle dell'orsa..." hatte Oscar Brazzi, der jüngere Bruder des seit den 40er Jahren bekannten Schauspielers Rossano Brazzi, Cristaldi wiederholt zur Seite gestanden, um "La Cinà e vicina" offensichtlich zum Anlass zu nehmen, eine eigene Produktionsgesellschaft (CHIARA) aufzubauen und auch selbst die Regie zu übernehmen.

Während er die zweite Regiearbeit seines Bruders produzierte ("7 uomini e un cervello" (1968)), begann er parallel eigene Filme zu drehen. Mit "Il diario segreto di una minorenne" (Das geheime Tagebuch einer Minderjährigen) entwarf er gemeinsam mit seinem Bruder den ersten Teil einer Trilogie über das sexuelle Erwachen einer jungen Frau. Die Hauptrolle übernahm Mimma Biscardi, die in Bellocchios Film eine kleine Nebenrolle als Prostituierte spielte. Oscar Brazzis Arbeiten sind inzwischen nicht nur nahezu unbekannt, sondern firmieren unter dem Schmuddel-Image billiger erotischer Filme und anspruchsloser Komödien. An neun beispielhaften Filmen aus der Übergangsphase der späten 60er bis in die frühen 70er Jahre, an denen Oscar Brazzi als Co-Produzent, Produzent, Drehbuchautor und Regisseur beteiligt war, zeichnet der Blog die enge Verknüpfung zwischen Kunst und angeblichem Schund im italienischen Film nach:
               
                 - "Una rosa per tutti" (1967), Regie Franco Rossi
                 - "La cina è vicina" (China ist nahe, 1967), Regie Marco Bellocchio 
                 - "7 uomini e un cervello" (1968), Regie Rossano Brazzi 
                 - "Il diario segreto di una minorenne (è nata una donna)" (1968) Teil 1 
                 - "Vita segreta di una diciottenne" (Das Luder, 1969) Teil 2 
                 - "Salvare la faccia" (1969), Regie Rossano Brazzi 
                 - "Intimità proibita di una giovane sposa" (1970) Teil 3
                 - "Trittico" (1971)
                 - "Racconti proibiti...di nienti vestiti" (1972), Regie Brunello Rondi             


1967 - Vietnam-Krieg, Hippies, Studentenproteste, Streiks, sexuelle Revolution. Die westliche Welt war in Aufruhr. Der in der Nachkriegszeit begonnene soziale Wandel hatte Tempo aufgenommen und machte vor keiner Institution halt. Eherne moralische Standards, Geschlechterrollen oder die Kirche wurden in Frage gestellt. Die linke Ideologie befand sich auf dem Vormarsch und führte zu einer zunehmend gewalttätigeren Auseinandersetzung mit den konservativen Kräften - Mao Tse-Tungs China galt den Einen als Vorbild, den Anderen als Vorbote des Untergangs. "La Cina è vicina" (China ist nah) wurde zu einem stehenden Begriff - als Ausdruck der Hoffnung, aber mehr noch als der einer kommenden Gefahr. Tatsächlich zitierte Marco Bellocchio mit seinem Filmtitel den Journalisten und Autoren Enrico Emanuelli, worauf er in einer Texteinblendung zu Beginn des Films hinwies. Emanuelli hatte sein 1957 veröffentlichtes Reisetagebuch über China so benannt - im Italienischen ein gelungenes Wortspiel -, zehn Jahre später stand es beispielhaft für den herrschenden Zeitgeist.

Giovanna führt eine heimliche Beziehung mit Carlo (Paolo Graziosi),...
Ein Geist, der in Bellocchios Film stets gegenwärtig ist, womit er die Linie seines ersten Langfilms "I pugni in tasca" (Die Faust in der Tasche, 1965) wieder aufgriff, der die Konfrontation zwischen Tradition und Moderne am Beispiel einer in sich zerrissenen bürgerlichen Familie plakativ umsetzte. Erneut stellte Bellocchio in "La Cina è vicina" eine Familie in den Mittelpunkt: Vittorio (Glauco Mauri), Lehrer an einer höheren Schule, und seine Schwester Elena (Elda Tattoli), beide Mitte dreißig, führen gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder, dem 17jährigen Camillo (Pierluigi Aprà), ein privilegiertes Leben in einem alten städtischen Palazzo. Personal ist ausreichend vorhanden, darunter Giovanna (Daniela Surina), Hausdame und Vittorios Assistentin. Doch damit enden die Parallelen zum Vorgänger, denn von Widerstreit ist hier nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil befinden sich alle drei Familienmitglieder auf der Höhe des Zeitgeists. Vittorio wird zum Kandidaten einer linken Partei ernannt, Elena hat Sex mit wechselnden Partnern, ohne sich festzulegen, und Camillo lebt ganz im Geist der Ideologie Maos – „China ist nah“.

...der Vittorio als Assistent beim Wahlkampf seiner Partei unterstützt
Ennio Morricones Marsch artige Titelmusik, die als einzige konkrete musikalische Untermalung zu Beginn und am Ende erklingt, unterstützt diesen Eindruck einer unaufhaltsamen Vorwärtsbewegung noch. Doch der Rhythmus wird zweimal unterbrochen: von der Melodie einer Spieluhr und einem Abschweifen ins Humoreske. Eine Symbolik, die Bellocchios Intention des gemeinsam mit der Elena-Darstellerin Elda Tattoli entworfenen Drehbuchs vorwegnahm. Eine echte Auseinandersetzung zwischen der konservativen, stark von der katholischen Kirche geprägten Gesellschaft und einer progressiven Auffassung findet in „La Cina è vicina“ nicht mehr statt. Noch bevor der sich zuspitzende politische Konflikt in den Außenraum getragen wurde und zu den Konsequenzen der „anni piombi“ (bleiernen Jahre) in den 70er Jahren führte, bis zum Niedergang der kommunistischen Partei Italiens im folgenden Jahrzehnt, sah Bellocchio die Gefahr der Modererscheinung und des Selbstzwecks bis zur persönlichen Vorteilsnahme.

Der Maoist Camillo bei der Prostituierten Giuliana (Mimma Bascardi)....
Verzeihlich wirkt in diesem Zusammenhang noch das Verhalten des jugendlichen Camillo. Mit ernster Miene versammelt er seine Freunde zu einem konspirativen Treffen, um ihnen im ideologischen Duktus Maos zu vermitteln, warum sie alle mit Giuliana (Mimma Biscardi), einer jungen Prostituierten, schlafen dürfen. Camillo begreift sich und seine gleichaltrigen Genossen als Speerspitze der Bewegung und macht auch nicht vor Attentaten halt. Diese richten sich allerdings nicht gegen die katholische Kirche, in deren Internat er für die Betreuung der Knaben zuständig ist, sondern gegen die linke Partei, die seinen Bruder Vittorio als Kandidaten für die Kommunalwahlen aufgestellt hat. Er beschmiert deren Partei-Büro mit der Parole „La Cina è vicina“ und legt eine schwache Bombe während einer Versammlung, während er als Messdiener die Eucharistie feiert und brav den Hochwürden unterstützt.

...und als Messdiener bei der Eucharastie-Feier
Die Absurdität dieser Situation spielte auf die inneren Kämpfe linksgerichteter Gruppierungen an, die jeweils für sich die Hoheit der wahren Ideologie beanspruchten, anstatt sich mit dem politischen Gegner auseinanderzusetzen. Für wie fruchtlos und selbstzerstörerisch Bellocchio diese Diskussion hielt, lässt sich an seinem Beitrag „Discutiamo, discutiamo“ zum Episodenfilm "Amore e rabbia" (Liebe und Zorn, 1969) ablesen, in „La Cina è vicina“ blieb es ein komischer Randaspekt. Lächerlich wirkt auch die Figur des älteren Bruders Vittorio, die Bellocchio auf der Toilette einführt, wo er sich bei Gott über ihm zugefügtes Unrecht beklagt, aber das Lachen vergeht schnell, sobald sich dessen wahre Beweggründe offenbaren, ein politisches Amt für die Linke anzustreben. Eitel und selbstgefällig ist er nur an seiner Außenwirkung interessiert, vorrangig bei seiner Assistentin Giovanna, die er übergriffig und weinerlich mit Liebesschwüren belästigt, ohne zu bemerken, wie angewidert sie reagiert.

Elena (Elda Tattoli) schmeißt ihren Liebhaber (Claudio Cassinelli) raus....
Zudem ist er neidisch auf das aktive Sexleben seiner Schwester. Elda Tattoli, die an der Seite Bellocchios auch Regie bei "Amore e rabbia" führte, schrieb sich die Rolle der Elena auf den Leib und wagte für diese Zeit freizügige Aufnahmen, aber anders als ihr verlogener Bruder, lebt Elena ihren Standesdünkel offen aus. Ihre Liebhaber, von denen sie glaubt, dass sie es nur auf ihre Geld abgesehen haben, müssen vor dem Frühstück das Haus verlassen und als es zu einer ungewollten Schwangerschaft kommt, will sie das Kind in einer Klinik abtreiben lassen. Als feministisches Vorbild taugt sie trotzdem nicht, denn ohne ihren privilegierten, wirtschaftlich potenten Hintergrund, wäre ihre Lebensweise nicht möglich. Wiederholt erwähnt ihr Bruder ihren schlechten Ruf in der Stadt. Bellocchios Porträt einer großbürgerlichen Familie, die einem progressiven Zeitgeist nachläuft, ohne ihren eigenen Status in Frage zu stellen, ließe sich als Satire auf die oberen Gesellschaftsschichten begreifen, gäbe es nicht mit Giovanna und ihrem heimlichen Geliebten Carlo (Paolo Graziosi) zwei engagierte Vertreter der Linken aus einfacheren Kreisen.

...und interessiert sich für Carlo
Der überzeugte Kommunist Carlo wird Vittorios Assistent, nachdem dieser von seiner Partei als Kandidat aufgestellt wurde. Obwohl Vittorio über kein linkes politisches Profil verfügt und sich im Wahlkampf arrogant und selbstherrlich aufführt, unterstützt Carlo ihn, denn er verfolgt eigene Pläne. Dank seiner Tätigkeit erhält er Zugang zum Palazzo der Familie Vittorios und begegnet Elena, die sofort Interesse an dem attraktiven jungen Mann zeigt. Eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lässt. Dass Giovanna ihn erwischt und aus Eifersucht mit Vittorio schläft, stört ihn nicht, denn er will über Elena in deren reiche Familie einheiraten, nachdem sie von ihm schwanger geworden ist. Giovanna droht, der Hausherrin zu verraten, dass Carlo auch mit ihr schläft, und fordert von ihm als Gegenleistung, ebenfalls von ihm geschwängert zu werden. Sie will das Kind Vittorio unterschieben, damit dieser sie heiraten muss.

Carlo weiht Giovanna in seine Pläne ein...
Als genügten diese Ränkespiele nicht, um jedes politische Ideal zu diskreditieren, trieb es Bellocchio mit der Abtreibungs-Szene in der Klinik auf die Spitze. Carlo hatte Elenas Einfluss und ihr Durchsetzungsvermögen unterschätzt und sieht seine Felle davonschwimmen. Überreden, das Kind zu behalten, kann er sie nicht, weshalb er Vertreter der katholischen Kirche in den Operations-Saal schickt, die dem Arzt im letzten Moment Einhalt gebieten. Während nach außen eine progressive, anti-bürgerliche Ideologie gepredigt wird, nutzen die Protagonisten die reaktionären moralischen Gesetze für ihre eigenen Interessen. Nicht erstaunlich, dass die wenigen im Film vorkommenden konservativen Zeitgenossen nicht aus der Ruhe zu bringen sind. Vittorio kann stundenlang auf seine alten Tanten einreden, dass sie ihm ihre Stimmen bei der Wahl geben sollen, sie halten seine linke Gesinnung zurecht nur für Fassade. Und als einer der Jungen einer älteren Dame im katholischen Internat verrät, dass Camillo ein Maoist wäre, kann diese das nicht glauben. Das würde Hochwürden sicherlich nicht erlauben.

...und weiß auch die Abtreibung zu verhindern
Der intellektuelle Provokateur Marco Bellocchio hat es mit seinen Filmen auf keine Liste der „Commedia all’italiana“ geschafft, obwohl „La Cina è vicina“ fast idealtypisch für deren gesellschaftskritischen Humor stehen könnte, so voller schmerzhafter Komik bohrte der Regisseur hier in den Tiefen der menschlichen Unzulänglichkeit. Bellocchios Erzählstil, von Kameramann Tonino Delli Colli kongenial in prägnanten Schwarz-Weiß-Bildern umgesetzt, scherte sich nicht um Einführung und Überleitung, setzte direkt ein und konfrontierte den Betrachter mit einem Charakter-Puzzle, das sich erst langsam zu einem komplexen Gebilde zusammenfügt. Ein Publikumserfolg konnte das nicht werden. Zwar zeigte der Regisseur Sympathien für die politische Linke, hielt ihr gleichzeitig aber den Spiegel vor. Für die Aufnahme in die Liste der "100 Film italiani di salvare" (100 zu bewahrende italienische Filme) aber reichte es. Zurecht, denn Bellocchios facettenreicher Film, der eine Vielzahl tabuisierter Themen anfasste - darunter die minutenlange Darstellung des Erschießens kleiner Vögel in Vittorios elitärem Sport-Club - erfasste mit chirurgischer Genauigkeit den damaligen Zeitgeist und dessen generelle Gesetzmäßigkeit.

"La Cina è vicinaItalien 1967, Regie: Marco Bellocchio, Drehbuch: Marco Bellocchio, Elda TattoliDarsteller : Elda Tattoli, Glauco Mauri, Paolo Graziosi, Daniela Surina, Pierluigi Aprà, Claudio Cassinelli, Mimma Biscardi, Laufzeit : 91 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Marco Bellocchio:

"I pugni in tasca" (1965) 
"Amore e rabbia" (1969) 
"Marcia trionfale" (1976)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen