Donnerstag, 15. Januar 2015

Il momento della verità (Augenblick der Wahrheit) 1965 Francesco Rosi

Auf der Suche nach der Wahrheit

ein Nachruf auf Francesco Rosi, gestorben am 10.01.2015




Inhalt: Miguel (Miguel Romero) entscheidet sich, den elterlichen Bauernhof zu verlassen und in den Norden nach Barcelona zu gehen, um dort Arbeit zu finden. Der staubige Boden in Andalusien genügt kaum, um seine Eltern mit dem Nötigsten zu versorgen, weshalb er hier für sich keine Zukunft mehr sieht. Doch in Barcelona bessert sich seine Situation nicht, denn junge Männer aus ganz Spanien, die wie er keinen Beruf gelernt haben, versuchen irgendeine Hilfsarbeit zu bekommen. Einzig über Arbeitsvermittler gelangen sie an einen Job, werden aber so schlecht bezahlt, dass es nur für eine Massenunterkunft und die tägliche Nahrung reicht.

Deshalb überlegt Miguel nicht lange, als er die Chance erhält, als Torero in der Stierkampf-Arena anzutreten. Nach ein paar Lehrstunden bei einem alten Stierkampflehrer (Pedro Basauri), wagt sich Miguel von den Zuschauerrängen in die Arena und kann sein Talent beweisen, bevor er überwältigt wird. Von einem Impresario (José Gómez Sevillano) unter Vertrag genommen, steigt er zu einem großen Star auf…


Gleißendes Sonnenlicht liegt über dem Stadion - bis zum letzten Platz gefüllt mit applaudierenden und johlenden Menschen. Der Torero sieht dem schon stark blutenden und von der langen Hetzjagd erschöpften Stier in die Augen, fasst ihn zwischen dessen Hörner und rückt ihn für den abschließenden Todesstoß zurecht. Sekundenschnell führt er ihn aus, trifft das kräftige Tier genau zwischen zwei Rückenwirbel bis die Klinge tief in dessen Herz eindringt. Fast regungslos nimmt der Stier diese Aktion hin, schüttelt sich und versucht noch einmal anzugreifen, doch dann gerät er ins Schwanken, seine Beine geben nach und sein massiger Körper fällt wie in Zeitlupe in den Staub.

Diesen Moment, in dem der Torero dem Stier in die Augen sieht, nennt der alte Stierkampf-Lehrer "Pedrucho" den "Augenblick der Wahrheit" - ein Ausdruck, der nicht nur als Titel für Francesco Rosis sechsten Film diente, sondern das gesamte Werk des am 10.01.2015 im Alter von 92 Jahren verstorbenen Regisseurs aufs trefflichste zusammenfasst, dessen Filme von der Suche nach dem "Augenblick der Wahrheit" bestimmt waren. Eine Intention, die auf seine künstlerische Prägung während der Hochphase des Neorealismus zurückzuführen ist, dessen Einfluss er spätestens mit "Salvatore Giuliano" (Wer erschoss Salvatore G.?, 1961) zu einem eigenständigen Stil wandelte, mit dem er versuchte, komplexe, von staatlichen wie kriminellen Interessensgruppen bewusst verfälschte Ereignisse mit größtmöglicher Objektivität zu analysieren. An seiner kritischen, linksgerichteten politischen Haltung gab es keinen Zweifel, aber diese trieb ihn dazu, einen Sachverhalt möglichst aus allen Perspektiven zu betrachten, um typischen Unterstellungen wie "linke Paranoia" die Grundlage zu nehmen.

Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner bis ins Detail forschenden Herangehensweise setzte er sich bei seinen Recherchen über den sizilianischen Banditen Salvatore Giuliano, der von seinen Landsleuten als Freiheitskämpfer betrachtet wird, und über den Industriekapitän Enrico Mattei ("Il caso Mattei" (Der Fall Mattei, 1972)) einer unmittelbaren Gefahr aus, obwohl deren Tod jeweils schon ein Jahrzehnt zurücklag. Ein Journalist, der als Letzter mit Mattei vor dessen Flugzeugabsturz gesprochen hatte, und am Drehbuch mitarbeiten sollte, wurde ermordet. Denn Francesco Rosi besaß ein untrügliches Gespür für die Aktualität seiner Stoffe, die er sowohl gegenwartsbezogen anfasste, wie in „Le mani sulla cittá“ (Hände über der Stadt, 1963), der sich mit Bauspekulanten und gefährlichen Baumängeln auseinandersetzte, als auch in der Historie verankerte, wie bei „Uomini contro“ (Bataillon der Verlorenen, 1970), der zwar im ersten Weltkrieg spielte, sich aber als Reaktion auf den Vietnam-Krieg verstand.

Diese vielfältige Art der Suche nach der Wahrheit lässt sich auf seine intensive Zusammenarbeit mit Luchino Visconti zurückführen, dem er bei dessen Filmen "La terra trema" (Die Erde bebt, 1948), "Bellissima" (1952) und "Senso" (Sehnsucht, 1954) assistierte. War „La terra trema“ - am authentischen Ort spielend und ausschließlich mit Laiendarstellern besetzt - noch ganz dem frühen Neorealismus verpflichtet, erzählte „Bellissima“ eine Geschichte aus der italienischen Gegenwart der Nachkriegszeit und befasste sich „Senso“ mit den ein Jahrhundert zurückliegenden Ereignissen um die Gründung Italiens. Rosis frühe Filme „La Sfida“ (Die Herausforderung) und „I magliari“ (Auf St. Pauli ist der Teufel los, 1959) lassen diesen neorealistischen Einfluss noch spüren – mit professionellen Darstellern besetzt, bettete Rosi eine dramatische Handlung in ein realistisches Umfeld - sein erster Film als Regisseur „Kean: Genio e sregolatezza“ (Genie und Wahnsinn, 1956) war dagegen mehr das Werk seines Regie-Partners Vittorio Gassman.

Den deutschen Titel „Auf St. Pauli ist der Teufel los“ verdankte „I magliari“ (wörtlich „Die Teppichhändler) - die Story spielt inmitten der ersten italienischen Gastarbeiter in Deutschland - seinen Original-Aufnahmen von der Reeperbahn. Dieser dokumentarische Ansatz wurde ab „Salvatore Giuliano“ zu einem beherrschenden Prinzip in Rosis Filmen, denen heute das Etikett „Doku-Drama“ verliehen würde. Auch wenn Rosi nie wieder so puristisch wie in „Salvatore Giuliano“ inszenierte - in „Le mani sulla cittá“, „Il caso Mattei“ und „Lucky Luciano“ (1973) besetzte er die tragenden Rollen mit renommierten Darstellern (Rod Steiger, Gian Maria Volonté) - ist allen vier Filmen eine enge Verzahnung von Spielszenen, einer Vielzahl an Fakten und dokumentarischen Aufnahmen gemein, die vom Betrachter hohe Aufmerksamkeit und historische Vorkenntnisse verlangen, die zum Zeitpunkt des Kino-Releases eher vorausgesetzt werden konnten als heute. Vielleicht ein Grund, warum diese vielfach ausgezeichneten Filme inzwischen nur noch wenig bekannt sind. „Le mani sulla cittá“ sticht aus dieser Gruppe hervor, da er sich keiner realen Persönlichkeit widmete, sondern von den kommunalpolitischen Mechanismen um ein großes Bauprojekt handelt. Über diese spezifischen italienischen Themen hinaus betonte Francesco Rosi die generellen Aspekte der gesellschaftspolitischen Prozesse, weshalb sich seine Filme bis heute eine anhaltende Zeitlosigkeit bewahrt haben.  

Ab „Cadaveri eccellenti“ (Die Macht und ihr Preis, 1976), der auf einem Roman Leonardo Sciascias basiert, wandelte sich sein Stil zwar erneut, Rosi blieb seiner kritischen politischen Sichtweise aber treu. Filme wie "Cristo si è fermato a Eboli" (Christus kam nur bis Eboli, 1979) oder „Tre fratelli“ (Drei Brüder, 1981), die sich mit dem Mussolini-Faschismus oder dem Terrorismus der 70er Jahre auseinandersetzten, bettete Rosi wieder in eine dramatische Handlung. Dagegen erscheint „Carmen“ (1984), eine Film-Adaption der Bizet-Oper, wie etwas vollkommen Neues in Rosis Oevre. Doch das täuscht. 1967 hatte er mit „C‘era una volta…“ (Die schöne Isabella) ein farbenprächtiges Märchen mit Sophia Loren und Omar Sharif in den Hauptrollen auf die Leinwand gebracht, das in Fantasie und Leichtigkeit schwelgte, auch wenn Rosi gegenüber Produzent und Loren-Ehemann Carlo Ponti nicht ganz die von ihm beabsichtigte volkstümliche, obrigkeitskritische Ursprünglichkeit bewahren konnte. Angesiedelt war die Handlung im „Carmen“-Land Spanien – wie zuvor schon in „Il momento della veritá“, der inszenatorisch aus dem Rahmen fällt, seiner Suche nach der Wahrheit aber sehr nah kam.

„Il momento della veritá“ wurde nicht nur Rosis erster allein verantworteter Farbfilm, sondern kehrte sein semi-dokumentarisches Prinzip um. Erzählt wird die fiktive Geschichte eines jungen Mannes (Miguel Romero), der den Bauernhof seiner Eltern zurücklässt, um in der Stadt Arbeit zu finden. Doch die Konkurrenz ist groß. Jobs gibt es nur über Vermittler, die so viel vom Lohn einstreichen, dass gerade genug zum Leben bleibt. Zufällig lernt er einen ehemaligen Torero (Pedro Basauri) kennen, der jungen Männern den Stierkampf lehrt – eine der wenigen Chancen, der Armut zu entrinnen. Allerdings eine lebensgefährliche, die Miguel aber nicht davon abhält nach wenigen Lektionen von den Zuschauerrängen in die Arena zu springen und sich einem Stier zu stellen. Bevor er überwältigt werden kann, kann er die Zuschauer von seinem Talent überzeugen und erhält eine reguläre Chance, sich als Torero zu beweisen.

Einzig dieser Handlungsrahmen ist erdacht, unterstützt von wenigen Spiel-Szenen. Der größte Teil des Films ist Dokumentation pur – die staubige Landschaft Andalusiens, die armselige Situation der Arbeitssuchenden in Barcelona, die religiösen Prozessionen vor den Stierkämpfen und der intensiv-betörende Blick in die gefüllten Arenen. Dass es sich bei dem Hauptdarsteller Miguel Romero, genannt „Miguelino“, um einen echten, in Spanien sehr berühmten Torero handelte, war nur konsequent, denn der Film räumt den Stierkämpfen die meiste Zeit ein, beobachtet die traditionellen Abläufe genau und spart weder die Tötung der Tiere, noch die Angriffe auf die Menschen aus. Anders als in „Salvatore Giuliano“, in dem Rosi versuchte, die Vergangenheit möglichst real auf Basis von Zeitzeugen an Original-Schauplätzen nachzustellen, bildete er in „Il momento della veritá“ die Realität als Hintergrund einer erfundenen Story ab.

Zwar nahm Rosi durch Schnitt und Kameraführung Einfluss auf die Bilder, aber er bewahrte Distanz und forcierte keine Haltung. Die Kritik an der Franco-Diktatur blieb subtil und erschließt sich nur als Subtext einer Situation, die junge Männer dazu zwingt, den gefährlichen Job in der Stierkampf-Arena anzunehmen, um der großen Armut zu entkommen. Die vom Staat geförderten Massenspektakel benötigten ständig neue Kräfte, die sich vor allem aus den armen, ländlichen Gebieten rekrutierten. Auch der Stierkampf selbst wurde von Rosi nicht offensiv kritisiert. Zwar ließ er keinen Zweifel an der Qual der Tiere, aber die prächtigen Panorama-Bilder können auch die Faszination der Kämpfe vermitteln – vielleicht ein Grund dafür, warum der Film zu Unrecht in jeder Auflistung seiner besten Werke fehlt, von denen es fünf in die „Top 100“ der zu bewahrenden italienischen Filme nach Meinung einer Experten-Kommission schafften. Mehr als in jedem seiner anderen Filme, überließ es Francesco Rosi in „Il momento della veritá“ dem Betrachter selbst, sich eine eigene Meinung zu bilden, um darin einen „Augenblick der Wahrheit“ zu finden.

"Il momento della verità" Italien, Spanien 1965, Regie: Francesco Rosi, Drehbuch: Francesco Rosi, Pedro Beltrán, Ricardo Munoz Suay, Pere Portabella, Darsteller : Miguel Romero, José Gómez Sevillano, Pedro Basauri, Linda ChristianLaufzeit : 108 Minuten 

Die Filme von Francesco Rosi :

"Kean: Genio e sregolatezza“ (Zwischen Genie und Wahnsinn, 1956) Regie mit Vittorio Gassman
"La sfida" (Die Herausforderung, 1958)
"I magliari" (Auf St.Pauli ist der Teufel los, 1959) 
"Salvatore Giuliano" (Wer erschoss Salvatore G.?.1961) 
"Le mani sulla città" (Hände über der Stadt, 1963)
"Il momento della verità" (Augenblick der Wahrheit, 1965)
"C'era una volta..." (Die schöne Isabella, 1967)
"Uomini contro" (Bataillon der Verlorenen, 1970)
"Il caso Mattei" (Der Fall Mattei, 1972) 
"Lucky Luciano" (1973)
"Cadaveri eccellenti" (Die Macht und ihr Preis, 1976)
"Christo si è fermato a Eboli" (Christus kam nur bis Eboli, 1979)
"Tre fratelli" (Drei Brüder, 1981)
"Carmen" (1984)
"Cronaca di una morte annunciata" (Chronik eines angekündigten Todes, 1986)
"12 registi per 12 cittá" - Segment "Napoli" (1989)
"Dimenticare Palermo" (Palermo vergessen, 1990)
"Diario napoletano" (Dokumentation, 1992)
"La tregua" (Die Atempause, 1997)

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