Samstag, 15. Februar 2014

I sequestrati di Altona (Die Eingeschlossenen von Altona) 1962 Vittorio De Sica

Inhalt: Albrecht von Gerlach (Fredric March), schwerreicher Industrieller und Besitzer einer Reederei und Schiffswerft in Hamburg, erfährt von seinem Arzt, dass er in spätestens 6 Monaten an Kehlkopfkrebs sterben wird. Er ruft deshalb die Familie zusammen, von der seine Tochter Leni (Francoise Prévost) mit ihm in seiner großen, alten Villa in Hamburg-Altona lebt. Sein Sohn Werner (Robert Wagner) arbeitet als Anwalt in Düsseldorf, soll erstmals aber auch seine dort als Schauspielerin in einem Brecht-Stück auftretende Frau Johanna (Sophia Loren) mitbringen, die das konservative Familienoberhaupt bisher ablehnte.

Als Von Gerlach sie äußerst liebenswürdig empfängt, ahnt Johanna schon, dass etwas Schwerwiegendes bevor steht, aber sie weiß noch nicht, dass der als verstorben geltende Franz von Gerlach (Maximilian Schell) seit seiner Rückkehr aus dem Krieg 1945 im Keller der Villa lebt und nur seine Schwester Leni zu sich lässt. Während ihr Schwiegervater mit ihrem Mann über seine Nachfolge verhandelt, folgt sie nachts heimlich Leni und entdeckt das Versteck. Sie imitiert das verabredete Klopfzeichen und wird von Franz hereingelassen…


Es gehört zu den Binsenweisheiten der Filmhistorie, dass die Mehrheit an Kinofilmen in Vergessenheit gerät - ein Fakt, der sich weniger mit der Qualität, als mit äußeren Parametern begründen lässt. Mangelnder Publikumserfolg, aus der Mode gekommene Stilrichtungen bzw. Themen oder unbekannt gewordene Darsteller verhindern ein Wiederaufleben auf einem modernen Medium und verurteilen den Film im besten Fall zu einem Nischendasein für speziell Interessierte. Ein Schicksal, das auch "I sequestrati di Altona" (Die Eingeschlossenen von Altona, 1962) widerfuhr, über den es nur wenige Informationen gibt, obwohl sich die italienisch-französische Co-Produktion auf Basis eines der letzten Theaterstücke Jean-Paul Sartres der gesellschaftspolitischen Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands widmete, wie der im Filmtitel genannte Hamburger Stadtteil Altona schon andeutet.

Mehr noch als diese nationalen Bezüge wirft die geballte Qualität der an dem Projekt beteiligten Künstler die Frage auf, wieso "I sequestrati di Altona" heute keine Erwähnung mehr findet? -  Nur wenige Filme können eine nach ähnlich hohen Kriterien zusammengestellte Crew vorweisen wie die von Carlo Ponti verantwortete Produktion. Offensichtlich plante er nach dem Erfolg von "La ciociara" (Und dennoch leben sie, 1960), der seiner Frau Sophia Loren den begehrten "Oscar" als Hauptdarstellerin eingebracht hatte, eine weitere Veränderung ihres bisherigen Images als schöne, temperamentvolle Süditalienerin, dem sie zwar ihre Popularität verdankte, das aber keine Kritiker-Lorbeeren versprach. Nicht nur der Rückgriff auf die Schwarz-Weiß-Optik - erst kurz zuvor war Sophia Loren in schönsten Farben in einer für sie typischen Rolle in "Boccaccio 70" (1962, Episode „La Riffa“)) zu sehen - sondern die ernste Thematik der Schuldfrage an den Verbrechen im III.Reich, mit der Sartre auch auf die Verantwortung der Franzosen im Algerien-Konflikt anspielte, belegte Pontis Versuch, seiner Frau ein artifiziell-intellektuelles Umfeld zu verschaffen.

Dass er dafür wieder auf Regisseur Vittorio De Sica und Drehbuchautor Cesare Zavattini zurückgriff, die schon an "La ciociara" beteiligt waren, lag nah, aber Ponti dachte darüber hinaus und stellte ein internationales Team zusammen, mit dem er an die Reputation des Hollywood-Films „Judgment at Nuremberg" (Das Urteil von Nürnberg, 1961) anknüpfen wollte, der von einem Prozess gegen vier führende Nazi-Richter handelte. Neben Zavattini engagierte er Drehbuchautor Abby Mann und Maximilian Schell für die Hauptrolle, die für ihre Mitwirkung an „Das Urteil von Nürnberg“ im Frühjahr 1962 einen Oscar gewonnen hatten. Nur Spencer Tracy, der als oberster Richter in dem Gerichts-Drama aufgetreten war, lehnte es ab, die Rolle des Familienoberhaupts der Von Gerlachs zu übernehmen. Eine nachvollziehbare Entscheidung, denn Tracy wäre in dieser Rolle auf die Gegenseite eines vom Nationalsozialismus profitierenden Chefs eines Rüstungskonzerns gewechselt. Dagegen weisen die beiden von Maximilian Schell verkörperten Figuren Parallelen in der Frage nach der Mitschuld an den Nazi-Verbrechen auf. Seine Argumentation als Verteidiger eines der angeklagten Richter begründete sich darauf, dass sich dieser nach damals geltendem Recht verhalten hätte, während sich der von ihm in "I sequestrati di Altona" gespielte ehemalige Wehrmachtsoffizier nach dem Ende des Kriegs in der Villa seines Vaters einschließt, jeglicher Verantwortung entzieht und sich der Realität verweigert.

Mit der Verpflichtung des zweifachen Oscar-Preisträgers Fredric March („The best years of our life“ (Die besten Jahre unseres Lebens, 1946) statt Tracy gelang Ponti adäquater Ersatz, so wie die Besetzung von Robert Wagner in der Rolle des jüngeren und angepassten Bruders Werner von Gerlach nur vordergründig überrascht. Selten wirkte Wagner schmächtiger und passiver auf der Leinwand, aber sein Aussehen und seine hintergründige Coolness nahmen dieser Figur ihre Eindimensionalität und vermittelten gleichzeitig Mitläufermentalität und Faszination, die auch seine Beziehung zu Johanna verständlich werden lässt. Leider erweist sich einzig Sophia Loren in dieser Rolle als Schwachpunkt der Besetzung, obwohl sie Sartres Kriterium der Attraktivität selbstverständlich erfüllte. Optisch reduziert gekleidet, spielte sie in der ersten Hälfte des Films kühl und zurückhaltend, verfiel aber ab der Begegnung mit Franz in ihr altes Rollenmuster, auch bedingt durch die Abschwächung dieser Figur im Vergleich zu Sartres Original-Fassung.

Anders als die zweite weibliche Protagonistin Lena von Gerlach, die von Francoise Prévost konsequent in ihrer egoistischen Liebe zu ihrem Bruder gespielt wurde, trotz des im Film schwächer ausgearbeiteten Inzest-Aspekts, gibt Johanna hier das emotionale Gewissen – zuerst in ihrer kritischen Haltung gegenüber der Vergangenheit der Familie Gerlach, dann in Ihrer Ablehnung ihres Ehemanns, als dieser sich bereit erklärt, die Nachfolge des todkranken Vaters anzutreten, bis zu ihrer abschließenden Reaktion auf die tatsächliche Wahrheit um Franz. Offensichtlich sollte Sophia Loren als positive Identifikationsfigur dienen – eine von Jean-Paul Sartre in seinem Stück nicht vorgesehene Position. Auch von dessen generell zu verstehender Intention, eine Bevölkerung nicht von Mitschuld an im Namen ihres Landes begangener Barbarei freizusprechen – er versetzte die Handlung nach Deutschland, um Ärger mit der französischen Zensur zu vermeiden – blieb bei Abby Manns Adaption wenig übrig. Dieser legte das Gewicht ausschließlich auf die deutsche Rolle, kritisierte aber nicht nur die mangelnde Aufarbeitung der Nazi-Gräuel, sondern zeichnete auch ein negatives Gegenwartsbild Westdeutschlands, Anfang der 60er Jahre.

Angesichts der fast 6stündigen Aufführungszeit von Sartres Bühnenstücks, lag eine deutliche Straffung des Stoffs nahe, aber Mann reduzierte nicht nur die Dialoge, sondern erweiterte die Handlung um längere außerhalb der Villa spielende Sequenzen, die er mehrfach dafür nutzte, die wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands nur wenige Jahre nach dem verlorenen Krieg zu betonen. Dokumentarische Aufnahmen von der Wiedereinführung einer deutschen Armee, unterlegt mit einer Rede des damaligen Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß, Bilder von der Reeperbahn mit betrunkenen Menschen und die riesige Schiffswerft im Hamburger Hafen symbolisierten eine prosperierende Gesellschaft, die nichts aus ihrer Vergangenheit gelernt zu haben schien. Mit dieser Interpretation kontrastierte der Film die Vorstellungen des sich in der Villa seines Vaters verbergenden Franz von Gerlach (Maximilian Schell), der wegen seiner Kriegsverbrechen beim Russland-Feldzug vor Gericht gestellt werden sollte, offiziell aber als tot gilt. Er lebt in dem Glauben, dass Deutschland in Ruinen liegt und die Menschen leiden – nur so gelingt es ihm, seine eigene Schuld und die des gesamten Volkes zu verarbeiten.

Nur folgerichtig bricht Franz gegen Ende aus seinem selbst gewählten Gefängnis aus und wird mit der offensichtlichen Dekadenz einer zu Wohlstand gekommenen Bevölkerung konfrontiert – und damit mit seiner eigenen Lebenslüge. Bei seinem Irrweg durch Hamburg gerät er auch in ein Theater, in dem Johanna eine Rolle in „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht spielt - eine Parabel über Hitlers Machtergreifung. Kein Geringerer als Ekkehart Schall, der 1952 von Brecht an das „Berliner Ensemble“ gerufen und 1962 mit dem „Nationalpreis der DDR 1.Klasse“ ausgezeichnet wurde, spielte in dieser Szene seine Paraderolle als Arturo Ui, in die Franz laut schreiend „Führer! Er lebt!“ einbricht – das Publikum, das hier stellvertretend für die westdeutsche Gesellschaft steht, beschimpft er, nachdem er sie zuerst auch als „Führer“ bezeichnete, als „Schweine“.

Von Sartres existentialistischem Diskurs über Schuld und Mitschuld, der die grundsätzliche Frage aufwirft, wer in der Lage ist, darüber ein Urteil zu sprechen, blieb in der filmischen Adaption wenig übrig. Stattdessen wurde „I sequestrati di Altona“ zu einer polemischen Abrechnung mit der Nachkriegs-BRD, unterstützt von DDR-Staatsschauspielern und unterlegt mit Schostakowitschs 11.Sinfonie – ein Erklärungsansatz dafür, warum der Film in Deutschland heute nahezu unbekannt ist. Ironischerweise erhielt Vittorio De Sica für seine Regie die höchste italienische Auszeichnung, den „David di Donatello Award“, obwohl der Film kaum inhaltliche Parallelen zu seinen sonstigen Werken aufweist. Auch für Sophia Loren blieb es ein einmaliger Ausflug in ein untypisches Rollenfach – gemeinsam sollten sie mit dem komödiantisch-kritischen Episodenfilm „Ieri, oggi e domani“ (Gestern, heute und morgen, 1963) im folgenden Jahr einen großen Erfolg bei Kritik und Publikum feiern.

„I sequestrati di Altona“ fand dagegen keine Erwähnung bei den zahlreichen Nachrufen nach Maximilian Schells Tod am 31.01.2014, obwohl er in der Rolle des ehemaligen Wehrmachtssoldaten brillierte. Mit Charme und Furor gab er das Zentrum eines einseitigen, zynischen und konsequent pessimistischen Films, an dessen Wirkung auch Sophia Lorens betroffen blickendes Gesicht nichts ändern konnte. Kritikpunkte lassen sich problemlos finden, aber der Film wagte einen unverfälschten, Differenzierungen missachtenden Blick in die menschliche Psyche, der sich seine Faszination bis ins Detail bewahrt hat.

"I sequestrati di Altona" Italien, Frankreich 1962, Regie: Vittorio De Sica, Drehbuch: Abby Mann, Cesare Zavattini, Jean-Paul Sartre (Theaterstück), Darsteller : Sophia Loren, Maximilian Schell, Fredric March, Robert Wagner, Francoise Prévost, Laufzeit : 112 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Vittorio De Sica:

"Ladri di biciclette" (1948)
"Miracolo a Milano" (1951)
"Umberto D." (1952)
"Stazione Termini" (1953)
"L'oro di Napoli" (1954)
"Il tetto" (1956)
"La ciociara" (1960)
"Boccaccio '70" (1962)
"Ieri, oggi, domani" (1963)

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