Mittwoch, 19. Mai 2010

Vaghe stelle dell'Orsa... (Sandra) 1965 Luchino Visconti

Inhalt: Sandra (Claudia Cardinale), inzwischen mit dem Amerikaner Andrew (Michael Craig) verheiratet, kehrt nach vielen Jahren wieder in ihr Heimatdorf Volterra in der Toscana zurück, weil ihr Vater, ein bekannter Wissenschaftler, dort geehrt werden soll. Sie selbst hatte ihn kaum gekannt, da er 1942 als Jude in Ausschwitz in der Gaskammer gestorben war.

In Volterra trifft sie nach langer Zeit auch ihren Bruder Gianni (Jean Sorel) wieder, einen angehenden Schriftsteller, mit dem sie ein inniges Verhältnis hatte. Vor allem der Konflikt mit ihrer Mutter (Marie Bell), einer ehemaligen Konzertpianistin, die später den Anwalt Gilardini (Renzo Ricci) geheiratet hatte, schweisste die Geschwister zusammen. Auch jetzt ist die Begrüssung der Mutter, die auf Grund ihrer psychischen Erkrankung entmündigt wurde und unter ärztlicher Aufsicht bei ihrem Mann lebt, mehr als frostig. Ihr Hass auf den jüdischen Anteil in ihren Kindern bricht wieder aus ihr heraus...

 

Als Visconti „Vaghe stelle dell’Orsa...“ 1965 in die Kinos brachte, stieß er damit auf Verwunderung, denn gegensätzlicher hätte sein Film im Vergleich zu seinem letzten, dem zwei Jahre zuvor erschienenen „Il gattopardo“, nicht ausfallen können. Schwelgte er dort in farbenprächtigen Panoramen, griff er hier wieder auf einen kräftigen Schwarz – Weiß - Kontrast zurück, umfasste er dort gedanklich mehrere Epochen voll gesellschaftspolitischer Relevanz, wirft er hier einen intimen Blick auf den Besuch einer jungen Frau in ihrem Heimatort nach einigen Jahren Abwesenheit. Die einzige Konstante schien Claudia Cardinale zu sein, die auch schon in „Rocco e suoi fratelli“ (Rocco und seine Brüder,1960) die weibliche Hauptrolle spielte, aber dieser Eindruck änderte sich schon bei dem ersten Blick auf ihr Gesicht. Fleckiger und grobkörniger hatte man die schöne Darstellerin bis dahin noch nicht gesehen.

Wie bewusst Luchino Visconti die Schwarz-Weiß-Technik verwendet, erkennt man schon an den ersten Szenen des Films, nachdem Sandra (Claudia Cardinale) und ihr amerikanischer Mann Andrew (Michael Craig) Genf in Richtung ihres toskanischen Heimatortes Volterra verlassen hatten. Am Abend zuvor hatten sie noch eine Cocktail-Party für ein internationales Publikum gegeben - eine Szene, die vor allem wegen ihres Erstarrens beim Spielen des Pianisten von Bedeutung ist – nun wirken die Bilder, die die Kamera aus einer subjektiven Sicht der Reisenden aufnimmt, mit schwachem Hell/Dunkel Kontrast überbelichtet. Der Himmel scheint wolkenlos weiß, Landschaft und Städte sind in ein grelles Licht getaucht, und erst als sie ihr Ziel erreichen und in den alten Palazzo ihrer Familie hinein treten, kehrt sich die Helligkeit in ihr Gegenteil. Damit betont Visconti die Schicksalhaftigkeit eines Geschehens, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Gerade diese opernhafte Schwere und die nur von Klaviermusik begleitete Düsternis, mit der Sandras Familiengeschichte hier ausgebreitet wird, stellte den größten Unterschied zu Viscontis „Il gattopardo“ dar, der trotz aller Tragik und Konsequenzen emotional zurückhaltend
geblieben war, beherrscht von der souveränen Attitüde des Adeligen. Doch darin liegt letztlich die Parallele zwischen beiden Werken, die sich in ihrer Intention mehr ähneln, als die äußere Umsetzung Glauben machen will. Viscontis eigene adelige Herkunft, der er dank erheblicher Geldmittel auch seine künstlerische Freiheit verdankte, war ein ständiger Quell der Reibung zu seiner kommunistischen Haltung und seinen homosexuellen Neigungen, die alle seine Filme beeinflussten, hier - wie in „Il gattopardo“ - konkret thematisiert. Auch in seinem Beitrag zu „Boccaccio '70“ lag darauf schon der Schwerpunkt, allerdings mehr spielerisch umgesetzt.

Ähnlich zur Historie in „Il gattopardo“, beschreibt er auch in „Vaghe stelle dell’Orsa...“ den Niedergang einer herrschaftlichen Familie, an deren einstige Pracht nur noch der große Palazzo und die angrenzenden Gärten erinnern. Begreift man die Konsequenzen in „Il gattopardo“ als Ausblick auf die zukünftige Politik Italiens bis zur Machtergreifung der Faschisten, ist „Vaghe stelle dell’Orsa...“ die logische Fortführung dieser Thematik. Obwohl der Film in der damaligen Gegenwart spielt, liegt das ausschlaggebende Ereignis für die Handlung mehr als 20 Jahre zurück. Der Anlass für Sandras Rückkehr in ihre Heimatstadt, ist die Ehrung ihres Vaters mit einer Büste im Garten des Palazzo, der damit der Öffentlichkeit übergeben werden soll. 1942 war der berühmte jüdische Wissenschaftler in Auschwitz in der Gaskammer gestorben.

Nur langsam schlüsselt der Film die Konsequenzen daraus auf, die sich vor allem in der Szene manifestieren, in der Sandra ihre Mutter (Marie Bell) wieder trifft. Die ehemalige Konzertpianistin überhäuft sie mit ihrem Hass gegen alles Jüdische, beleidigt sie und hätte auch den Garten für die Ehrung ihres früheren Mannes nicht hergegeben, wenn sie auf Grund ihrer psychischen Erkrankung nicht entmündigt worden wäre. Sie lebt unter ärztlicher Aufsicht im Haus des Anwalts Gilardini (Renzo Ricci), den sie nach dem Krieg geheiratet hatte. Visconti lässt offen, ob sie selbst ihren Mann an die Faschisten auslieferte, aber macht kein Geheimnis aus der moralischen Situation, in der ihre Kinder aufwuchsen, die beim Tod ihres Vaters noch sehr klein waren.

In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle von Sandras Bruder Gianni (Jean Sorel) deutlich, dessen künstlerische, psychisch anfällige Seele dieser Konfrontation nicht gewachsen ist. Nur die Nähe zu seiner Schwester und der geheime Ort, an dem sie sich trafen, ließen ihn diese Situation überleben. Als er jetzt Sandra zum ersten Mal wieder trifft, wirkt er zunächst gefestigt, sich auf dem Weg zu einer Karriere als Schriftsteller befindend, aber seine innere Labilität kommt am Ort seiner Kindheit zunehmend zum Vorschein. In seiner filigranen Figur verarbeitet Visconti die Außenseitersituation eines Menschen, der nicht der sexuellen Norm entspricht – die inzestiöse Beziehung zu seiner Schwester ist ein Synonym zu Viscontis Homosexualität und erfährt hier ebenso Abscheu - vor allem durch die Mutter und den Stiefvater.

Entsprechend missverstanden, wenn nicht gar aus dem historischen Kontext heraus beleidigend, sind frühere deutsche Filmtitel wie „Die Triebhafte“ oder Inhaltsangaben, die von familiärer Dekadenz sprechen. Im Gegenteil steht Sandra in ihrer Selbstkontrolle und Souveränität in Nichts dem Fürsten in „Il gattopardo“ nach. Selbst als ihr Ehemann, überfordert von den sich hochschaukelnden Ereignissen, die Kontrolle verliert, bleibt sie ein Muster an Beherrschung, ohne dabei ihre Emotionen zu unterdrücken. In ihr verweist Visconti noch einmal auf den früher vorherrschenden Geist in der Familie, aber retten kann sie damit Niemanden mehr.

Offensichtlich wird dadurch auch seine Intention für die Wahl der künstlerischen Mittel, die in ihrer direkten Opposition zu der Farbenpracht in „Il gattopardo“ diesen wieder ähneln. Die Klaviermusik symbolisiert die ständige Anwesenheit der Mutter und vermittelt, ähnlich wie die dramatische Optik, nur eine äußerliche Emotionalität, während die Interaktion der Protagonisten von Kälte gekennzeichnet ist. Diese äußerliche Wucht lässt erst das Spannungsverhältnis deutlich werden, unter dem Sandra und ihr Bruder aufwuchsen, und damit ihre Stärke und seine Schwäche.

Viscontis Haltung zu den Geschwistern spricht aus dem Filmtitel, der leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde. „Liebliche Sterne im Zeichen des großen Bären...“ - gleichzeitig der Titel von Giannis erstem Buch - zeugen von ihrer Schönheit, aber auch von ihrer Verlorenheit in der Unendlichkeit.

"Vaghe stelle dell'Orsa..." Italien 1965, Regie: Luchino Visconti, Drehbuch: Luchino Visconti, Suso Cecchi d'Amico, Darsteller : Claudia Cardinale, Jean Sorel, Michael Craig, Renzo Ricci, Marie Bell, Laufzeit : 100 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Luchino Visconti:

Mittwoch, 12. Mai 2010

Genova a mano armata 1976 Mario Lanfranchi

Inhalt: Der "Amerikaner" (Tony Lo Bianco) hat Schwierigkeiten - erst wird er im Hausflur zusammen geschlagen, dann versucht ein Auto ihn abzudrängen, bevor eine Maschinengewehrsalve auf ihn abgefeuert wird. Die Polizei greift nicht ein. Im Gegenteil will Commissario Logallo (Adolfo Celi), der ihn von früher her kennt, als der "Amerikaner" selbst noch Polizist war, von ihm wissen, an welchem Fall er in Genua als Privatdetektiv arbeitet. Und am liebsten würde er ihn sofort in die USA zurückschicken.

Erst nach längerem Widerstreben, erzählt ihm der "Amerikaner", dass er von Marta Mayer (Maud Adams) beauftragt wurde, herauszubekommen, wer ihren Vater entführt und ermordet hatte. Zudem will sie die hohe Lösegeldsumme zurück haben, was offensichtlich Einigen missfällt...



Wenn zu Beginn ein Mann (Tony Lo Bianco) lässig durch die Gassen Genuas schlendert, täuscht dieser Eindruck. Commissario Logallo (Adolfo Celi) kennt ihn schon seit langem und lässt ihn beobachten. Er nennt ihn nur den "Amerikaner" - ein Ex-Polizist mit italienischen Vorfahren, mit dem er früher zusammen arbeitete und über dessen Anwesenheit in Genua er gerne mehr wissen möchte.

Als der "Amerikaner" wieder zu seiner Wohnung zurückkehrt, geht der Film gleich in die Vollen - er wird von einigen Männern erwartet, die ihn brutal zusammenschlagen, bevor ihr Boss, ein Gangster französischer Herkunft, die Asche seiner Zigarette auf den am Boden liegenden Mann fallen lässt. Regisseur und Autor Mario Lanfranchi lässt von Beginn keinen Zweifel daran entstehen, dass ein Tiefschlag nach dem anderen folgen wird, aber der "Amerikaner" wird nie mehr so am Boden liegen. Ab sofort bestimmt er die Handlung und auch seine gute Laune wird ihn nicht mehr verlassen.

Obwohl erst Ende 40, drehte Mario Lanfranchi mit "Genova a mano armata" 1977 seinen vorletzten Film und trat zum letzten Mal als Schauspieler auf. Bekannt wurde er schon in den 50er Jahren als Produzent und Regisseur, der die Karriere der Opernsängerin Anna Moffo, seiner zukünftigen Ehefrau, förderte. Mit ihr in der Hauptrolle inszenierte er eine Vielzahl von Opern für das Fernsehen oder den Film, aber parallel spielte er kleinere Rollen in diversen Actionfilmen und Italo-Western, bevor er mit "Sentenza di morte" selbst einen solchen umsetzte. Dieser Experimentierfreudigkeit blieb er treu, befasste sich noch mit einem Drama ("Il bacio") und einer frivolen Komödie ("La padrona è servita"), bevor er seinen ersten Poliziesco in Angriff nahm.

Diese Lust am Genre ist dem Film jeden Moment anzumerken, denn Lanfranchi hält sich nicht mit einer komplexen Story auf, sondern konzentriert sich auf ständige Action und witzige Dialoge. Verlassen kann er sich dabei auf seine beiden Protagonisten, denn wenn der Commissario und der "Amerikaner" aufeinander treffen, bleibt kein Auge trocken, egal wie verzwickt die Situation gerade ist. Beide scheinen sich in inniger Abneigung zugetan, retten sich auch mal gegenseitig das Leben, um im nächsten Moment wieder despektierliche Bemerkungen loszulassen. Während Adolfo Celi dabei eine gewohnt standfeste Figur macht, überzeugt Tony Lo Bianco durch hohe Geschwindigkeit, die nie ihre Lässigkeit verliert.

Ihm zur Seite gesellt sich noch Maud Adams als geheimnisvolle Auftraggeberin, deren Rolle von Beginn an so angelegt ist, dass man ihr kein Wort glaubt, aber gerne dabei zusieht. Mit ihr leistet sich der "Amerikaner" frivol angelegte Dialoge, die aber immer mit genügend Zynismus angereichert sind, womit der Charakter des Films ausreichend beschrieben ist. Lanfranchi macht entsprechend auch nicht vor Selbstjustiz halt, was angesichts der hohen Sterberate aber kaum ins Gewicht fällt und nur die Intention Lanfranchis unterstreicht, möglichst kein Genreelement auszulassen. Die fehlende Ernsthaftigkeit des Geschehens wird besonders deutlich, als sich der "Amerikaner" einen Schuss Heroin setzt, um so als Süchtiger in eine Klinik zu gelangen, in der er die Hintermänner einer Entführung vermutet, die er aufklären soll. Dort angekommen, hält ihn nichts mehr davon ab, gleich wieder aktiv zu werden, als wenn er zuvor ein leichtes Schlafmittel genommen hätte.

Über solche Logikschwächen kann man getrost hinwegsehen, ebenso wie die ständige Anwesenheit der Polizei am rechten Ort zur fast rechten Zeit etwas konstruiert wirkt, denn eine entscheidende Rolle spielt hier die Hafenstadt Genua, die zurecht im Titel erwähnt wird. Lanfranchi gelingt es überzeugend die Stadt in seine Verfolgungsjagden und Schiessereien mit einzubeziehen, so dass das irre Geschehen einen realen Bezugspunkt erhält. Genua wirkt dabei staubig und grau und vermittelt eine überzeugende 70er Jahre Atmosphäre mit seinen Hochstrassen, Industrieanlagen und Betonbauten.

"Genova a mano armata" ist kein raffiniert erzählter Polizei-Thriller, so wie ihm jegliche gesellschaftskritische Relevanz fehlt, sondern nutzt seinen stringent und ohne Anspruch auf Logik erzählten Handlungsfaden zur Aneinanderreihung von ständiger Action, die über alle Elemente verfügt, die man von einem Poliziesco erwartet. Regisseur Lanfranchi lebt sich hier voll aus und kann sich auf seine gut aufgelegten Darsteller verlassen, die insgesamt ein kurzweiliges Vergnügen bieten.

"Genova a mano armata" Italien 1976, Regie: Mario Lanfranchi, Drehbuch: Mario Lanfranchi, Darsteller : Tony Lo Bianco, Adolfo Celi, Maud Adams, Barbara Vittoria Calori, Howard Ross, Laufzeit : 83 Minuten

Samstag, 1. Mai 2010

Nenè (Nenè - Die Frühreife) 1977 Salvatore Samperi

Inhalt: Italien 1948, kurz vor den ersten freien Wahlen. Während die Priester ohne Umschweife die Wahl der Christdemokraten fordern und der Vertreter der kommunistischen Partei (Ugo Tognazzi) versucht, die nach dem Krieg entstandene Solidarität für seine Partei zu bündeln, hat der Vater (Tino Schirinzi) des 9jährigen Ju (Sven Valsecchi) andere Sorgen. Wie Vielen anderen auch, fehlt es ihm an Arbeit und Geld, weshalb seine aus einer reichen Familie stammende Frau (Paola Senatore) ständig über ihr Leben mit ihm nörgelt. Zudem haben ihm die Erlebnisse im Krieg stark zugesetzt, weshalb er schnell aufbraust und seine Rechte als Familienvater mit Autorität durchsetzt. Sowohl seine Frau als auch seine Tochter Pa (Vittoria Valsecchi) bekommen schnell den Stock zu spüren, nur mit seinem Sohn geht er liebevoll um.

Entsprechend bestimmt er auch, dass sie zusätzlich die 14jährige Tochter Nenè (Leonora Fani) seines im Sterben liegenden Bruders aufnehmen, obwohl Platz und Nahrungsmittel knapp sind. Vor allem für Ju erweist sich die Anwesenheit seiner Cousine als willkommene Bereicherung, denn seine zunehmende Neugier auf das weibliche Geschlecht, wird von ihr verständnisvoll erwidert...


Die ersten freien, demokratischen Wahlen in Italien am 18. April 1948 bilden den historischen Hintergrund, vor dem die Handlung in "Nenè" angesiedelt ist. Trotzdem ist dem Film seine Entstehung in den 70er Jahre deutlich anzumerken. Regisseur Salvatore Samperi, der nach Cesare Lanzas Roman auch das Drehbuch verfasste, blieb zwar inhaltlich im historischen Kontext, doch nicht nur die Parallelen zur Politik Italiens, sondern besonders der provokative Umgang mit der Sexualität verweisen auf die Entstehungszeit des Films. Zudem entsprachen die Frisuren der Kinder, aber auch des Friseurs „Baffo“ (Ugo Tognazzi) dem 70er Jahre Zeitgeschmack - für Samperi typisch, dem mehr Wert auf eine stimmige Atmosphäre legte, als auf die exakte Wiedergabe einer historischen Phase.

Obwohl im Film immer wieder die Auswirkungen des erst wenige Jahre zuvor beendeten 2. Weltkriegs erwähnt werden, vermittelte Samperi in "Nenè" von Beginn an ein Bild der italienischen Gesellschaft, das auch in der Entstehungszeit des Films vorstellbar gewesen wäre. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Ju (Sven Valsecchi), ein neunjähriger Junge, aus dessen Blickwinkel die Geschichte erzählt wird. Seine Neugierde, besonders seine erwachende Sexualität, trägt den gesamten Film. Während Ju ständig auf der Suche ist, die Umgebung erkundet und Fragen stellt, verweilen die übrigen Familienmitglieder in ihren tradierten Rollen. Seine Mutter (Paola Senatore), die sich mit dem Haushalt abplagt und versucht, mit dem wenigen Geld, dass ihr zur Verfügung steht, die Familie zu versorgen, beklagt dauernd ihr Schicksal. Sie stammt aus einer wohlhabenden Familie und wirft ihrem Mann vor, sie in diese Situation gebracht zu haben. Jus Vater (Tino Schirinzi), einerseits durch die Erlebnisse im Krieg traumatisiert, andererseits selbst frustriert über seine materiell schwache Position, versucht seine Rolle als Familienvorstand souverän auszufüllen, verfällt aber immer wieder in übertriebene Autorität, die er mit Stockschlägen auslebt. Auch Jus ältere Schwester Pa ist in ihrer Passivität, die ihre Mutter noch durch ihre Tiraden gegenüber Männern fördert, ganz dem konservativen Rollenmuster verpflichtet.

Ju wirkt dagegen wie der Vorbote einer Moderne. Der intelligente Junge, der von einer Frau privat unterrichtet wird, besiegt seinen Vater beim Schach – was dieser Zähne knirschend akzeptiert – befreundet sich mit einem farbigen Jugendlichen aus der Nachbarschaft an, und lebt offen seine Neugier auf den weiblichen Körper aus.


Allein durch die Tatsache, dass er als Sohn die Solidarität des Vaters genießt, der seine Aggressionen ausschließlich gegenüber den weiblichen Mitgliedern der Familie auslebt, kann sein Freiraum nicht erklärt werden. Viel mehr ist seine Rolle als Kommentar aus der Sicht eines intelligenten, aber noch unbelasteten Menschen zu verstehen. Zwar plappert auch er die Vorurteile seiner Umgebung nach – wie bei der ersten Begegnung mit Rodi (Alberto Cancemi ), dem „Mulatten“ – aber sie haben seinen Geist noch nicht vernebelt, weshalb er schnell davon ablässt und anders handelt. 

Neben Ju gibt es eine zweite „naive“ Rolle, die noch deutlicher auf die politische Situation in den 70er Jahren hinweist. Ugo Tognazzi spielt einen Barbier, der voller Enthusiasmus für die kommunistische Partei eintritt und zu den Wahlen am 18. April ein großes Fest veranstaltet, bei dem er den Wahlsieg feiern will. Diese Erwartungshaltung ergab sich aus der Solidarität zwischen den Widerstandskämpfern und der Bevölkerung nach dem 2.Weltkrieg. Fast zwingend schien die kommunistische Partei an der Reihe zu sein, angesichts eines jahrzehntelangen Rechtsradikalismus, der Italien ins Unglück gestürzt hatte, aber längst waren wieder andere Kräfte im Spiel - wie der Priester in der gut besuchten Ortskirche, der sehr deutlich werden lässt, welche Partei ein gläubiger Christ zu wählen hat. Dieses scheinbare Erstarken der kommunistischen Partei, die die Wahl überraschend klar gegen die Christdemokraten verlor, erinnerte auch an die Situation der Partei Mitte der 70er Jahre, als sie sich – ebenfalls vergeblich – ein zweites Mal der Regierungsverantwortung annäherte. Ugo Tognazzis abschließende Rede ist dann auch mehr ein Manifest der persönlichen Enttäuschung als des trotzigen Aufbegehrens. Sein Glauben an die Bevölkerung scheint verloren gegangen zu sein und es wäre interessant zu erfahren, warum er – trotz seiner prägnanten Rolle – in den Credits nicht aufgeführt wird.


Allerdings ist das symptomatisch für einen Film, der nach einer Figur benannt ist, die erst nach etwa 20 Minuten auf dem Bildschirm erscheint. Bei "Nenè" (Leonora Fani) handelt es sich um Jus 14jährige Cousine, die sein Vater kommen ließ, weil sein Bruder im Sterben liegt und ihre Mutter als gebürtige Deutsche wieder in ihr Heimatland zurückkehrte. Ganz schlüssig wirkt diese Konstellation nicht, angesichts einer Jugendlichen, die sich schon am ersten Abend recht offenherzig gegenüber ihrem kleinen Cousin zeigt. Der Film versucht zwar, ihr Außenseiterdasein zu betonen, das sich in der beginnenden Beziehung zu Rodi, ebenfalls einem Geächteten der Gesellschaft, manifestiert, aber Leonora Fani – in Wirklichkeit schon über 20 – überzeugt mehr mit frivol, unschuldiger Nacktheit als mit einem schweren Schicksal. Samperi entwirft ein erotisches Geplänkel, das zwischen schüchterner Annäherung unter Jugendlichen und Nenès offenem Umgang mit ihrem kleinen Cousin schwankt. Selbst in den 70er Jahren waren diese Handlungen noch provokativ, auch wenn Samperi sehr zurückhaltend in seiner Darstellung bleibt, während es kaum vorstellbar ist, dass Kinder und Jugendliche in der Nachkriegszeit so viel Freiraum hatten.

Durch die Vermischung eines zeitgenössischen gesellschaftskritischen Hintergrunds und einer Handlung, die Züge eines sensiblen 70er Jahre Erotikfilms aufweist, entsteht in "Nenè" eine diffuse Mischung aus zwei unterschiedlichen Genres, die erst in den letzten Szenen zueinander finden. Sicherlich wollte Samperi das komplexe Bild einer Gesellschaft entwerfen, die am Scheideweg zwischen Tradition und Moderne stand, aber eine Vielzahl unterschiedlicher Sichtweisen vom Kind über die Jugendliche bis zum desillusionierten Erwachsenen, ergab nicht automatisch ein komplexes Gesamtbild. Allerdings ist es Nenès amourösen Handlungen zu verdanken, dass der Film trotz seines realen Hintergrunds eine gewisse Leichtigkeit behält.

Wirklich in Erinnerung bleiben aber Tognazzis Schlussplädoyer und besonders der kleine Ju, dessen Neugier ihn unfreiwillig die Realitäten der Welt lehren lässt – am Ende des Films haben Beide ihre Naivität verloren.


"Nenè" Italien 1977, Regie: Salvatore Samperi, Drehbuch: Salvatore Samperi, Cesare Lanza (Roman), Darsteller : Leonora Fani, Tino Schirinzi, Paola Senatore, Alberto Cancemi, Laufzeit :  93 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Salvatore Samperi:

"Malizia" (1973)
"Peccato veniale" (1974)
"Scandalo" (1976)