Inhalt: Episodenfilm bestehend aus fünf Kurzfilmen :
"L'indifferenza" (Carlo Lizzani):
New York - verschiedene Vorkommnisse verdeutlichen die Gleichgültigkeit der Menschen. Eine Frau wird inmitten einer Wohnsiedlung von zwei Männern angegriffen, ohne das ihr Jemand hilft, Obdachlose liegen auf den Bürgersteigen und ein Mann versucht vergeblich ein Fahrzeug zu stoppen, dass ihm hilft, seine schwer verletzte Frau in ein Krankenhaus zu bringen...
"Agonia" (Bernardo Bertolucci):
Ein Geistlicher (Julian Beck) liegt im Todeskampf und erlebt noch einmal den Aufstand der Seelen, die ihn im Leben um Hilfe baten...
"La sequenza del fiore di carta" (Pier Paolo Pasolini):
Riccetto (Ninetto Davoli), ein junger Mann, läuft fröhlich zwischen den Menschen und Autos herum, trägt eine große Papierblume und wechselt mit Vielen ein paar freundliche Worte. Auch mit Gott hält er Zwiesprache über die Unschuldigen, die nichts für die schrecklichen Ereignisse können, die wie Schatten über dem Geschehen liegen...
"L'amore" (Jean-Luc Godard):
Ein italienischer Mann und eine französische Frau beobachten ein Liebespaar - ebenfalls ein italienischer Mann und eine französische Frau - lauschen deren Gesprächen und unterhalten sich über deren Beziehungschancen...
"Discutiamo discutiamo" (Marco Bellocchio)
Während einer Vorlesung stürmen linke Studenten die Veranstaltung und konfrontieren die konservativen Kommilitonen mit ihrer Meinung. Es kommt zu einer intensiven Diskussion...
Äußerlich wirken die fünf Kurzfilme geradezu prädestiniert für einen Episodenfilm, da sie sich jeweils stark abstrahierend einem Thema widmen. Doch die unter dem Titel "Amore e rabbia" vollzogene Einheit, entsprang nicht der ursprünglichen Idee, sondern wurde erst im Nachhinein konstruiert.
Die katholischen Journalisten Pucio Pucci und Piero Badalassi hatten den Regisseuren Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini, die für ihre kritische Haltung gegenüber der Kirche bekannt waren, den Vorschlag eines Episodenfilms unter dem Titel "Vengelo'70" (Evangelium '70) unterbreitet, zu dem sie die Szenarien für die Episoden "L'indifferenza" (Gleichgültigkeit), "Agonie" (Todeskampf) und "La sequenza del fiore di carta" (Die Geschichte einer Papierblume) entwarfen. Gemeinsam mit "Seduto alla sua destra" von Valerio Zurlini sollten diese drei Kurzfilme herauskommen, aber dann wurde der Langfilm durch die Kurzfilme "L'amore" von Jean-Luc Godard und "Discutiamo, discutiamo" von Marco Bellocchio ersetzt und der Episodenfilm erschien bei der Berlinale 1969 unter dem Titel "Amore e rabbia".
Betrachtet man die Filme einzeln in ihrer künstlerischen Eigenständigkeit, wirken der Titel und die äußere Homogenität künstlich. Das Thema "Liebe und Zorn" passt theoretisch zu vielen Filmen und der christliche Ansatz, der den drei ersten Teilen noch einen Zusammenhang gibt, geht mit der vierten Episode verloren. Eine thematische Linie findet sich ausschließlich im Entstehungszeitraum der fünf Teile, denn die politische Diskussion der späten 60er Jahre und die daraus resultierende Haltung der fünf Regisseure, wird hier nachvollziehbar repräsentiert. So hat der äußere Rahmen eines Episodenfilms bei „Amore e rabbia“ eher die Funktion eines Daches, unter dem sich fünf eigenständige Werke vereinen.
„L’indifferenza“ (Carlo Lizzani)
Im Vergleich zur Entstehungszeit des Films hat sich die mediale Verbreitung von Gewalttaten deutlich verstärkt, weshalb Lizzanis Plakativität inzwischen übertrieben und künstlich wirkt. Um die mangelnde Nächstenliebe und die daraus resultierende Gleichgültigkeit der Menschen anzuprangern, lässt er eine junge Frau von zwei Männern am helllichten Tag in einem New Yorker Wohnviertel verfolgen. Während die Bewohner teilnahmslos aus den Fenstern sehen oder ganz wegsehen, können sich die zwei Männer unten viel Zeit lassen, die ihnen mehrfach entwischende Frau wieder einzufangen.
Lizzani verzahnt dieses Ereignis mit einem dokumentarischen Blick auf die vielen Obdachlosen, die auf den Bürgersteigen liegen, und den Folgen eines Autounfalls. Ein Mann versucht, während er seine schwer verletzte Frau auf den Armen trägt, ein Auto anzuhalten, aber Niemand hilft ihm, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Erst als die Polizei eintrifft, können sie einen widerwilligen Fahrer dazu bringen, die Beiden mitzunehmen. Doch anstatt der Motorradstreife hinterher zu fahren, biegt der Mann plötzlich ab.
So unecht wie das Blut auf dem Gesicht der verunglückten Frau, wirken die Konflikte, die Lizzani hier beschwört. Die Intention wird deutlich und vielleicht konnte man Ende der 60er Jahre damit noch einen Schock auslösen, aber aus heutiger Sicht wirken diese Ereignisse, die längst von der Realität überholt wurden (auch das die Obdachlosen inzwischen aus dem New Yorker Straßenbild verschwunden sind, ist kein Zeichen gewachsener Nächstenliebe), unfreiwillig komisch. Insgesamt der schwächste Beitrag des Episodenfilms, auch wenn seine Aussage nach wie vor aktuell ist.
„Agonie“ (Bernardo Bertolucci)
Bertoluccis Film ist nur schwer nach üblichen Filmkriterien zu beurteilen, weil er hier eng mit der avantgardistischen Dance - Group „Living Theatre“ zusammen arbeitete, deren Interpretation er in 10 Tagen filmte. Julian Beck, der Leiter der Gruppe, spielt einen tot Geweihten, dem eine Vielzahl von Menschen, denen er in seinem Leben begegnet war, nochmals erscheinen. Er hatte nie etwas Böses getan, aber seine Tatenlosigkeit konnte auch Niemandem helfen, so dass sein ganzes Leben wie ein Todeskampf wirkt, weil er schon lange vor seinem Tod gestorben war.
Das „Agonie“ kein reines Tanztheater ist, liegt an Bertoluccis Kameraführung. Er bleibt nicht in der Totalen, sondern geht mit der Kamera in das menschliche Knäuel hinein, das sich zeitweise bildet, fängt Details ein und sieht genau in die Gesichter der Beteiligten. Trotzdem ist „Agonie“ kein Film im eigentlichen Sinne, sondern ein moderner Tanz, frei in seiner Gestaltungsform, bei dem die Kamera Teil der Choreographie wird.
„La sequenza del fiore di carta" (Pier Paolo Pasolini)
Obwohl Pasolinis Film vergleichsweise kurz ist, bildet er doch das Zentrum des Gesamtfilms in seiner Kombination aus der Auseinandersetzung mit Gott und einem klaren politischen Statement. Riccetto (Ninetto Davoli) tanzt durch die Großstadt, schwingt um Laternenmasten, spricht freundlich Menschen an, steigt in Autos und fährt ein Stück mit. Dabei hält er, wenn er beschwingt über Straßen und Wege flaniert, eine große Papierblume in seinen Händen.
Diese fröhlichen Bilder überblendet Pasolini mit dokumentarischen Aufnahmen der Gräuel des 20.Jahrhunderts – Krieg, Aufmärsche, KZ und Leichenberge. Dabei versucht Gott Riccetto anzusprechen, um ihn zu informieren. Doch dieser verweist auf seine Unschuld, weil er nichts davon wusste, aber Gott nimmt ihm diese Illusion. Schon durch den Glauben, keine Schuld durch Nichtwissen zu haben, nimmt man Schuld auf sich – am Ende stirbt Riccetto, wie schon viele vermeintlich Unschuldige vor ihm.
In Pasolinis Film ist seine tief greifende Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen der späten 60er Jahre zu erkennen. Lange vor dieser weltweiten Protestbewegung hatte er den Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse eingefordert, aber er spürte auch die Ambivalenz hinter dem Aufbegehren der jungen Generation. Die große Papierblume ist ein Symbol für die Bewegung der Blumenkinder, die mit „Make love, not war“ gegen den Vietnamkrieg kämpften, aber trotz aller Sympathie hielt er diesen Weg nicht für aussichtsreich. In wenigen Minuten bringt Pasolini in einer überzeugenden Bildsprache seinen zunehmenden Fatalismus auf den Punkt, der seine veränderte Einstellung zwischen „Accattone“ 1961 und „Salò“ 1976 kennzeichnen sollte. An einen Kampf, der noch zu gewinnen ist, glaubte er schon Ende der 60er Jahre nicht mehr, weshalb sich einzig in seinem Film die Begriffe „Liebe“ und „Zorn“ zumindest unterschwellig vereinen.
Auch wenn die Regisseure Lizzani, Bertolucci und Pasolini ihre Thematik unterschiedlich interpretierten, so fallen doch Gemeinsamkeiten zwischen den drei Episoden auf, welche nicht zuletzt auf den Entwurf der beiden Journalisten Pucci und Badalassi zurückgehen. Tatenlosigkeit, egal ob aus Gleichgültigkeit, dem Wunsch, nichts Falsches zu tun, oder aus dem Gefühl der eigenen Unschuld, kann nicht zu Veränderungen führen – weder im christlichen noch gesellschaftspolitischen Sinne. Auch Emotionalität und Ernsthaftigkeit sind weitere verbindende Komponenten, die in deutlichem Gegensatz zum Charakter der weiteren Episoden stehen, die ihrerseits über eine sezierende Kühle und ironische Distanz verfügen.
„Amore“ (Jean-Luc Godard)
Zuerst wirft die Kamera ihren Blick auf menschliche Details – die Hände, der Nacken oder ein Teil des Beins. Dann kommen ein Mann und eine Frau ins Bild, die sich über ein anderes Paar analytisch unterhalten. Die Rollen sind dabei klar verteilt – er ist der Intellektuelle, sie zwar gebildet, aber noch mit wenig Erfahrung. Er spricht italienisch, sie französisch, aber sie pflegen einen Dialog, als ob sie dieselbe Sprache sprechen.
Auch das Paar, das sie beobachten, spricht in zwei Sprachen, allerdings wiederholt sie exakt das in Französisch, was er zuvor in Italienisch sagte. Ein Dialog findet nicht statt, aber sie gerieren sich als Liebespaar. Erst langsam kristallisieren sich ihre Rollen heraus – sie ist eine Bürgerliche, er ein Revolutionär – und als sie zunehmend einen Dialog beginnen, bedeutet das ihre Trennung.
Interessant an Godards Film ist nicht die Verklausulierung der Unvereinbarkeit von bürgerlichem und revolutionärem Denken, sondern der ironische Blick darauf, der durch das Einblenden einer „Made in Cuba“ - Tafel noch forciert wird. Demaskierend ist der Dialog des voyeuristischen Paares, dessen Gespräch auch in Diskussionen über Kinofilme abdriftet. Wirklich interessiert wirken sie trotz ihrer Beurteilungen nicht am Liebeszustand des Paares, sondern mehr intellektuell angeregt, ihre eigenen selbstverliebten Analysen vortragen zu können.
Auch die bürgerlich-revolutionäre Verbindung, die eine kurze gemeinsame Liebe erfährt, macht keinen überzeugenden Eindruck. Erst nachplappernd und dann hilflos wirken ihre in verschiedenen Sprachen geführten Gespräche und die Trennung erfolgt dann nicht aus mangelnder gegenseitiger Anziehungskraft (Godard betont in seinen Bildern die körperliche Nähe), sondern durch die Selbsterkenntnis des Revolutionärs, dass sie nicht zusammen passen.
„Discutiamo, discutiamo“ (Marco Bellocchio)
Der Titel ist hier Programm, denn während der 20minütigen Laufzeit wird ausschließlich diskutiert. Regisseur Bellocchio versammelte eine Studentengruppe um sich, die in verteilten Rollen die Auseinandersetzung zwischen konservativen und linken Studenten sowie dem Lehr- und Führungspersonal nachspielt. Er selbst gibt einen Lektor, während sich manche Studenten Bärte umbinden, um damit Professoren oder den Dekan zu imitieren.
Das Ganze wird mit Verve und ohne allzu großen Ernst inszeniert – man sieht immer mal wieder in die lachenden Gesichter der Studenten – ist aber sehr genau in der sprachlichen Auseinandersetzung beobachtet. Die unterschiedlichsten Phasen werden bei der Diskussion durchlaufen vom provokanten Beginn, über eine Phase des gegenseitigen Verständnisses bis zur Unvereinbarkeit der Haltungen, die dann von als Polizisten verkleideten Studenten mit Luftballons niedergeknüppelt wird.
Ähnlich wie in Godards „Amore“ überrascht aus heutiger Sicht der ironisch-sarkastische Blick auf die damals aktuellen Auseinandersetzungen. Bellocchio arbeitete genau den Zwiespalt heraus, wenn eine privilegierte Gruppe, wie es die Studenten damals noch eindeutig waren, sich für die Besserstellung von - aus ihrer Sicht - unterprivilegierten Gruppen einsetzte, und dabei eine agitatorische Sprache und Argumentation benutzte, die in ihrem Terminus kaum abgehobener hätte sein können. Schon geringste sprachliche Abweichungen von der jeweiligen ideologischen Haltung, bewirkten sowohl bei Gegnern wie Sympathisanten sofortigen Widerspruch. Das Spielerische des Films verdeutlicht auch Bellocchios Intention, der an eine wirkliche Veränderung auf Basis dieser Diskussion, nicht ernsthaft glaubt.
„Amore e rabbia“ ist mit Sicherheit ein Kind seiner Zeit, aber überraschend ist doch die Zeitlosigkeit, mit der die Regisseure diese Phase Ende der 60er Jahre beurteilten. Obwohl ihr linke politische Geisteshaltung nicht in Frage zu stellen ist, ist der Episodenfilm alles andere als ein Werk von kritiklosen Unterstützern. Ihre Sympathien sind zwar eindeutig, weshalb konservativ denkende Betrachter diesem Film damals wenig positiv gegenüber gestanden haben und ihn heute eher als verblasstes Relikt seiner Zeit betrachten werden, aber damit verkennen sie die Komplexität, mit der sich die fünf Regisseure mit den damaligen Ereignissen auseinandersetzten. Bis auf Lizzanis erste Episode bleiben vier Kurzfilme in Erinnerung, die auf künstlerische, bewusst abgehobene Weise, ihre ganz eigene Diskussion führen, deren Inhalt bis heute Gültigkeit bewahrt hat.
"Amore e rabbia" Italien, Frankreich 1969, Regie: Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, Jean-Luc Godard, Marco Bellocchio, Drehbuch: Puccio Pucci, Piero Badalassi, Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini, Jean-Luc Godard, Marco Bellocchio, Darsteller : Tom Baker, Julian Beck, Ninetto Davoli, Nino Castelnuovo, Marco Bellocchio, Laufzeit : 102 Minuten
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