Einen Film nach Marquis De Sade’s „Die 120 Tage von Sodom“ umsetzen zu wollen, setzt einen zutiefst pessimistischen Blick auf das menschliche Dasein voraus, denn zu diesem während De Sade`s Einkerkerung entstandenen Schriftstück ist eine neutrale Haltung nicht möglich. Schon daran kann man erkennen, wie genau Pier Paolo Pasolini den Geist dieser Abhandlung, deren Form und Sprache sich jeder üblichen Einordnung verweigert, in seinem Film erfasst hat. Unabhängig davon, wie man seinen Film bewerten mag, zwingt er jeden Betrachter dazu, Stellung zu beziehen.
Die Vielzahl der Interpretationen und Versuche, Pasolinis Intentionen zu verstehen, lassen oft übersehen, wie genau sich der Regisseur an De Sade’s Vorlage hielt, die ja nicht nur eine Beschreibung menschlicher Abartigkeiten darstellt, sondern selbst in ein strenges symmetrisches Konzept gezwängt ist. So unterteilt De Sade die 120 Tage in vier Teile zu 30 Tagen, von denen er den ersten Teil detailliert schildert, während die weiteren Teile nur konzeptionell beschrieben sind. Die Unterteilung empfindet Pasolini nach, indem er seinem Film vier Kapitel gibt, die sich auf Dantes „Göttliche Komödie“ beziehen. Hier ist der erste kreative Ansatz zu erkennen, der dem De Sade’schen Werk eine weitere Facette hinzufügt, denn Dante beschreibt in seinen Gesängen den Weg von „Der Hölle (Inferno)“ über den „Läuterungsberg“ bis zum „Paradies“. Doch bis dahin kommt Pasolinis Film nicht, der mit seinen vier Kapiteln über die „Vorhölle“ und drei „Höllenkreise“ im „Inferno“ verbleibt und keine Hoffnung auf eine Läuterung zulässt.
Ein weiterer gestalterischer Ansatz liegt darin, die im vorrevolutionären Frankreich 1785 entstandene literarische Vorlage, in die von den Nazis kontrollierte Republik Salò in Norditalien 1944 zu verlegen. In diesem Zusammenhang muss man De Sade’s Weitblick bewundern, der seinem Werk eine Rechnung hinzugefügt hatte, in der mit Hilfe von Addition und Subtraktion die Anzahl der Getöteten und Überlebenden zum Ende der 120 Tage buchhalterisch aufgelistet wird. Diese perverse Logik erinnert an die maschinelle, unmenschliche Methodik, mit der die Nazis ihre Konzentrationslager betrieben, sowie an das Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung durch die deutsche Wehrmacht und SS, dass 1944 in Marzabotto stattfand, dem Ort, an dem Pasolini seinen Film spielen lässt.
Doch die häufig geäußerte Interpretation, „Die 120 Tage von Sodom“ als Parabel auf den Faschismus und seine unmenschlichen Auswirkungen zu betrachten, greift viel zu kurz. Nicht ohne Grund belässt es Pasolini bei geringen Anspielungen wie dem Ortsschild von Marzobotto, Lärm von Flugzeugen oder deutschen Soldaten, die zu Beginn den vier Honoratioren dabei helfen, angemessenes „Material“ für deren perfiden Plan zusammen zu treiben. Pasolinis pessimistisches Weltbild, das sich schon in seinem ersten Film „Accatone“ zeigte, hatte inzwischen jeglichen Optimismus, der Teile seiner Filme in den 60er Jahren prägte, verloren. Wie viele Intellektuelle hatte er gehofft, dass die furchtbaren Erfahrungen aus der Zeit von vor 1945 die Menschen zum Umdenken zwingen würde, aber angesichts der immer stärkeren Konsumhaltung der 70er Jahre, hatte er diesen Glauben verloren. So sind „Die 120 Tage von Sodom“ keineswegs ein Rückblick in eine grauenhafte Vergangenheit, sondern ein Abbild von Pasolinis Haltung zur Gegenwart, für das er den bis dahin tiefsten Abgrund im menschlichen Verhalten als Hintergrund nutzt. Auch hier sind wieder die Parallelen zu De Sade’s literarischer Vorlage zu erkennen, der damit seine Wut gegen die damals bestehenden Verhältnisse herausschrie.
So handelt es sich bei den vier Herren, die sich zur eigenen Erbauung eine genau aufgeschlüsselte Gesellschaft aus Helfern, Bewachern und jugendlichen Sklaven zusammen gestellt haben, um einen Richter, einen Bischof und zwei Adlige und damit klassischen Führungsfiguren einer bürgerlichen Gesellschaft. Hinzugefügt werden noch vier reifere Damen, die zur allgemeinen Erbauung erotische Geschichten erzählen oder für die musikalische Begleitung am Klavier sorgen sollen. Ganz offensichtlich war schon von De Sade diese Konstellation als Abbild der gesellschaftlichen Ordnung mit wenigen Mächtigen und vielen Untergebenen, die in unterschiedliche Kategorien eingeteilt sind, gestaltet worden.
So machen die vier Herrschenden nie einen Hehl daraus, dass sie sämtliche andere Personen nur für ihren eigenen Vorteil (in diesem Fall zur Gewinnung sexueller Lust) benutzen. Selbst den älteren Damen, die alles dafür tun, den Herren zu Willen zu sein, wird immer wieder deutlich gemacht, dass auch sie nichts zu sagen haben und sich auch gefallen lassen müssen, keinerlei Attraktivität mehr für deren Vorlieben zu verkörpern (das erinnert ein wenig an alternde Politiker- oder Managergattinnen, die zur Erhaltung ihrer bevorzugten gesellschaftlichen Stellung, ihre mächtigen Männer bei deren Vorlieben unterstützen).
Ähnlich sind die Wachposten (Polizisten) angelegt, die wie alle Anderen zu dieser Konstellation gezwungen wurden ,sich aber dank ihrer Bewaffnung und der damit gehobenen Stellung, sich diesen überlegen fühlen und deshalb die vier Herren tatkräftig unterstützen.
Auf diesem Gesellschaftsbild liegt Pasolinis Hauptaugenmerk, der mit den sadistischen und unmenschlichen Vorgängen drastisch zeigen will, dass dieses System selbst unter solchen Bedingungen störungsfrei funktioniert. Die hier in ihrer mathematischen Anordnung liegende Symmetrie ist ein Synonym für die innergesellschaftlichen Machtstrukturen, die sich regelmäßig selbst regenerieren. So finden die vier Machthaber, die zahlenmäßig deutlich unterlegen sind, immer Unterstützung in irgendeiner Gruppe und Pasolini bringt die perverse Logik dazu noch auf den Punkt, indem er zeigt, wie selbst Todgeweihte noch Andere verraten, nur um sich selbst zu retten. Eine Solidarität innerhalb des Volkes, die Veränderungen herbei führen könnte, existiert nicht. Ein bitterer Gedanke des bekennenden Linken Pier Paolo Pasolini, der sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen zieht.
Betrachtet man die Reaktionen auf Pasolinis Film und auch dessen indizierten Status, muss man feststellen, dass seine Intentionen selten verstanden wurden. Zurückzuführen ist das wahrscheinlich auf die hier stark im Vordergrund stehenden explizit dargestellten und beschriebenen Sexual- und Gewaltpraktiken. Pasolinis gestalterische Umsetzung bleibt dabei ganz seiner Linie treu, einer äußerst unprätentiösen, fast spartanischen Darstellung, die jeden Effekt vermeidet und dem Betrachter keinerlei Attraktivität vermittelt. Im Gegenteil entsteht durch die totale Kälte im menschlichen Umgang und die völlige Mitleidslosigkeit, die Pasolini immer wieder der Verzweiflung einiger Opfer gegenüberstellt, eine abschreckende, Ekel erregende Atmosphäre, die der Betrachtung des Films jegliches Vergnügen nimmt.
Die Umsetzung von „Die 120 Tage von Sodom“ erinnert ein wenig an die Quadratur des Kreises. Um seine Intentionen schlüssig - gerade in ihrer pessimistischen Dimension - vermitteln zu können, ist Pasolinis Bezug auf De Sade’s Werk folgerichtig und seine Umsetzung konsequent, doch verlangt seine minimalisierte und bezüglich ihrer Taten auf die Extreme reduzierte Gesellschaftskonstellation, ein sehr hohes Maß an Abstrahierung. Dabei gelingt ihm etwas, dass nur wenigen Filmen vergönnt ist – er hinterlässt einen bleibenden Eindruck und zwingt zu einer Meinung.
"Salò o le 120 giornate di Sodoma" Italien, Frankreich 1975, Regie: Pier Paolo Pasolini, Drehbuch: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti, Darsteller : Paolo Bonacelli, Giorgio Cataldi, Umberto Paolo Quintavalle, Aldo Valletti, Caterina Boratto Laufzeit : 145 Minuten
- weitere im Blog besprochene Filme von Pier Paolo Pasolini :
"Accattone" (1961)
"Le streghe" (1967)
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