Samstag, 30. November 2013

Marcia trionfale (Triumpfmarsch) 1976 Marco Bellocchio

Inhalt: Paolo Passeri (Michele Placido), Universitäts-Absolvent, wird von dem Ausbilder seiner Grundausbildungseinheit gezwungen, seinen Dienstgrad und Namen immer wieder laut aus zunehmender Entfernung zu wiederholen. Innerlich ballt der junge Rekrut die Fäuste in der Tasche, aber aus Angst vor weiteren Schikanen wagt er es nicht, sich zu beschweren. Nicht nur gegenüber diesen Methoden, sondern gegenüber dem gesamten Militärapparat verspürt er große Abscheu – dem täglichen Drill, dem großen Gemeinschaftsschlafraum, der beschränkten, geistig anspruchslosen Freizeitgestaltung und der Ernährung.

Sein verschlossenes und abweisendes Verhalten wird besonders von den länger dienenden, kurz vor ihrer Entlassung stehenden Kameraden negativ betrachtet, die sich das Recht herausnehmen, über die Neuankömmlinge zu bestimmen. Auch Passeri gerät in ihren Fokus und muss Erniedrigungen über sich ergehen lassen. Zudem hat es der gefürchtete Chef ihrer Einheit, Capitano Asciutto (Franco Nero) auf ihn abgesehen, der ihn zunehmend unter Druck setzt. Als Passeri in dessen Zimmer gerufen wird, beginnt Asciutto ihn zu provozieren und auf ihn einzuschlagen, bis der Rekrut sich wehrt. Langsam begreift Passeri die inneren Mechanismen des Militärs und gewinnt aus seiner stärker werdenden Position Vorteile, die seine Meinung über das Militär verändern. Asciutto bittet den ihm inzwischen wohl gesonnenen Soldaten um einen heiklen Auftrag – er soll seine Frau Rosanna (Miou-Miou) beobachten…


"Marcia trionfale" (Triumpfmarsch) gehört zu den Filmen, die alle Voraussetzungen mitbrachten, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Bei seinem Erscheinen 1976 traf der als deutsche, französische und italienische Co-Produktion entstandene Film mitten in eine politische Diskussion, die zerrissen war von zwei gegensätzlichen, unvereinbar scheinenden Haltungen - während konservative Kräfte nach einem starken Staat riefen, der dem Terrorismus und der wachsenden Kriminalität Einhalt gebieten sollte, forderte die Linke mehr Bürgerrechte und weniger Polizeiüberwachung. Zudem spitzte sich die Diskussion über Aufrüstung und atomare Abschreckung zu, die 1979 im Nato-Doppelbeschluss münden sollte, der eine Modernisierung der Atomwaffen regelte.

Obwohl die zur Wehrpflicht eingezogenen jungen Männer keinen Einfluss auf diese übergeordneten Vorgänge nehmen konnten, geriet ihre Position als Soldat - je nach Sichtweise "Staatsbürger in Uniform" oder "willfährige Handlanger" - ins Zentrum dieser Kontroverse. Marco Bellocchios Film "Marcia trionfale" begab sich in die Niederungen des einfachen Soldatenlebens und beschränkte seinen Handlungsrahmen auf eine Kaserne, in der die Rekruten zur Grundausbildung antreten müssen. Auch Michael Cinimos "The deer hunter" (Die durch die Hölle gehen, 1978) und "Full metal jacket" (1987) von Stanley Cubrick warfen ihren Blick in die innere Struktur einer Armee. Auf den damit einhergehenden Verlust demokratischer Rechte, die Täter- und Opferrollen, die bewusst geschürte Aggression und den Männlichkeitswahn. Im Gegensatz zu diesen bis heute bekannten Filmen ist "Marcia trionfale", der in Deutschland nur in einer um mehr als 10 Minuten gekürzten Version in die Kinos kam, in Vergessenheit geraten – eine Analyse der Gründe:

Regisseur Marco Bellocchio, dessen frühere Filme "I pugni in tasca" (Mit der Faust in der Tasche, 1965), "La Cina è vicina" (China ist nahe, 1967) und "Nel nome del padre" (Im Namen des Vaters, 1971) heute zu den nach Meinung einer Expertenrunde 100 wichtigsten Werken Italiens zählen, hatte aus seiner links gerichteten politischen Haltung nie ein Geheimnis gemacht. Gemeinsam mit Pier Paolo Pasolini, Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci und Jean-Luc Godard hatte er mit "Amore e rabbia" (Liebe und Zorn) 1969 unmittelbar auf die Studentenbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg reagiert - ein bis heute umstrittener Film, in dem seine in einem Hörsaal spielende Episode "Discutiamo discutiamo" (Wie diskutieren, wir diskutieren) die ergebnislos geführten ewigen Diskussionen kritisierte, die sich nur um die jeweiligen ideologischen Formeln drehten. Bellocchio blieb immer unabhängig und befriedigte keine politische Sichtweise vordergründig - eine Haltung, die auch für "Marcia trionfale" gilt.

Unterstützt wurde er beim Schreiben des Drehbuchs von Florian Hopf, der ein Jahr später einen Dokumentarfilm über Rainer Werner Fassbinder drehen sollte und wie die übrigen deutschen Beteiligten nicht zum ersten Film-Establishment gehörte, mit dem „Marcia trionfale“ sonst aufwarten konnte - Franco Nero und Michele Placido, sowie Miou-Miou und Patrick Dewaere waren internationale Stars. Dagegen war Eckehard Belle zuvor größtenteils in Sex-Filmen besetzt worden („Junge Mädchen mögen’s heiß, Hausfrauen noch heißer“ 1973) und Peter Berling spielte unter der Regie von Fassbinder („Liebe - kälter als der Tod“ 1969), Rudolf Thome („Rote Sonne", 1970) oder Werner Herzog („Aguirre, der Zorn Gottes“ 1972) jeweils Nebenrollen. Gemeinsam spielten sie 1974 an der Seite von Silvia Kristel in dem Erotik-Film „Der Liebesschüler“ (1974) und Berling arbeitete parallel als Drehbuchautor, darunter für den ein Jahr später entstandenen, umstrittenen Film „Maladolescensa“ (Spielen wir Liebe, 1977)).

Auch Produzent Silvio Clementelli galt vor allem als Förderer des noch jungen Erotik-Genres - darunter die Filme von Pasquale Festa Campanile („Il merlo maschio“ (Das nackte Cello, 1971)) und Salvatore Samperi („Peccato veniale“ (Der Filou, 1974). Nach „Marcia trionfale“ besetzte er Franco Nero erneut in Samperis nächstem Film „Scandalo“ (1976) in der Hauptrolle. Da sich Miou-Miou und Patrick Dewaere seit „Les valseuses (Die Ausgebufften, 1974) ebenfalls einen sehr freizügigen Ruf erworben hatten, wurde „Marcia trionfale“ in die Nähe des Erotik-Films gerückt, was als unpassend für einen gesellschaftskritischen Film galt und ähnlich provozierte wie Bertoluccis „Ultimo tango a Parigi“ (Der letzte Tango von Paris, 1972) oder Marco Ferreris „L’ultima donna“ (Die letzte Frau, 1976). Entsprechend wurde der Film in der deutschen Version geschnitten und eines Teils seiner Wirkung beraubt. Die offen gezeigte Sexualität verstand sich – wie auch in den Filmen von Ferreri oder Bertolucci - als anti-bürgerliche Haltung und wurde hier weder selbstzweckhaft, noch voyeuristisch benutzt.

Im Gegenteil stehen die sexuellen Interaktionen in „Marcia trionfale“ für Machtmissbrauch und Unterdrückung. Ob länger dienende Soldaten neue Rekruten anpissen und ihnen gebrauchte Präservative ins Gesicht drücken, ob Capitano Asciutto (Franco Nero) seine Frau Rosanna (Miou-Miou) vergewaltigt und sie nackt aussperrt oder Leutnant Baio (Patrick Dewaere) auch parallel zum Geschlechtsakt Pornofilme laufen lässt und die Sexgeräusche für seine Kameraden aufnimmt, die unten vor seinem Fenster stehen – Sex wird zum plakativen Ausdruck einer degenerierten Vorstellung von Männlichkeit und Dominanz, die sich auch in der gemeinsamen Aktion des Capitano und des einfachen Soldaten Paolo Passeri (Michele Placido) manifestiert, als sie einen homosexuellen Mann zusammenschlagen, weil dieser angeblich die Soldaten verführt.

„Marcia trionfale“ ist kein ausgleichender, verschiedene Seiten abwägender Film, sondern ein Schlag ins Gesicht. Bellocchio wühlte im Dreck, aber er verlor dabei nicht die Realität aus den Augen. Wer mit inner-militärischen Regeln vertraut ist, wird die Abläufe, denen sich die erste Hälfte des Films widmet, detailliert und genau wiedergegeben empfinden. Die unsinnigen Befehle und regelmäßigen Schikanen, die nur die Funktion haben, die eigene Meinung zu brechen und die Rekruten zu erniedrigen, oder die Hierarchien der Mannschaften untereinander, bei denen die kurz vor der Entlassung stehenden Soldaten die Neuankömmlinge psychisch quälen, werden in Bellocchios Film ohne Übertreibung oder zugespitzte Dramatisierung geschildert – der Universitätsabsolvent Paolo Passeri, dem die anderen Soldaten fremd sind, wird automatisch zum Außenseiter und damit zum Opfer. Die Schilderung seiner Wandlung in einen überzeugten Soldaten dank der rigorosen Methoden seines Vorgesetzten Capitano Asciutto fand allgemeine Zustimmung, aber Bellocchio vollzog diese Metamorphose schon zur Mitte der Laufzeit, um sich in der zweiten Hälfte des Films dem Privatleben der Offiziere, besonders der Beziehung zwischen dem Capitano und seiner Frau Rosanna, zu widmen.

Wie wenig dieser Perspektivwechsel ankam, wird auch an dem Werbetext der deutschen Video-Veröffentlichung deutlich, der teilweise auch als Filmtitel genutzt wurde. Franco Nero als „Il Capitano, der Sadist“ heißt es dort, um dessen Unterdrückungsmechanismen plakativ zu betonen, aber falscher lässt sich Bellocchios Film nicht interpretieren. Anstatt die verbreitete Haltung über militärische Methoden zu bestätigen, mit denen friedliche junge Männer zu Handlangern eines Machtapparates umerzogen werden, verortete der Film die Armee mitten in der Gesellschaft und ließ deutlich werden, dass Capitano Asciutto gleichzeitig Täter und Opfer ist. Nero spielte keinen Sadisten, dem es Spaß bereitet, Andere leiden zu sehen, sondern er will die ihm anvertrauten Soldaten zu besseren und stärkeren Männern erziehen. Michele Placido gelingt es in seiner Rolle überzeugend, die innere Dankbarkeit zu transportieren, die er ihm gegenüber empfindet – ein Gefühl, dass kein Sadist bei ihm hätte erzeugen können. Noch deutlicher wird Asciuttos Intention, wenn er von dem Sohn spricht, den er sich bisher vergebens wünscht und den er von Beginn an nach seinen Vorstellungen formen möchte. Nicht Sadismus treibt ihn an, sondern die Liebe eines Vaters.

Eine Liebe, die von einem Geschlechterbild beeinflusst wurde, dessen Ursprung nicht im Militär, sondern generell in der Gesellschaft zu suchen ist. Nachdem Paolo Passeri vom Capitano den Auftrag erhielt, seine Frau zu beobachten, von der er glaubt, dass sie ihn betrügt, beginnt dessen Bewunderung für den Offizier zu bröckeln. Zunehmend gelingt es Franco Nero diesem psychisch schwachen, zu verzweifelter Gewalt neigenden Paranoiker, menschliche Züge zu verleihen, die seine dominante Rolle der ersten Hälfte demontiert. Asciutto verliert die Unterstützung seiner Umgebung, selbst dem lange Zeit loyalen Passeri gelingt es, rechtzeitig wieder auf die Seite der Mannschaft zu wechseln, womit „Marcia trionfale“ deutlich werden lässt, wie komplex das Wechselspiel von Macht und Ohnmacht ist und Niemand die alleinige Schuld zugeschoben werden kann. Die Armee – das ist die unbequeme Konsequenz des Films – ist nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, die in „Marcia trionfale“ einen denkbar schlechten Eindruck hinterlässt.

"Marcia trionfale" Italien, Frankreich, Deutschland 1976, Regie: Marco Bellocchio, Florian Hupf, Drehbuch: Marco BellocchioDarsteller : Franco Nero, Michele Placido, Miou - Miou, Patrick Dewaere, Eckehard Belle, Peter Berling, Laufzeit : 116 Minuten

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Samstag, 23. November 2013

La dottoressa del distretto militare (Die Knallköpfe der 6. Kompanie) 1976 Nando Cicero

Inhalt: Obwohl er sich lieber mit seinen Sex-Heftchen beschäftigen möchte, muss der Motorradfahrer auf Befehl des Maresciallo ausrücken, um die Musterungsbescheide zu verteilen, was er daraufhin ohne Rücksicht auf Verluste ausführt. Sowohl Alvaro (Alvaro Vitali), als auch Gianni (Alfredo Pea) werden in ungünstigen Momenten gestört und müssen zur Musterung einrücken. Gianni lässt sich von dem befreundeten Friseur Nicola (Alfredo Tomas) einen Trick erklären, um eine chronische Bronchitis vorzutäuschen, aber das bringt ihn nur ins Militärhospital, wo man seinen Gesundheitszustand unter den Augen von Dottore Frustalupi (Gianfranco D’Angelo) überprüfen will, der alle Rekruten für Simulanten hält.

Die Situation bessert sich rapide als die schöne Dottoressa Elena Dogliozzi (Edwige Fenech) dessen Aufgabe übernimmt. Vom Colonello Farina (Mario Carotenuto) abwärts, hechelt ihr Jeder hinterher. Auch Gianni ergeht sich in wilden Sexfantasien. Tatsächlich erweist sich Frau Doktor als kompetent, ernsthaft und einfühlend, auch bereit sich mit den Kollegen anzulegen – eine Charaktereigenschaft, die Gianni für seine Zwecke ausnutzen will...


Mitte der 70er Jahre befand sich Edwige Fenech auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als sie zu einer der populärsten Protagonistinnen der "Commedia sexy all'italiana" wurde, eine bis in die frühen 80er Jahre erfolgreiche erotische Variante der italienischen Komödie. Ihre ersten Sporen im erotischen Genre verdiente sich die Französin mit italienischer Abstammung mütterlicherseits im frühen deutschen Sex-Film ("Frau Wirtin hat auch einen Grafen" (1968)), bevor sie der Produzent Luciano Martino - zu dieser Zeit auch ihr Lebengefährte - gezielt zu fördern begann. Unter der Regie seines Bruders Sergio Martino reüssierte sie zunächst in dessen Gialli ("Lo strano vizio della Signora Wardh" (Der Killer von Wien, 1971)), um in "Giovannona Coscialunga disonorata con onore" (1973) auch seinen Beginn im erotischen Komödien-Fach zu begleiten.

Während sich Sergio Martino nach "Cugini carnale" (1974) zunehmend dem Poliziesco zuwandte, produzierte sein Bruder unter der Regie von Nando Cicero "L'insegnante" (Die Bumsköpfe, 1975) mit Edwige Fenech als schöner Lehrerin, der stilbildend für das Genre werden sollte. Ihre Konfrontation mit dem braven "Jüngelchen" Alfredo Pea, der nichts als Sex im Kopf hat, und dem Komiker Alvaro Vitali als idiotischem Side-Kick - beide Darsteller hatten zuvor nur kleinere Nebenrollen gespielt - war so erfolgreich, dass das selbe Team im Jahr darauf  "La dottoressa del distretto militare" (Die Knallköpfe der 6. Kompanie, 1976) folgen ließ. Erneut schrieb Francesco (hier unter dem Vornamen Franco) Milizia das Drehbuch und mit den Komödianten Carlo Delle Piane, Gianfranco D'Angelo und Mario Carotenuto waren die wichtigsten Nebendarsteller wieder mit von der Partie.

Die Struktur beider Filme ähnelt sich entsprechend - nur das die Handlung diesmal vor dem Hintergrund der Armee statt in der Schule spielt. Nicht nur angesichts des Alters der Darsteller eine glaubwürdigere Situation, sondern ein beliebtes Thema im italienischen Film, in dem die Armee häufig das Objekt satirischer Betrachtung war. Mit einer kritischen Sichtweise scheint "La dottoressa del distretto militare" (wörtlich: Frau Doktor vom Bezirkskommando), der damit beginnt, dass ein orientierungslos gewordener Blinder einen Verkehrspolizisten anpinkelt, vordergründig wenig zu tun zu haben, aber das täuscht - sich der Wehrpflicht zu entziehen, war ein populäres Thema in Italien und traf den Nerv eines Publikums, das nicht genug von inkompetenten, bestechlichen und schwachsinnigen Militärs bekommen konnte, weshalb Nando Cicero mit "La soldatessa alla visita militare" (Die letzten Heuler der Kompanie, 1977) und "La soldatessa alle grandi manovre" (Die trüben Tassen der Stube 9, 1978) noch zwei Fortsetzungen folgen ließ.

Parallel brachte das Team um Luciano Martino und Drehbuchautor Milizia mit "L'insegnante va in collegio" (Das Liebesquartett, 1978) und "L'insegnante viene a casa" (Die Hauslehrerin, 1978) auch noch zwei Fortsetzung zu "L'insegnante" heraus - zwar unter wechselnder Regie, aber jeweils mit Edwige Fenech, Alvaro Vitali sowie Renzo Montagnani, der den Part des männlichen Hauptdarstellers ab dem zweiten Armee-Film von Alfredo Pea übernommen hatte. Sowohl das Schule/Lehrerin-Thema, als auch der soldatische Hintergrund, von der sich noch die Figur der sexy Frau Doktor abspaltete, waren so erfolgreich, dass eine Vielzahl an Nachahmern auf die Leinwand kamen, die in Deutschland fälschlicherweise als Fortsetzungen betrachtet werden. So gilt "La dottoressa sotto il lenzuolo" (Der Kleine mit der großen Schnauze (1977)) als Nachfolger von "La dottoressa del distretto militare", obwohl beide Filme außer der titelgebenden "Frau Doktor" nur wenig gemein haben.

Abgesehen von ihren unterschiedlichen Sujets, sind "L'insegnante" und "La dottoressa del distretto militare" inszenatorische Zwillinge, bedingt auch durch den von Alfredo Pea verkörperten Rollentypus. In beiden Filmen wird die Handlung, bevor Edwige Fenech nach etwa einem Drittel der Laufzeit erstmals auftritt, ausschließlich von derben Spielszenen bestimmt, die je nach Sichtweise urkomisch bis geschmacklos daher kommen. Als Hintergrund diente hier die Übergabe des Einzugbefehls für die Wehrpflichtigen, die darauf folgende Musterung und der Versuch der Rekruten, sich mit einer vorgetäuschten Krankheit vor dem Militärdienst zu drücken. Allein die irre Motorradfahrt des Boten, der mit seiner Übergabe des Schreibens an Gianni Montano (Alfredo Pea) diesen beim ungewöhnlichen Liebesakt mit zwei Frauen in einem Hotelzimmer stört, genügt schon, um ausreichend Stimmung zu verbreiten - und beweist, wie früh italienischen Komödien nichts Menschliches fremd war.

Erneut spielte Pea den einzig intelligenten männlichen Charakter, der mit Hilfe eines befreundeten Friseurs (Alfonso Tomas) versucht, wieder ausgemustert zu werden, gleichzeitig aber auch die Dottoressa Elena Dogliozzi (Edwige Fenech) ins Bett kriegen will, die die Untersuchung der angeblich kranken Rekruten leitet. Ihm zur Seite steht der ebenfalls eingezogene Alvaro Pappalardi (Alvaro Vitali), dessen Chancen beim weiblichen Geschlecht wie gewohnt unter Null liegen, weshalb er sich unterschiedliche Varianten der körperlichen Befriedigung ausdenkt, die fast immer mit körperlichen Schmerzen enden. Innerhalb dieses Panoptikums aus Drückebergern, dilettantischen Ärzten und dem strohdummen Colonello Farina (Mario Carotenuto), Leiter der medizinischen Abteilung, wirkt Edwige Fenech wie eine Außerirdische, woran eine entscheidende Qualität italienischer Erotik-Komödien deutlich wird - zwar sind es auch hier die Frauen, die mit ihren körperliche Vorzügen die voyeuristischen Bedürfnisse befriedigen sollten, aber die Macher scheuten sich nicht, die Männer ausschließlich als Schwachköpfe oder notgeile Lügner darzustellen.

Anders als in "L'insegnante" tritt Edwige Fenech in ihrer Rolle als Ärztin deutlich selbstbewusster und dominanter auf. Dort baggerte Pea in seiner Rolle als verzogener Sohn reicher Eltern seine Nachhilfelehrerin ungehemmt an, was in "La dottoressa del distretto militare" unvorstellbar ist  - die gemeinsamen Nacktszenen entstehen lange Zeit einzig in seiner Fantasie. Auch wenn die Witze über Fettleibige - Männer wie Frauen - die Schmerzgrenze des guten Geschmacks deutlich überschreiten und die übliche Homophobie nicht fehlt, bekommt dem Film der Verzicht auf einen verlogenen romantischen Hintergrund, mit dem in "L'insegnante" noch der Versuch einer schlüssigen Handlung unternommen wurde, sehr gut. Einzig niedere Instinkte bestimmen hier das Handeln, was "La dottoressa del distretto militare" die notwendige ironische Distanz verleiht.

Der Blick auf das sich liebende Pärchen am Ende, das - wie zuvor schon in "L'insegnante" - vermittelt, Gianni hätte mit seinen Brachialmethoden doch Frau Doktor noch herum bekommen, stört ein wenig den guten Gesamteindruck einer irren, geschmacklosen Komödie, die in vielerlei Hinsicht Vorbildwirkung hatte. Doch das Ende versöhnt, denn während der sympathische Alvaro als zu klein entlassen wird, muss Gianni zum Militärdienst einrücken und ward in den zukünftigen Fortsetzungen nicht wieder gesehen.

"La dottoressa del distretto militare" Italien 1976, Regie: Nando Cicero, Drehbuch: Franco Milizia, Nando Cicero, Marino OnoratiDarsteller: Edwige Fenech, Alfredo Pea, Alvaro Vitali, Carlo Della Piena, Gianfranco D'Angelo, Mario Carotenuto, Laufzeit: 90 Minuten

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Montag, 18. November 2013

Il re della mala (Zinksärge für die Goldjungen) 1973 Jürgen Roland

Regelmäßig kam es zu italienisch-deutschen Co-Produktionen in den 60er und 70er Jahren, die in der jeweiligen Sprachfassung in nahezu identischer Form in die Kinos kamen. "Il re della mala" (Zinksärge für die Goldjungen) war in dieser Hinsicht eine Ausnahme, denn Jürgen Rolands Film an der Schwelle zum Poliziesco, wurde konzeptionell in zwei Fassungen gefertigt, die auf das Publikum der beiden Länder zugeschnitten waren. Die Unterschiede sind prägnant und gehen über den unterschiedlichen Namen der deutschen Hauptfigur (Otto Westermann/Hans Werner) hinaus - eine vergleichende Betrachtung und ein weiteres Bindeglied zwischen "L'amore in città" und "Grün ist die Heide", meinem Blog zum deutschen Film.


Inhalt: Hans Werner (Herbert Fleischmann) kontrolliert mit seiner Bande, die unter dem Deckmantel eines Kegelclubs ihre Treffen abhält, das Glücksspiel und die Prostitution in Hamburg und erpresst Schutzgeld. Wer nicht pünktlich bezahlt oder sich nicht bei Wetten an Werners Forderungen hält, bekommt Besuch von seinen Männern, die auch vor kaltblütigem Mord nicht zurückschrecken. Doch es bahnt sich Ärger für den Platzhirsch an, als der italo-amerikanische Unterweltboss Luca Messina (Henry Silva) ebenfalls plant, die friedliche Stadt Hamburg unter seine Fittiche zu nehmen.

Nachdem er mit Mutter (Ermelinda De Felice), Tochter Sylvia (Patrizia Gori) und seiner Geliebten Kate (Véronique Vendell) aus den USA angekommen ist, geht er mit seinen Männern gezielt gegen Westermanns Geschäfte vor, übernimmt die Leitung und verlangt 40 Prozent von dessen Einnahmen. Doch so leicht lässt sich Werner nicht verdrängen und nimmt den Kampf an, der zunehmend außer Kontrolle gerät…


Betrachtet man Jürgen Rolands Film "Zinksärge für die Goldjungen" von Italien aus, kam er unter dem Titel "Il re della mala" (Der König des Bösen) im Juli 1974 erst spät an der Schnittstelle zwischen Mafia-Film und Polizieschi in die Kinos. Fernando Di Leos Trilogie über das organisierte Verbrechen hatte mit "Il boss" (Der Teufel führt Regie) 1973 ihren Abschluss gefunden und Andrea Bianchi Anfang 1974 mit "Quelli che contano" (Die Rache des Paten) noch einen weiteren Mafia-Film nachgelegt, bevor die Hochphase des Polizieschi mit Umberto Lenzis "Milano odia: la polizia non vuole sparare" (Der Berserker, 1974) endgültig begann. An allen genannten Filmen war Henry Silva als Hauptdarsteller maßgeblich beteiligt, dem der Wechsel vom Unterweltboss zum Commissario spielend gelang.

Dass Jürgen Roland ihn ebenfalls in seinem Film über den Machtkampf zweier organisierter Verbrecherbanden in Hamburg besetzte, geht auf den unmittelbaren Einfluss der Di Leo-Trilogie zurück, verdeutlicht aber auch, dass sich Roland und seine Mitstreiter – der renommierte Drehbuchautor Werner Jörg Lüddecke („Das Beil von Wandsbek“, 1951) und Produzent Wolf C. Hartwig - auf der Höhe der Zeit befanden, denn ihr Film entstand noch vor Bianchis "Die Rache des Paten" und kam Ende 1973 in die deutschen Kinos. Produzent Hartwig hatte schon Mitte der 60er Jahre ein gutes Gespür für den Zeitgeist bewiesen und früh Ernst Hofbauer unterstützt, der ihm mit dem "Schulmädchen-Report" (1970) und dessen Fortsetzungen einen großen finanziellen Erfolg einbrachte. Auch mit Jürgen Roland, der seit Ende der 50er Jahre ("Stahlnetz") als Genre Spezialist galt, hatte er schon bei "St.Pauli Report" (1971) und "Das Mädchen aus Hongkong" (1973) zusammengearbeitet, zu denen Autor Lüddecke jeweils das Drehbuch beisteuerte.

Trotzdem begingen sie nicht den Fehler, ohne italienisches Know-How an die geplante Story heranzugehen. Mit Coriolano Gori holten sie sich einen erfahrenen Komponisten ins Team, dessen Score das treibende Tempo des Films stimmungsvoll unterstützte. Zudem wurden neben Silva viele weitere Rollen international besetzt, was dem Konflikt zwischen dem deutschen und dem italo-amerikanischen Gangsterboss und deren Anhang die notwendige Authentizität verlieh. Besonderes Einfühlungsvermögen bewiesen die Macher auch damit, dass sie von einem deutschen und einem italienischen Cutter zwei unterschiedliche Fassungen fertigen ließen, die zwar auf das selbe Bildmaterial zurückgriffen und die selbe Story erzählten, trotzdem aber über entscheidende Unterschiede verfügen, die signifikant sind für die jeweiligen Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten in den zwei Ländern – ein Vergleich, bei dem die 5 Minuten längere deutsche Fassung ein wenig schlechter abschneidet.

In beiden Fassungen beginnt der Film mit einer Einleitung, die von einer Stimme aus dem Off begleitet wird, die der Story einen gewissen Realitätsbezug verleihen sollte. Hinsichtlich der Existenz des organisierten Verbrechens besteht daran kein Zweifel, aber „Zinksärge für die Goldjungen“ reduzierte die Handlung einzig auf die Auseinandersetzung zwischen den beiden Gangster-Banden, ohne das die Strafverfolgungsbehörden hier irgendeine Rolle spielen, obwohl Schießereien, Hinrichtungen und wilde Verfolgungsjagden mitten in Hamburg an der Tagesordnung sind. Damit folgte Jürgen Roland strikt den Genre-Regeln, ohne der typischen Ausgewogenheit im deutschen Kriminalfilm Rechnung zu tragen. Auch dass der Italo-Amerikaner Luca Messina (Henry Silva) nach Hamburg kommt, um die Geschäfte von Hans Werner (Herbert Fleischmann) zu übernehmen, benötigte keine schlüssige Intention – einmal äußert er gegenüber seiner Mutter, dass er noch ein paar gute Geschäfte machen will, bevor er sich auf Sizilien zur Ruhe setzen will, aber das wirkt nur wenig überzeugend, angesichts der üppigen Geldmittel und sehr guten Organisationsstruktur, die ihm in Hamburg von Beginn an zur Verfügung stehen.

Entscheidend für das Genre sind die emotionalen Abhängigkeiten – beide Bosse haben im Film Familie und sind damit angreifbar – und die entstehende Spirale von Gewalt und Gegengewalt, gepaart mit der ewigen Jagd nach dem eigenen Vorteil, die aus der zugespitzten Situation eines Machtkampfs zwischen zwei Verbrechersyndikaten eine Sicht auf menschliche Abgründe entstehen lässt, die realistischer ist als das Ergebnis einer ausgewogenen Betrachtungsweise. Auch wenn „Zinksärge für die Goldjungen“ inzwischen unter Genre-Fans Anerkennung findet, schloss sich dieser Meinung damals kaum Jemand an. Filme dieser Art – auch die italienischen Vorbilder – sahen sich in Deutschland dem Vorwurf der Gewaltverherrlichung ausgesetzt, mit der eine schnelle Mark an der Kinokasse gemacht werden sollte. Der deutschen Fassung ist anzumerken, dass die Macher versuchten, dieser vorhersehbaren Kritik entgegen zu treten, in dem sie die Szene, in der Karl von den Kung-Fu Kämpfern erschlagen wird, kürzten, und die Story mit Klischee-Witzen über italienische Gepflogenheiten anreicherten. Auch die konstruiert wirkende Liebesgeschichte zwischen dem flippigen Horst Janson als Westermann-Sohn und der attraktiven Patrizia Gori als Messina-Tochter, die im Gegensatz zu ihren Vätern, die sich hübsche Betthäschen halten, ganz brav heiraten wollen, lässt sich in italienischer Genre-Ware dieser Zeit kaum finden.

Sie blieb auch in der italienischen Fassung erhalten - im Gegensatz zu fünf Minuten, die fast ausschließlich Vorurteile gegenüber italienischen Gewohnheiten betrafen. Darf Luca Messinas „Mamma“ in „Zinksärge für die Goldjungen“ als streitbare und laute Mutter auftreten, die Moral predigt und Ohrfeigen verteilt, während sie in ihren Spaghetti wühlt, spielt sie in „Il re della mala“ kaum eine Rolle. Auch die Ärztin, die angesichts des Herzinfarkts von Lucas Mutter nach der Art der Krankenversicherung fragt, fehlt in der italienischen Fassung glücklicherweise. Deutsche Fans mögen angesichts der „Clementine“ – Darstellerin in Erinnerungen schwelgen, der Straffung der Szene, die zwischen der Hinrichtung Karls und Westermanns großzügigem Verhalten in Messinas Haus pendelt, kommt dieser Schnitt entgegen.

Teilweise mutet die Art, wie die von Jürgen Roland ursprünglich gewählte Szenenreihenfolge in der italienischen Fassung ummontiert wurde, abenteuerlich an. Der Brandanschlag auf den Striptease-Club kommt in „Il re della mala“ schon im Vorspann vor, um die Gewalttätigkeit der deutschen Gang früh zu betonen, und Werners Plan, die eigenen Überfälle und Hinrichtungen der Italo-Gang in die Schuhe zu schieben, erfolgt hier als unmittelbare Reaktion auf Messinas Übernahmeversuch. In der deutschen Fassung löst erst der Mord an seinem Sohn Karl diese Konsequenzen aus, was sein Verhalten im Auge des Zuschauers stärker legitimierte. Der italienische Schnitt versuchte so, dass Verhältnis zwischen den Banden ausgewogener zu gestalten – eine notwendige Maßnahme, da Silva in seiner Rolle wesentlich kompromissloser auftrat als Fleischmann.

Trotz dieser Unterschiede zwischen den Fassungen, die von der Anpassung an den jeweiligen Markt geprägt sind, ändern diese Details nichts an der grundsätzlichen Aussage eines Films, der konsequent und ohne zu beschönigen die Folgen einer ungebremsten Gewaltspirale zeigt, rasant inszeniert ist und bis zum Schluss hochspannend bleibt - getragen von zwei überzeugend agierendenden Protagonisten.

"Il re della mala" Italien / Deutschland 1973, Regie: Jürgen Roland, Drehbuch: Werner Jörg Lüddecke, August Rieger, Darsteller : Herbert Fleischmann, Henry Silva, Patrizia Gori, Horst Janson, Véronique Vendell, Raf Baldassare, Dan van HusenLaufzeit : 78 Minuten

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Mittwoch, 13. November 2013

La fuga (Liebe im Zwielicht) 1964 Paolo Spinola

Inhalt: Während Piera (Giovanna Ralli) tanzt, kommt Luisa (Anouk Aimée) in den Nachtclub, geht zu ihr auf die Tanzfläche und gibt ihr eine Ohrfeige. Piera läuft daraufhin so schnell sie kann zu ihrem Auto, gefolgt von Luisa, erreicht ihre mondäne Villa rechtzeitig und reagiert nicht auf ihr heftiges Klingeln an der Tür, sondern wartet in der Dunkelheit sitzend darauf, dass Luisa sich wieder entfernt.

Sie nimmt ihr Tagebuch, liest wenige Zeilen und schmeißt es in das Feuer ihres Kamins. Trotzdem kommen ihre Erinnerungen wieder hoch und sie sieht sich jung verheiratet mit Andrea Fabbri (Paul Guers), dem sie versucht eine gute Ehefrau zu sein...


Der Filmemacher Paolo Spinola, der mit Mitte 30 erstmals in "La fuga" (Liebe im Zwielicht) Regie führte, ist heute nahezu vergessen. Schon früh ging er nach Rom zur "Cine Città" und arbeitete seit "Il mondo le condanna" (Die von der Liebe leben, 1953) mehrfach als Regie-Assistent, bevor er bei "Agguato a Tangeri" (Brennpunkt Tanger) auch am Drehbuch mitwirkte. Nach "Racconti d'estate" (Sommererzählungen, 1958) brach seine Filmkarriere ab und es dauerte 6 Jahre, bis es in den 60er Jahren zu einer kurzen erfolgreichen Phase mit den drei Filmen "La fuga", "L'estate" (Ein Sommer zu Dritt, 1966) und "La donna invisibile" (1969) kam. Von seinem letzten, beinahe zehn Jahre später gedrehten Film "Un giorno alla fine di ottobre" (1977), ist nicht einmal mehr bekannt, ob er in die italienischen Kinos kam.

An "La fuga" wirkten mit Giovanna Ralli als Hauptdarstellerin und Drehbuchautor Sergio Amidei zwei Protagonisten des im selben Jahr von Carlo Lizzani fertig gestellten Films "La vita agra" (1964) mit, der nach der heutigen Meinung einer Expertenrunde zu den wichtigsten 100 Filmen Italiens zählt. Giovanna Ralli hatte zuvor unter anderen in "Il generale Della Rovere" (Der falsche General, 1959) und "Era notte a Roma" (Es war Nacht in Rom, 1960) unter der Regie von Roberto Rossellini gespielt, ebenfalls nach Drehbüchern von Amidei, der als Autor vieler früher Rossellini-Filme prägend für den Neorealismus wurde ("Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt, 1945)) und mit Antonio Pietrangeli zusammenarbeitete, der früh ein komplexes Frauenbild zeichnete. Für ihre Verkörperung der Piera in "La fuga" gewann Giovanna Ralli, die später auch im Italo-Western ("Il mercenario" (1968)) und im Polizieschi ("La polizia chiede aiuto" (Der Tod trägt schwarzes Leder, 1974)) reüssierte, das "Silberne Band" als beste Hauptdarstellerin des Jahres 1964.

Auch die weitere Besetzung von "La fuga" erfüllte höchste Ansprüche, denn mit Anouk Aimée ("La dolce vita" (Das süße Leben, 1960)), Enrico Maria Salerno, Paul Guers oder Guido Alberti standen Spinola renommierte Darsteller zur Verfügung. Ebenso bemerkenswert sind die beiden Kameramänner Armando Nannuzzi und Marcello Gatti, die "La fuga" in expressive, betörende Schwarz-Weiß-Bilder tauchten, die nicht nur die Schönheit der beiden Protagonistinnen unterstrichen, sondern auch das damals gerade fertig gestellte, südlich von Rom bei Latina liegende, erste Kernkraftwerk Italiens in seiner industriellen Urgewalt einfingen. Gatti, noch am Anfang seiner Karriere, wurde später zum ständigen Begleiter von Gillo Pontecorvo ("La battaglia di Algeri" (Die Schlacht um Algier, 1966)), während Nannuzzi zuerst intensiv mit Antonio Pietrangeli ("Io la conoscevo bene" (Ich habe sie gut gekannt, 1965)) zusammenarbeitete, bevor er später zum Art-Direktor für Photographie bei Luchino Visconti wurde ("La caduta degli dei" (Götterdämmerung, 1969)).

Obwohl "La fuga" diese qualitativen Rahmenbedingungen jeden Augenblick anzumerken sind, verschwand der Film schnell in der Versenkung einer Phase, Mitte der 60er Jahre, in der sich erotische Darstellungen, Geschlechterrollen und moralische Standards so schnell änderten, dass ein Film nur wenige Jahre nach seinem Erscheinen als veraltet galt. „La fuga“ erinnert in seiner Ästhetik, dem modernen Italienbild und dem Hintergrund einer wohlhabenden Gesellschaftsschicht, nicht zufällig an Michelangelo Antonionis Trilogie, bestehend aus „L’avventura“ (1960), „La notte“ (1961) und „L’eclisse“ (1962), verfügt aber nicht über dessen abstrahierende Erzählform, sondern versuchte sich mit einer verschachtelnden, von zwei gegensätzlichen subjektiven Standpunkten ausgehenden Erzählweise, umfassend dem Charakter einer Frau zu nähern.

Nach einer kurzen Eingangssequenz, in der Piera (Giovanna Ralli) vor Luisa (Anouk Aimée) in ihr Haus floh, nachdem diese sie in einem Nachtclub auf der Tanzfläche geohrfeigt hatte, entspricht die erste Hälfte des Films den Tagebucheintragungen Pieras, in der sie ihre persönliche Sicht über ihre Ehe, ihre Mutterrolle (sie bekommt einen Sohn), ihre Eltern und Luisa schildert, bevor in der zweiten Hälfte ihr Psychoanalytiker (Enrico Maria Salerno) seine Sicht auf ihr Leben wiedergibt, die er sich während der Gespräche mit Piera gebildet hatte – erst spät wird deutlich, dass die Eingangssequenz zeitlich dazwischen angesielt ist. Dank dieser sich puzzleartig zusammensetzenden Analyse kann „La fuga“ das Interesse an der Figur „Piera“ ständig hochhalten, zudem sich der Film nicht gezwungen sieht, jede Wendung zu konkretisieren, sondern Raum lässt für individuelle Interpretationen.

Unmissverständlich ist dagegen die Funktion des Kernkraftwerks, in dem Pieras Mann Andrea (Paul Guers) als leitender Physiker arbeitet. Ähnlich wie Michelangelo Antonioni, der in „Il deserto rosso“ (Die rote Wüste, 1964) zerstörerische Parallelen zwischen einer wachsenden Industrialisierung und einer sich wandelnden Sozialisation zog, ging auch Spinola in „La fuga“ auf Distanz zu der fortschreitenden Technologisierung. So ästhetisch die Bilder des Ehrfurcht gebietenden Kernkraftwerks, eines supermodernen Flughafens oder Pieras schicker Villa, in der die Garage wie ein Wohnraum integriert ist, gelungen sind, so stehen sie symbolisch für die zunehmende Entfremdung der Menschen. In Anbetracht der zur Entstehungszeit des Films sehr optimistischen Haltung gegenüber der Atomkraft als Zukunftstechnologie, überrascht zudem Spinolas ironischer Blick. Während Andrea seiner Frau bei einem Rundgang die Anlage erklärt und dabei auf die Gefahrlosigkeit der Wasserbäder hinweist, in der die Brennstäbe gekühlt werden – außer es fällt Jemand hinein, wie er halb scherzhaft hinzufügt - erfasst die Kamera parallel das Warnschild, auf dem die Mitarbeiter hingewiesen werden, sich nicht länger als zwei Stunden an diesem Ort aufzuhalten.

Ob „La fuga“ damals mit dieser Sichtweise provozierte - immerhin bekam die Crew die Dreherlaubnis in dem Kernkraftwerk – lässt sich heute nur noch schwer feststellen, aber mit der angedeuteten lesbischen Liebesbeziehung zwischen Piera und Luisa verstieß der Film sicherlich gegen ein Tabu. Eingebettet wird die in zurückhaltenden ästhetischen Bildern gezeigte Annäherung der beiden Frauen in einen stark psychologisierenden Zusammenhang, der Piera als eine Frau aus besten Verhältnissen zeigt – schön, reich, künstlerisch talentiert, verheiratet mit einem intelligenten, erfolgreichen Mann und Mutter eines Sohnes – die trotzdem unglücklich ist. Ihre Eltern haben sich früh getrennt (sind aber noch verheiratet, da Scheidungen erst 1969 in Italien legitimiert wurden). Ihre Mutter ist dominant, geschäftlich erfolgreich und von jungen Liebhabern umgeben, während sich ihr spendabler Vater (Guido Alberti) von jungen Frauen über den Tisch ziehen lässt. Pieras Mutter bezeichnet ihre Tochter als frigide und sie selbst zweifelt an ihren Qualitäten als Ehefrau und Mutter. Luisa, die Piera über ihre Mutter kennenlernt, verkörpert dagegen den Typus der erfolgreichen Geschäftsfrau ohne Mann und Kinder, und gilt in den Augen ihrer Umgebung als egoistisch und berechnend.

Es ist dem Film hoch anzurechnen, sich den beiden Frauen mit Sympathie zu nähern, aber er umgibt die Thematik mit so vielen Klischees, dass es schwer fällt, dessen Essenz herauszufiltern – womit er jedem Betrachter die Möglichkeit belässt, an bestehenden Vorurteilen festzuhalten. Luisas Ohrfeige zu Beginn war eine enttäuschte Reaktion auf die Zurückweisung durch Piera. Dass diese -  nicht in der Lage auf Luisa zuzugehen und ihre Gefühle auszuleben - sich daraufhin umbringt, lässt der Film nur andeutungsweise in seiner zweiten Hälfte durchblicken, die von dem Versuch des Psychologen geprägt ist, eine Erklärung dafür zu finden. In dessen stets abwägenden Aussagen finden sich Kritikpunkte an den zementierten Vorurteilen und Erwartungshaltungen einer konservativ geprägten Gesellschaft, gleichzeitig kann er den Eindruck, bei Piera handelte es sich um eine verwöhnte und verantwortungslose Tochter aus reichem Haus, nicht ganz verwischen.

Spinolas Film ist es anzumerken, wie diffizil die Annäherung an eine lesbische Liebesbeziehung war, die eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft und ihre Geschlechterrollen in Frage stellte - auch der blödsinnige deutsche Titel weist darauf hin. Wie gut ihm das trotz der aus heutiger Sicht abschwächenden Elemente gelang, lässt sich daran ermessen, dass der ausgezeichnet gefilmte und überzeugend gespielte "La fuga" (Die Flucht) vollkommen in Vergessenheit geriet – den beiden Frauen galt seine Anteilnahme und die erotischen Aufnahmen befriedigten keinen männlich geprägten Voyeurismus.

"La fuga" Italien 1964, Regie: Paolo Spinola, Drehbuch: Sergio Amidei, Piero Bellanova, Darsteller : Giovanna Ralli, Anouk Aimée, Paul Guers, Enrico Maria Salerno, Carole Walker, Guido Alberti, Laufzeit : 92 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Paolo Spinola:

Sonntag, 10. November 2013

Ennio Morricone, Compositore / Komponist 1928 -

Porträt zum Anlass des 85. Geburtstags von Ennio Morricone, geboren am 10.11.1928


Es ist der Klang der Mundharmonika, der beinahe Jeden sofort an „Spiel mir das Lied vom Tod“ („C’era una volta il west“) erinnert, den Sergio Leone 1968 in die Kinos brachte und der den Komponisten Ennio Morricone schlagartig berühmt werden ließ. Es geschah der seltene Fall, dass sich ein Soundtrack vom Film löste und unabhängig erfolgreich wurde, obwohl gerade Morricone größten Wert auf die Symbiose von Bild und Ton legte. Anders als in vielen aktuellen Filmen, deren Soundtrack aus Musikstücken unterschiedlicher Interpreten besteht, liegt die Stärke des Morriconeschen Scores in den Bildern, die seine Musik vor dem geistigen Auge des Hörers erzeugen, denn es ging ihm nicht allein um die Untermalung von Szenen oder die Betonung einer Situation, sondern er schuf eine zusätzliche Ebene, die mit Bildern allein nicht herzustellen gewesen wäre. Die Filme verbinden sich so eng mit seinen Kompositionen, dass sie beim Erklingen seiner Melodien wieder in Erinnerung gerufen werden.

Dass er vor seinem großen Erfolg mit „Spiel mir das Lied vom Tod“ schon zu 85 Filmen den Score beigesteuert hatte, war außerhalb Italiens nur Insidern bekannt - einzig die Melodien zu den Italo-Western von Sergio Leone eilten seinem Ruf voraus, wie die Titelmelodie zu „Zwei glorreiche Halunken“ (Il buono, il brutto, il cattivo) von 1966. Es erstaunt deshalb nicht, dass der bis heute aktive Komponist Ennio Morricone, der am 10. November 2013 das 85. Lebensjahr vervollständigt, nach wie vor zuerst mit Sergio Leones Filmen und im weiteren Sinn mit dem Italo-Western identifiziert wird, obwohl das Western-Genre in seinem inzwischen 517 Soundtracks umfassenden Werk an Filmkompositionen nur einen kleinen Teil ausmacht und er mit anderen Regisseuren häufiger zusammen arbeitete.

Ennio Morricone, in Trastevere, Rom, geboren, studierte zuerst Trompete und Chormusik, bevor er 1954 sein Komponisten-Studium am Konservatorium abschloss. Als er als Arrangeur beim Radio begann, gehörte er schon zur musikalischen Avantgarde seines Landes – eine Leidenschaft, die ihn nicht mehr los ließ, weshalb er parallel zu seinen Filmkompositionen seit 1964 bei der "Gruppo di Improvisazione Nuova Consonanza" unter der Leitung von Franco Evangelisti mitwirkte – an der Trompete. Diese intensive Auseinandersetzung mit atonaler Musik und der Integrierung von jeder Art der Klangerzeugung, lässt sich auch an seiner Filmmusik ablesen. In „Zwei glorreiche Halunken“ ist gut herauszuhören, wie er Stimmen und Instrumente so verfremdet, dass sie mit den Schlaginstrumenten zu einem Rhythmus verschmelzen, der ein Western-Feeling verbreitet, dass stilbildend wurde. Obwohl einzig die Gitarre eine klassische Melodie spielt, wird das Stück als eingängig empfunden, woran deutlich wird, wie geschickt Morricone mit den Hörgewohnheiten spielte und diese damit gleichzeitig veränderte.

Warum Morricone trotz seiner Vielfältigkeit vor allem mit dem Western in Verbindung gebracht wird, liegt auch an der schieren Fülle und damit Unübersichtlichkeit seines Werkes, dessen innere Strukturen sich nur bei einer genauen Betrachtung entschlüsseln lassen. Doch mit Filmen, Namen und Hörbeispielen um sich zu schmeißen, hilft nicht bei der Annäherung an sein Werk, weshalb ich eine ganz persönliche Auswahl traf, um sein Schaffen zu repräsentieren - vierzehn Filme und die dazu gehörige Filmmusik aus der Zeit von 1961 bis Mitte der 80er Jahre, der kreativsten Phase im italienischen Film. Dass Ennio Morricone erst ab 1980 internationale Preise für seine Musik erhielt (der Oscar blieb ihm trotz einiger Nominierungen verwehrt – erst 2007 erhielt er den „Ehrenoscar“ für sein Lebenswerk), verdeutlicht auch, wie kontrovers seine Musik und die politische Haltung, die er in der häufigen, engen Zusammenarbeit mit politisch linksgerichteten Regisseuren ausdrückte, vor allem in den USA angesehen wurde.

Beginnen möchte ich mit den zwei Filmen, zu denen er seine ersten beiden Soundtracks schrieb, die schon beispielhaft für seine späteren Arbeiten stehen:


„Il federale“ (Zwei in einem Stiefel, 1961)

Bei „Il federale“ (Zwei in einem Stiefel) von 1961 handelt es sich um eine Satire auf das Soldatenleben im 2.Weltkrieg, deren beißender Humor typisch für die „Commedia all’italiana“ war, einer spezifischen Form der italienischen Komödie, die ihre Kritik unter dem Deckmäntelchen des Humors offensiv vortragen konnte. Besonders der abschließende Titel vermittelt in der Kombination aus soldatischem Marsch und einer melancholischen Melodie sehr schön die Intention des Films – ein wiederholt von Morricone angewendetes Motiv.


„La voglia matta“ (Lockende Unschuld, 1962)

Kein Zufall ist es auch, dass sein zweiter vertonter Film „La voglia matta“ (Lockende Unschuld, 1962) ebenfalls unter der Regie von Luciano Salce entstand, denn ein wesentlicher Zug seiner Karriere bestand darin, einen Regisseur bei dessen weiterer Arbeit zu begleiten – mit dem Ergebnis, dass die Anzahl der Filmemacher immer weiter wuchs, die ausschließlich Morricone als Komponisten verpflichteten. Bei „Lockende Unschuld“ handelt es sich um eine Komödie, die in der damaligen Gegenwart angesiedelt ist und von der Konfrontation der Nachkriegsgeneration am Beispiel eines 40jährigen Geschäftsmanns mit der aufkommenden Jugendbewegung erzählt. Sehr gelungen drückt er diese Situation mit dem Song „Jump up“ aus, der ironisch den Zwang zum „Jungsein“ kommentiert.


„Una pistola per Ringo“ (Eine Pistole für Ringo, 1965)

Nachdem mit Sergio Leones „Per un pugno di dollari“ (Für eine Handvoll Dollar) 1964 der Siegeszug des Italo-Western begann, fing auch für Ennio Morricone die intensivste Phase in der Zusammenarbeit mit dem Genre an. Ein weiteres, weniger bekanntes Genre-Beispiel verdeutlicht, wie unterschiedlich der Komponist den Western interpretieren konnte. Das Arrangement zu „Una pistola per Ringo“ (Eine Pistole für Ringo) war ganz auf den erst kürzlich verstorbenen Giuliano Gemma zugeschnitten, der einen gänzlich anderen Typus als Clint Eastwood in den Leone-Western verkörperte, weshalb auch die Musik einen vollständig anderen Charakter bekam - sanfter und mit zusätzlichem Gesang versehen.


„I pugni in tasca“ (Mit der Faust in der Tasche, 1965)

Parallel zu seinen Western-Kompositionen wandte sich Morricone schon früh dem gesellschaftskritischen und politischen Film zu, der Mitte der 60er Jahre verstärkt aufkam. Auch mit Regisseur Marco Bellocchio, dessen ersten Film „I pugni in tasca“ (Mit der Faust in der Tasche) er 1965 vertonte, blieb er noch bei weiteren Filmen in Verbindung. „Mit der Faust in der Tasche“ erzählt die Geschichte eines an der bürgerlichen Gesellschaft verzweifelnden zornigen jungen Mannes, der beginnt, seine Familienmitglieder zu ermorden, um seinen älteren, angepasst lebenden Bruder von der Verantwortung für sie zu befreien. Signifikant für Morricones späteren Stil ist die intensive Verwendung des Cembalos, dessen rhythmischen Klang er im zweiten Teil mit ruhigen Streichern kontrastierte.


„Uccellacci e uccellini“ (Große Vögel, kleine Vögel, 1966)

Wie gegensätzlich Morricone in der Lage war auf die spezifischen Eigenarten der Filmemacher einzugehen, wird an den beiden folgenden Beispielen deutlich. Sowohl für Pier Paolo Pasolini, als auch Gillo Pontecorvo wurde er zum ständigen Begleiter ihrer Filme, doch während Pasolini sich in „Uccellacci e uccellini“ (Große Vögel, kleine Vögel, 1966), einer absurd erzählten Passionsgeschichte, von seiner humorvollen Seite zeigte, pflegte Pontecorvo grundsätzlich einen dokumentarischen, ernsthaften Stil. Das Lied zu „Große Vögel, kleine Vögel“ ist im Stil eines mittelalterlichen Bänkelsängers gehalten, in dem Morricone Humor beweist, in dem er sich selbst mit „Ennio Morricone, Musico – ho,ho,ho“ ankündigen lässt.


„La battaglia di Algeri“ (Die Schlacht von Algier, 1966)

Dagegen wird der Soundtrack zu Pontecorvos „La battaglia di algeri“ (Die Schlacht von Algier, 1966) von der tiefen Tragik seiner Betrachtung des Algerien-Krieges geprägt. An einigen Stellen des Scores betonte er mit einem marschartigen Rhythmus die unbarmherzige Vorgehensweise der französischen Armee. Im Gegensatz dazu steht das Stück "Rue de Tebes", dass ein Bombenattentat auf die Zivilbevölkerung untermalt. Die elegische, ruhige Musik kann die Verzweiflung der Beteiligten im Anblick der vielen Getöteten transportieren und bleibt trotzdem zurückhaltend und ohne Anflug von Kitsch. Besonders im Vergleich zu aktuellen, kompakt klingenden Soundtracks, die bewusst Emotionen schüren, wird die Qualität des transparent gesetzten Musiksatzes für Streicher mit Cembalobegleitung deutlich.


"Le clan des Siliciliens" (Der Clan der Sizilianer (1969))

Nach dem großen Erfolg 1968 mit „Spiel mir das Lied vom Tod“ begann sich Ennio Morricone zunehmend im internationalen Film durchzusetzen. Für den französischen Regisseur Henri Verneuil schrieb er parallel erstmals einen Soundtrack zu dessen Film „San Sebastian“ (Die Hölle von San Sebastian, 1968), indem Charles Bronson auch die Hauptrolle spielte – ebenfalls der Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit. Zudem hatte der Western Ende der 60er Jahre seinen Zenit schon überschritten und andere Genres wie der Kriminalfilm (Polizieschi), der „Giallo“ oder der erotische Film befanden sich auf dem Vormarsch. Zu Verneuils erfolgreicher Gangster-Ballade „Der Clan der Sizilianer“ mit Jean Gabin, Lino Ventura und Alain Delon in den Hauptrollen, der 1969 herauskam, gelang ihm ein weiterer großer Erfolg, indem er seinen Western-Style neu interpretierte.

Schön ist daran ein weiteres bestimmendes Stilelement in der Musik Morricones zu hören – die Solostimme für ein Blasinstrument (in der Regel Klarinette oder Oboe, seltener Flöte) vor einem Streicherhintergrund, begleitet von einem treibenden Continuo in Form einer rhythmisch wiederholten Melodie. Hier wird sie von einer E-Gitarre gespielt, wahlweise auch vom Cembalo (dem klassischen Basso Continuo), einer Orgel oder einem Cello. Morricone verwendete die Mittel der klassischen oder E-Musik und gab ihnen einen modernen, zeitgemäßen Charakter.


„La donna invisibile“ (1969)

Wie wandlungsfähig er war, zeigt seine Musik zu „La donna invisibile“ (Die unsichtbare Frau), die er ebenfalls 1969 schrieb. Wenn sich Giovanna Ralli zu seiner Musik in der ersten Szene anzieht, dann manifestiert sich der Begriff „Erotik“ im Film – eine Wirkung, die erst durch die Kombination aus Bild und Ton ermöglicht wird. 

Nicht nur beim aufkommenden Erotikfilm befand sich Ennio Morricone auf der Höhe der Zeit, er schrieb für viele populäre italienische Regisseure dieser Phase die Filmmusik, darunter Damiano Damiani, Carlo Lizzani, Salvatore Samperi, Dario Argento, Sergio Sollima, Lucio Fulci, Mario Bava oder Sergio Martino, aber eine besondere Beziehung verband ihn mit dem gesellschaftskritischen Regisseur Elio Petri. Dieser gab ihm und seiner avantgardistischen Combo "Gruppo di Improvisazione Nuova Consonanza" die Möglichkeit, für "Un tranquillo posto in campagna" (Das verfluchte Haus, 1969) ihre Musik einzuspielen, was zum Beginn einer engen Zusammenarbeit wurde, die erst mit dem frühen Tod Petris 1982 endete.


"Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto" (Ermittlungen gegen einen über jeden Verdacht erhabenen Bürger, 1970)

Auch in den späteren Filmen des Regisseurs konnte Morricone mit atonaler Musik experimentieren, mit der er Petris fatalistische Haltung gegenüber der menschlichen Sozialisation adäquat ausdrückte  - beispielhaft dafür steht "La classe oparaia va in paradiso" (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies) von 1971, in der der Score nur aus maschinellen oder metallisch klingenden Geräuschen besteht. Ein gefälligeres Musikstück stammt aus "Indagine su un cittadino al di sopra di ogni sospetto" (Ermittlungen gegen einen über jeden Zweifel erhabenen Bürger), mit dem es Morricone gelang, den selbstgefälligen, narzistischen und gleichzeitig von Minderwertigkeitkomplexen gequälten Charakter des von Gian Maria Volonté gespielten Protagonisten zu vermitteln.


„Sacco e Vanzetti“ (Sacco und Vanzetti, 1971)

In dieser Phase der Proteste gegen den Vietnamkrieg, Massenstreiks und zunehmender terroristischer Anschläge, die die bürgerliche Gesellschaft Italiens zutiefst spaltete, war Ennio Morricone Teil der kritischen Intellektuellen, die die Gefahr einer erneuten Diktatur in ihrem Land befürchteten. Sein großartiger Score zu „Sacco e Vanzetti“ (Sacco und Vanzetti, 1971) unter der Regie von Giuliano Montaldo, brachte mit „Here’s to you“ eine Hymne hervor, die zwar zum Standard der Protestbewegung wurde - zudem gesungen von Joan Baez - aber nur selten mit dem Komponisten in Zusammenhang gebracht wird. Bemerkenswerter als dieses am Ende des Films gespielte Stück sind die drei jeweils 5minütigen Balladen, die Baez über die beiden zum Tode verurteilten Arbeiterführer singt. Während sich ihre Gesangsstimme in allen drei Variationen ähnelt, beginnt Morricone die Musik zunehmend zu dekonstruieren bis von der anfänglich melodischen Begleitung nur noch Geräusch-Fragmente zu hören sind. Der gesamte Soundtrack demonstriert Morricones Bandbreite in der Komposition vom eingängigen Musikstück bis zur atonalen Untermalung der Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl.



Dieser Einfluss zeigt sich auch an den zwei nächsten Beispielen zu populären Genres, denen sich Morricone nie verschloss. Zu dem Poliziesco von Umberto Lenzi „Milano odia: la polizia non vuole sparare“ (Der Berserker) mit Tomas Milian und Henry Silva in den Hauptrollen, schuf er eine Mischung aus treibendem Rhythmus und der Härte der Großstadt:

„Peur sur la ville“ (Angst über der Stadt, 1975)

Noch konsequenter schwenkt er in den atonalen Bereich in einem weiteren Score zu einem Henry Verneuil Film „Angst über der Stadt“ („Peur sur la ville“, 1975) mit Jean-Paul Belmondo – die Angst und das Grauen wird dank der Musik mit Händen greifbar.








„Ogro“ (1979)

Viele der Arbeiten in den 70er Jahre wurden von der langjährigen Zusammenarbeit mit Regisseuren geprägt, die er schon in seiner frühen Schaffensphase kennenlernte. Neben der Musik zu populären Genres wie Polizieschi, Giallo oder Erotikfilm, entstanden weiterhin Soundtracks zu politischen Filmen, wie zu „Ogro“ (1979) von Gillo Pontecorvo, für den Morricone seit Mitte der 60er Jahre („La battaglia di Algeri“) komponierte. Der Film über ein Attentat auf den spanischen Regierungschef, dem zweiten Mann im Staat unter dem Diktator General Franco, verdeutlicht den inneren Zwiespalt der Widerstandskämpfer, für ihre Ziele töten zu müssen und drückt sich in Morricones Musikstück „Atto di dolore“ angemessen aus, das ein erneutes Abbild seiner bevorzugten Stilelemente wurde.

„Once upon a time in America“ (Es war einmal in Amerika, 1984)

Zu diesem Zeitpunkt lagen schon fast 20 Jahre und nahezu 300 Soundtracks hinter Ennio Morricone, aber seine internationale Anerkennung – zumindest in Filmpreisen ausgedrückt - sollte erst noch kommen. Als weitere Initialzündung dafür gilt sein Soundtrack zum letzten Sergio Leone Film "Once upon a time in America" (Es war einmal in Amerika, 1984), der mit us-amerikanischem Geld entstand. So gelungen der Score klingt, so wird darin doch deutlich, dass er nur noch die Stilmittel variierte, die er schon bis Mitte der 70er Jahre entwickelte, die parallel zum gesamten italienischen Filmschaffen auch seine kreativste Phase blieb.