Mittwoch, 13. Februar 2013

I dolci inganni (Süße Begierde) 1960 Alberto Lattuada

Inhalt: Die 17jährige Francesca (Catherine Spaak) erwacht mit einem seltsamen Gefühl am Morgen. Sie hatte intensiv von Enrico (Christian Marquand) geträumt, einem 20 Jahre älteren Architekten, in den sie sich verliebt hat. Ihr Bruder Eddy (Oliviero Prunas) denkt dagegen an den Nachmittag, an dem er mit Freunden eine Ausfahrt nach Frascati mit ihren Autos machen will. Francesca ist noch nicht klar, ob sie mit ihm fahren will, aber sie weiß, dass sie auf die Schule definitiv keine Lust hat.

Stattdessen geht sie zu Enrico, der im Zentrum von Rom lebt und besucht ihn, immer noch verwirrt von ihren nächtlichen sexuellen Emotionen. Doch Enrico, der parallel mit einer eifersüchtigen Freundin telefoniert, gelingt es nicht, sich auf Francesca einzulassen, weshalb sie kurzerhand entscheidet, doch in die Schule zu gehen...



Im Gegensatz zu berühmten und ausgezeichneten Werken des Neorealismus wie "Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt, 1945) von Roberto Rossellini oder "Sciuscia" (Schuhputzer, 1946) von Vittorio De Sica, ist Alberto Lattuadas ebenfalls unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs entstandener Film "Il bandito" (Der Bandit, 1946) in Vergessenheit geraten. Schon in diesem, einem seiner ersten Filme, wurde der Stilwillen des studierten Architekten deutlich, der ein Heimkehrer-Drama mit einer Film-Noir-Story verband. Als der aus dem Gefangenenlager entlassene Soldat vor seinem von Bomben zerstörten Elternhaus steht, erfasst die Kamera diesen Moment mit einer 360 Grad Fahrt, unterlegt von Jazz-Musik. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, die in der frühen Phase des Neorealismus versuchten, die Realität möglichst ungeschönt einzufangen, war für Lattuada die Ästhetik in der Bildsprache immer ein wesentliches Kriterium.

In "I dolci inganni" (Süße Begierde) war sein Stil schon zur Perfektion gereift. Ähnlich wie Michelangelo Antonioni in "La notte" (Die Nacht, 1961) Mailand darstellte, ist Rom hier eine Stadt ohne Verfall und Armut. Doch während Antonioni mit seinen bis ins Detail komponierten Bildern die Kälte der modernen Sozialisation versinnbildlichen wollte, nutzte Lattuada den Hintergrund aus historischen Gebäuden und zeitgenössischer Architektur für die Schilderung eines Tages einer 17jährigen aus reichem Elternhaus. Nicht nur der Außenraum in Rom vermittelt ein Leben allererster Güte, auch Kleidung, Accessoires und die Zugehörigkeit zu Personen aus gesellschaftlich hochstehenden Kreisen sind selbstverständlich. Allein die Autos erfüllen den Anspruch an einen Concours, abgesehen davon, dass jeder junge Erwachsene über ein eigenes schickes Cabriolet zu verfügen scheint. Entsprechend ist die zentrale Szene des Films eine minutenlang gefilmte Sequenz, in der eine Gruppe junger Menschen in ihren offenen Fahrzeugen von Rom aufs Land fahren – während die langen Haare der Mädchen im Wind flattern, überholen sich übermütige junge Männer gegenseitig.

Mit der Realität des italienischen Alltags haben diese Szenen wenig gemeinsam, aber das täuscht, denn Lattuada benötigte diese ästhetische Optik, um sich einem Lieblingsthema nähern zu können – der Sexualität. Schon in seiner Episode „Gli Italiani si voltano“ in „L’amore in città“ (Liebe in der Stadt, 1953) beobachtete er den schönen weiblichen Körper, genauso wie die sich daraus ergebenden Reaktionen der Männer, in „La spiaggia“ (Der Skandal, 1954) konfrontierte Lattuada sein Publikum mit der Geschichte über eine ehemalige Prostituierte, deren Vorleben an ihrem Urlaubsort bekannt wird, und in „Guendalina“ (1957) inszenierte er mit der damals 17jährigen Jacqueline Sassard erstmals eine sehr junge Darstellerin, was ihn zum „Entdecker junger Mädchenblüte“ (Corriere della sera) werden ließ, einem wenig vorteilhaften Ruf, den er sich bis zu einem seiner letzten Filme „Cosi come sei“ (Bleib wie du bist, 1978), mit dem er die damals 17jährige Nastassja Kinski international bekannt werden ließ, bewahrte. In „I dolci inganni“ wurde seine Vorliebe für sehr junge Darstellerinnen zum Anlass für einen veritablen Skandal, nicht nur weil die Hauptdarstellerin Catherine Spaak damals erst 15 Jahre alt war, sondern weil Lattuada seinen Film offensiv sexuell gestaltete.

Allein die ersten Minuten, in denen die Kamera die erwachende Francesca (Catherine Spaak) genau beobachtet, ihren verklärten und gleichzeitig verwirrten Gesichtsausdruck dokumentiert, ihren Körper umschmeichelt, ihre Selbstberührungen zeigt - dabei ihre Brüste durchschimmern lassend - bis sie sich räkelnd in ihrem knappen Pyjama erhebt, erfüllten jede schwülstige Männerfantasie, hätte Lattuada diese Szene nicht gleichzeitig in seiner klaren, ästhetischen Bildsprache inszeniert. Äußerlich beginnt damit der Tag, an dem sie ihre Sexualität entdeckt - von dem deutschen Filmtitel „Süße Begierde“ zusätzlich noch betont - inhaltlich aber geht es um Selbstständigkeit und Befreiung, im weiteren Sinn um weibliche Emanzipation. „I dolci inganni“ bezeichnet wörtlich „die süßen Betrüger“ und vermittelt damit ein Verhalten, dass sich den Erwartungshaltungen an die weibliche Rolle entzieht. 

Diese Intention des Films wird erst durch den zeitlichen Kontext offensichtlich, denn Alberto Lattuada verband mit der Sexualität eine anti-bürgerliche Haltung, mit der er die italienische Nachkriegsgesellschaft provozierte und Ärger mit der Zensur bekam. Dabei wirken seine Filme, trotz der genauen Beobachtung des weiblichen Körpers, nicht voyeuristisch, sondern vermitteln seine generelle Suche nach Schönheit. Mit dieser Haltung stand er nicht allein, wie an einer Vielzahl an Parallelen erkennbar wird. Jacqueline Sassard drehte 1957 parallel zu „Guendalina“ auch einen Film („Nata di marzo“) mit Antonio Pietrangeli, der für seine Inszenierungen großartiger Frauenrollen später bekannt wurde. Dort spielte sie ebenfalls ein Mädchen namens Francesca, ein Name der kaum zufällig wiederholt für diesen Rollentypus verwendet wurde. Nicht nur Catherine Spaak spielte unter diesem Namen in „La voglia matta“ (Lockende Unschuld, 1962) erneut eine lolitahafte Verführerin, auch Nastassja Kinski hieß so in „Cosi come sei“. Zudem hatte Valerio Zurlini das Drehbuch zu „Guendalina“ geschrieben und besetzte Jacqueline Sassard als weibliche Nebenrolle in seinem folgenden Film „Estate violenta“ (Wilder Sommer, 1959), während Catherine Spaak in „La parmigiana“ (1963) unter Antonio Pietrangeli drehte. Doch keiner von ihnen spielte so offensichtlich mit der Erotik der jungen Frauen wie Alberto Lattuada.

Nachdem Francesca am Morgen aufgestanden war, verspürt sie wenig Lust in die Schule zu gehen, sondern begibt sich zu dem Stadthaus im Zentrum Roms, in dem Enrico (Christian Marquand) wohnt, der Mann von dem sie in der Nacht geträumt hatte. Der 20 Jahre ältere Architekt ist allerdings wenig aufmerksam, da er mit seiner offensichtlich eifersüchtigen Freundin telefoniert, weshalb Francesca sich doch entscheidet, noch zur Schule zu gehen. Die Story selbst ist wenig aufregend, sondern schildert einen Tagesablauf, der sie nach der Schule zu einer Freundin führt, bevor sie mit deren exaltierter Mutter (gespielt von der Sängerin Milly) einkaufen geht und in einem Palazzo landet, wo sie Zeuge der Beziehung zwischen der Principessa und ihrem Liebhaber aus einfachen Verhältnissen (Jean Sorel) wird. Später begleitet sie ihren Bruder bei dessen Teilnahme an der Ausfahrt aufs Land, bevor sie ihn überredet zu einem Restaurierungsobjekt zu fahren, wo sie erneut auf den Architekten Enrico trifft.

Es ist nicht die Story selbst, sondern die Nuancen im Verhalten untereinander, die den Film nicht altmodisch wirken lassen, obwohl die Konzentration auf die Sexualität heute nicht mehr als Provokation verstanden werden kann. Die Oberfläche eines luxuriösen Lebens wird dabei mehrfach gebrochen, ohne das Lattuada damit dramatisieren oder Kritik daran üben will. Viel mehr geht es um generelle Muster, die sich auf allen Ebenen abspielen und denen sich niemand entziehen kann.


Der am Morgen noch ignorante Enrico nimmt, nachdem diese ihm am Abend ihre Liebe offeriert hatte, die Position eines verantwortungsvollen Mannes ein, der ihre Beziehung gesellschaftlich legitimieren will. Dass es zum Sex zwischen ihnen kommt, liegt einzig an ihr. Er sprach im Gegenteil davon, noch ein Jahr bis zu ihrem 18. Geburtstag warten zu wollen – die Selbstverständlichkeit ihrer Jungfräulichkeit voraussetzend. Diese Wendung lässt ihn seine Verantwortung für sie noch aufgeregter betonen, während sie ganz entspannt, fast erwachsener als der ältere Mann wirkt. Sie ist keine „Femme fatale“ und sie verstößt ihn auch nicht, aber sie lässt ihr weiteres Handeln offen. Die Erfahrung der Sexualität hat sie befreit und Lattuada entlässt sie mit einem sanften Lächeln in ihrem Gesicht. Mit diesem selbstbewussten, unabhängigen Ende verstieß der Film gegen die damaligen moralischen und gesellschaftlichen Regeln, aber auch im Vergleich zu populären Filmen der Gegenwart wirkt er nicht nur wegen seiner Ästhetik immer noch modern. 

"I dolci inganni" Italien, Frankreich 1960, Regie: Alberto Lattuada, Drehbuch: Alberto Lattuada, Franco Brusati, Claude Brulé,  Darsteller : Catherine Spaak, Jean Sorel, Christian Marquand, Juanita Faust, Milly, Laufzeit : 95 Minuten

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