Donnerstag, 6. Dezember 2012

La grande bouffe (Das große Fressen) 1973 Marco Ferreri


Inhalt: Ugo (Ugo Tognazzi) schleift noch einmal seine Küchenmesser, die er zum Treffen mit seinen Freunden mitnehmen will, während seine Frau, mit er ein Restaurant in Paris führt, sich über seinen Eifer lustig macht. Michel (Michel Piccoli) übergibt seiner erwachsenen Tochter in dem Fernsehstudio, indem er arbeitet, seinen Wohnungsschlüssel, welchen sie gerne annimmt, während sie versucht, ihn dazu zu überreden, ihren Freund zu engagieren. Marcello (Marcello Mastroianni) kommandiert seine Stewardessen, einen Käseleib aus dem Flugzeug zu rollen, während er sich, gewohnt cool gekleidet, aus seinem Flugzeug begibt. Philip (Philip Noiret) wird um 10 Uhr vormittags von seiner Haushälterin geweckt. Sie, die ihn schon als Amme stillte, macht ihm Vorwürfe wegen seines geplanten Treffens, weil sie glaubt, er wollte Prostituierte dazu einladen. Sie will ihn davon abhalten und öffnet ihre Bluse, aber Philip beruhigt sie und erinnert sie daran, dass sie jetzt die Vollmacht zu seinen Konto besäße.

Nachdem er seine Freunde mit seinem Auto abgeholt hatte, fahren sie zusammen zu einer alten Villa, die sein Vater einmal für seine Mutter gekauft hatte, die dort aber nicht wohnen wollte, weil ihr die Einrichtung zu frivol war. Der alte Chauffeur der Familie hatte die Villa in den vergangenen Jahrzehnten betreut und hatte sie auch für die gemeinsamen Tage der Freunde vorbereitet. Nachdem auch die Anlieferung des Fleisches rechtzeitig eintrifft, beginnen die Männer sich in ihren Zimmern einzurichten und die Mahlzeiten zuzubereiten…

Die Basis

Bis in die Gegenwart ist der Skandal in Erinnerung geblieben, den "La grande bouffe" (Das große Fressen) 1973 auslöste, weshalb eine Beurteilung des Films, ohne den Zusammenhang zur damaligen Publikumsreaktion herzustellen, auch heute noch unmöglich zu sein scheint. Betrachtet man die Story und ihre Umsetzung zuerst einmal nach sachlichen Kriterien, lässt sich feststellen, dass Ausstattung, Bildsprache und Handlungselemente eine Einheit bilden. Der Rhythmus bleibt über die gesamte Laufzeit gleichmäßig, hebt keine Szene besonders hervor und bewahrt dank rechtzeitiger Schnitte immer genügend Abstand zum Betrachter. Auch die Kamera agiert nicht voyeuristisch, sondern beobachtet aus der Distanz und zieht, von Porträtaufnahmen abgesehen, immer das Umfeld mit ein.

Nur in der Einleitung werden die vier männlichen Protagonisten in ihrem alltäglichem Umfeld gezeigt, während die sonstige Handlung in einer alten Villa in einem Pariser Außenbezirk stattfindet. Diese, der Familie von Philip (Philip Noiret) gehörend, wurde viele Jahre zwar instand gehalten, aber nicht mehr genutzt, weshalb das Gebäude und sein Garten den Charakter vergangener Jahrzehnte ausstrahlen - herrschaftlich, kunstvoll, aber auch vom Verfall bedroht. Durch den sparsamen Einsatz von Licht erzeugt Regisseur Marco Ferreri innerhalb dieses Interieurs eine ruhige, melancholische Atmosphäre, fernab des Zeitgeistes und der hektischen Realität der Großstadt. Passend dazu bleibt die Musikbegleitung zurückhaltend, sich meist auf ein einfaches altes Lied beschränkend, dass von Michel (Michel Piccoli) auch direkt auf dem Klavier gespielt wird. Die vier Männer - neben Phillip und Michel noch Marcello (Marcello Mastroianni) und Ugo (Ugo Tognazzi) - integrieren sich trotz ihrer jeweiligen Individualität in diese Umgebung, unterstützt vom zurückhaltenden Spiel ihrer Darsteller, die trotz ihrer Präsenz keine Szene übertrieben an sich reißen. Nur Marcello wirkt manchmal wie ein Fremdkörper mit seiner ständigen Sucht nach Sex, aber auch er findet in dem alten Bugatti, den er in der Garage entdeckt, das geeignete Objekt, um sich zumindest zeitweise auf seine Umgebung einzulassen.

Auch nach ihrer Ankunft in der Villa, deutet wenig auf die zukünftigen Ereignisse hin, denn „La grande bouffe“ scheint von einem normalen Treffen unter Freunden zu erzählen, die es sich ein paar Tage gut gehen lassen wollen. Nur in der Einleitung werden kleinere private Konflikte angedeutet. Ugos Ehefrau, die mit ihm ein Restaurant führt, reagiert spöttisch auf seine Liebe zu seinen Küchenmessern, Michel, beim Fernsehen arbeitend, ist geschieden und hat eine verwöhnte Tochter, Marcello lebt sein Image als Pilot bei jungen Frauen aus, und Philipp, beruflich Richter, wird noch immer von seiner Amme betreut, die ihn nach dem frühen Tod seiner Mutter schon gestillt hatte. Dadurch gewinnt der Betrachter einen Einblick in ihren jeweiligen Charakter, ohne dass diese wenig tragischen Umstände näher betrachtet werden. Im Gegenteil verzichtet der Film auf Diskussionen zwischen den Freunden, sondern beschreibt eine harmonische, von intellektuellen Gesprächen erfüllte Konstellation. Diese schlüssig entwickelte Ausgangssituation ist von wesentlicher Bedeutung, denn Ferreri verweigert dem Betrachter damit einfache Erklärungen für das kommende Geschehen.


Der Skandal

Die Allgemeinheit bedurfte für ihre Empörung nur eines Cocktails aus Tabuverletzungen. Die Nacktheit der Frauen, besonders der üppig fleischigen Andréa Ferréol, die offen praktizierte Sexualität mit drei Prostituierten, die explizit dargestellte Völlerei, sowie Michels Blähungen und die Fäkalien, die von der defekten Toilette hochgespült werden, widersprachen den Sehgewohnheiten Anfang der 70er Jahre, speziell im seriösen Kino. Doch der Skandal konnte nur entstehen, weil diese stimmig integrierten, nie künstlich forcierten Szenen aus dem Zusammenhang gerissen wurden und nicht als notwendige Konfrontation mit dem bürgerlich, konservativen Habitus der vier Männer begriffen wurden. Obwohl diese Elemente seit langem Teil der modernen Komödienkultur geworden sind, werden sie auch heute noch als gewollt provokant missverstanden.

Diesem Urteil folgt auch der Vergleich zu einem weiteren Skandalfilm dieser Zeit, Pier Paolo Pasolinis „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ (Die 120 Tage von Sodom, 1975), dessen Sexual- und Gewaltszenen deutlich expliziter ausfielen. Beiden Filmen wird zugestanden, dass sie eine verständliche Intention verfolgten – Pasolini dekonstruierte die menschenverachtende Ideologie des Faschismus, Ferreri vermittelte die zerstörerische Wirkung eines Hedonismus, der sein persönliches Glück im sich stetig steigernden Konsum sucht – aber beiden Filmen wird gleichzeitig vorgeworfen, mit ihren extremen Darstellungen zugunsten eines erzeugten Skandals von diesen Intentionen abzulenken. Abgesehen davon, dass beiden Filmen gemein ist, dass sie frühzeitig Themen aufgriffen, die bis heute aktuell geblieben sind, kann die Wahl ihrer inszenatorischen Mittel nur im Zeitkontext beurteilt werden.

Um bei „La grande bouffe“ zu bleiben, kann man an Ferreris zuvor erschienenem Film „Liza“ (Allein mit Giorgio, 1972) und dem 1976 gedrehten Film „L’ultima donna“ (Die letzte Frau) erkennen, dass sein kritischer Blick generell einer sich verändernden Sozialisation galt und nicht zuletzt den Auswirkungen auf das Verhältnis von Mann und Frau. Diese Folgen wurden, beeinflusst von einem stetig wachsenden Wohlstand, Anfang der 70er Jahre nur von Wenigen erkannt. Die vier männlichen Protagonisten im Alter von 40 bis 50 Jahren gehörten zum damaligen bürgerlichen Establishment, wenn auch auf Grund unterschiedlicher Voraussetzungen. Ugo verkörpert den italienischen Einwanderer aus einfachen Verhältnissen, Phillip stammt aus dem wohlhabenden Großbürgertum, Michel hat einen gut bezahlten künstlerischen Beruf und Marcello als Pilot zur damaligen Zeit einen Traum-Job. Jeder ist auf seine Weise gut ausgebildet und fähig. Keiner von ihnen ist einer linksgerichteten politischen Meinung verdächtig.

An exaltierte Typen, die in Filmen verrückte Dinge machten, war man schon gewöhnt, nicht aber an Männer, die aus der Mitte der Gesellschaft stammten. Männer, die nicht zufällig bei einer dekadenten Feier umkommen, sondern beabsichtigen, an übermäßigem Konsum zu sterben. Nur Andrea war nicht eingeplant, passt sich ihrer Situation aber schnell an und begleitet sie auf ihrem Weg. Es ist kein Weg des einfachen Suizids - weder eine Verzweiflungstat, noch ein politisches Statement – es ist die freie Entscheidung, nicht mehr wie bisher weiter machen zu wollen, ohne das sie diese Absicht äußern. Die drei Prostituierten vertreten die Stimme des Volkes, wenn sie diese Art der Selbstzerstörung als verrückt bezeichnen. Vier gesunde Männer in den besten Jahren, gesellschaftlich angesehen und wohlhabend, wollen freiwillig aus dem Leben treten. Um das überzeugend zu inszenieren, musste Ferreri sie mit aller Wucht auf die irdischste aller Formen abtreten lassen – beim Scheißen, beim Sex und beim Fressen.


Der Abschied

Wie wenig plakativ der Film trotz dieser äußerlichen Extreme angelegt ist, wird an der Figur des Marcello deutlich. Nur er thematisiert ihren Plan, sich durch Fressen töten zu wollen, und nur er versucht sich diesem zu entziehen. Die Anwesenheit der drei Prostituierten basiert auf seinem Wunsch nach Ablenkung, da er nicht in der Lage ist, sich auf die selbst gewählte Klausur einzulassen. Marcellos Anwesenheit lässt sich nur mit seiner Freundschaft zu Michel erklären, denn er lebt das moderne Leben mit allen seinen hedonistischen Vorzügen, ohne es in Frage zu stellen. Damit wirkt er normaler, verständlicher in seinen Reaktionen als seine Freunde, auch wenn er anstatt an der Ballettstange zu trainieren oder Nacktfotos der letzten Jahrhundertwende zu bewundern, den Bugatti repariert. Gleichzeitig ist er es, der die Exzesse erst auslöst, denn trotz der Absicht, sich zu Tode fressen zu wollen, lag den Männern jede Exaltiertheit fern.

Ugo, Michel und besonders Philip, dem die Anwesenheit der Prostituierten, besonders als Andrea ihrer Einladung zum Abendessen folgt, peinlich ist, achten auf tadellose Umgangsformen und nehmen ihre aufwändig vorbereiteten Mahlzeiten nur im gesellschaftlich angemessenen Rahmen ein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Verzicht auf Drogen oder übermäßigen Alkoholkonsum, normalerweise signifikante Bestandteile von exzessiven Feiern, da ihre Intention nie im Vergessen oder Verdrängen liegt. Nur Marcello bricht die Regeln, benimmt sich bei den Mahlzeiten daneben und wird von seiner Sexsucht diktiert. Erst als Andrea, deren Intentionen nie thematisiert werden, sich souverän und gegenüber Philip offen zeigt – dank ihrer üppigen Figur erinnert sie ihn an seine Amme – beginnen auch die anderen Männer sich zu öffnen und auszuleben. Doch ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren.

Nur Marcello, nachdem sich die Prostituierten angewidert entfernt hatten, und sich der körperliche Zustand der Männer zunehmend verschlechtert, will nicht mehr mitmachen, sondern zurückkehren in sein ablenkungsreiches Leben als Pilot und Liebling der Frauen. Dass Ferreri ihn einen kalten Tod sterben lässt, kann man nur als Strafe interpretieren, wie Michels bittere Tränen, die er beim Anblick des Freundes vergießt, weniger dem Tod an sich als dessen unwürdiger Art zu Sterben gelten. Denn „La grande bouffe“ ist ein emotionaler, melancholischer Film voller Anteilnahme und Freundschaft, weshalb die häufig geäußerte These, der Tod der vier Männer bliebe unbeachtet, geschehe quasi nebenbei, schlicht falsch ist. Außer Marcello sterben sie selbst bestimmt, bis zu ihrem letzten Moment von ihren Freunden begleitet. Philip, als Einziger noch übrig, glaubt noch, seine Freunde im Stich gelassen zu haben. Wenn Andrea ihm den Pudding in der Form zweier Frauenbrüste reicht, an deren Verzehr er an ihrer Schulter lehnend stirbt, dann ist das ein Akt der Liebe. Und wenn sie am Ende das neu angelieferte Fleisch spielerisch im Garten verteilen lässt, dann macht sie es damit zu einem reinen Konsumgut, drückt aber auch ihre Freude darüber aus, dass es nicht mehr gebraucht wird.

Es sagt viel über die Stärke der Geschlechter aus, dass vier Männer hier den Tod finden, während eine Frau ihnen dabei hilft, aber es sind nicht sie, denen am Ende die Trauer gelten sollte – es sind die Überlebenden, die wie bisher weiter machen.

"La grande bouffe" Italien, Frankreich 1973, Regie: Marco Ferreri, Drehbuch: Marco Ferreri, Rafael Azcona, Darsteller : Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Ugo Tognazzi, Philip Noiret, Andréa Ferréol, Laufzeit : 130 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Marco Ferreri:

"L'ultima donna" (1976)

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