Nachdem er
seine Freunde mit seinem Auto abgeholt hatte, fahren sie zusammen zu einer
alten Villa, die sein Vater einmal für seine Mutter gekauft hatte, die dort
aber nicht wohnen wollte, weil ihr die Einrichtung zu frivol war. Der alte
Chauffeur der Familie hatte die Villa in den vergangenen Jahrzehnten betreut
und hatte sie auch für die gemeinsamen Tage der Freunde vorbereitet. Nachdem
auch die Anlieferung des Fleisches rechtzeitig eintrifft, beginnen die Männer
sich in ihren Zimmern einzurichten und die Mahlzeiten zuzubereiten…
Die Basis
Bis in die
Gegenwart ist der Skandal in Erinnerung geblieben, den "La grande
bouffe" (Das große Fressen) 1973 auslöste, weshalb eine Beurteilung des
Films, ohne den Zusammenhang zur damaligen Publikumsreaktion herzustellen, auch
heute noch unmöglich zu sein scheint. Betrachtet man die Story und ihre
Umsetzung zuerst einmal nach sachlichen Kriterien, lässt sich feststellen, dass
Ausstattung, Bildsprache und Handlungselemente eine Einheit bilden. Der
Rhythmus bleibt über die gesamte Laufzeit gleichmäßig, hebt keine Szene besonders hervor und bewahrt dank rechtzeitiger Schnitte immer genügend Abstand zum
Betrachter. Auch die Kamera agiert nicht voyeuristisch, sondern beobachtet aus
der Distanz und zieht, von Porträtaufnahmen abgesehen, immer das Umfeld mit ein.
Nur in der
Einleitung werden die vier männlichen Protagonisten in ihrem alltäglichem
Umfeld gezeigt, während die sonstige Handlung in einer alten Villa in einem
Pariser Außenbezirk stattfindet. Diese, der Familie von Philip (Philip Noiret)
gehörend, wurde viele Jahre zwar instand gehalten, aber nicht mehr genutzt,
weshalb das Gebäude und sein Garten den Charakter vergangener Jahrzehnte
ausstrahlen - herrschaftlich, kunstvoll, aber auch vom Verfall bedroht. Durch
den sparsamen Einsatz von Licht erzeugt Regisseur Marco Ferreri innerhalb
dieses Interieurs eine ruhige, melancholische Atmosphäre, fernab des
Zeitgeistes und der hektischen Realität der Großstadt. Passend dazu bleibt die
Musikbegleitung zurückhaltend, sich meist auf ein einfaches altes Lied
beschränkend, dass von Michel (Michel Piccoli) auch direkt auf dem Klavier
gespielt wird. Die vier Männer - neben Phillip und Michel noch Marcello
(Marcello Mastroianni) und Ugo (Ugo Tognazzi) - integrieren sich trotz ihrer
jeweiligen Individualität in diese Umgebung, unterstützt vom zurückhaltenden
Spiel ihrer Darsteller, die trotz ihrer Präsenz keine Szene übertrieben an sich
reißen. Nur Marcello wirkt manchmal wie ein Fremdkörper mit seiner ständigen
Sucht nach Sex, aber auch er findet in dem alten Bugatti, den er in der Garage
entdeckt, das geeignete Objekt, um sich zumindest zeitweise auf seine Umgebung
einzulassen.
Auch nach
ihrer Ankunft in der Villa, deutet wenig auf die zukünftigen Ereignisse hin, denn „La
grande bouffe“ scheint von einem normalen Treffen unter Freunden zu erzählen, die
es sich ein paar Tage gut gehen lassen wollen. Nur in der Einleitung werden kleinere
private Konflikte angedeutet. Ugos Ehefrau, die mit ihm ein Restaurant führt, reagiert
spöttisch auf seine Liebe zu seinen Küchenmessern, Michel, beim Fernsehen
arbeitend, ist geschieden und hat eine verwöhnte Tochter, Marcello lebt sein
Image als Pilot bei jungen Frauen aus, und Philipp, beruflich Richter, wird
noch immer von seiner Amme betreut, die ihn nach dem frühen Tod seiner Mutter
schon gestillt hatte. Dadurch gewinnt der Betrachter einen Einblick in ihren
jeweiligen Charakter, ohne dass diese wenig tragischen Umstände näher betrachtet
werden. Im Gegenteil verzichtet der Film auf Diskussionen zwischen den
Freunden, sondern beschreibt eine harmonische, von intellektuellen Gesprächen
erfüllte Konstellation. Diese schlüssig entwickelte Ausgangssituation ist von
wesentlicher Bedeutung, denn Ferreri verweigert dem Betrachter damit einfache
Erklärungen für das kommende Geschehen.
Der Skandal
Die
Allgemeinheit bedurfte für ihre Empörung nur eines Cocktails aus
Tabuverletzungen. Die Nacktheit der Frauen, besonders der üppig fleischigen
Andréa Ferréol, die offen praktizierte Sexualität mit drei Prostituierten, die
explizit dargestellte Völlerei, sowie Michels Blähungen und die Fäkalien, die
von der defekten Toilette hochgespült werden, widersprachen den Sehgewohnheiten
Anfang der 70er Jahre, speziell im seriösen Kino. Doch der Skandal konnte nur
entstehen, weil diese stimmig integrierten, nie künstlich forcierten Szenen aus
dem Zusammenhang gerissen wurden und nicht als notwendige Konfrontation mit dem
bürgerlich, konservativen Habitus der vier Männer begriffen wurden. Obwohl diese
Elemente seit langem Teil der modernen Komödienkultur geworden sind, werden sie
auch heute noch als gewollt provokant missverstanden.
Diesem
Urteil folgt auch der Vergleich zu einem weiteren Skandalfilm dieser Zeit, Pier
Paolo Pasolinis „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ (Die 120 Tage von Sodom,
1975), dessen Sexual- und Gewaltszenen deutlich expliziter ausfielen. Beiden
Filmen wird zugestanden, dass sie eine verständliche Intention verfolgten –
Pasolini dekonstruierte die menschenverachtende Ideologie des Faschismus,
Ferreri vermittelte die zerstörerische Wirkung eines Hedonismus, der sein
persönliches Glück im sich stetig steigernden Konsum sucht – aber beiden Filmen
wird gleichzeitig vorgeworfen, mit ihren extremen Darstellungen zugunsten eines
erzeugten Skandals von diesen Intentionen abzulenken. Abgesehen davon, dass
beiden Filmen gemein ist, dass sie frühzeitig Themen aufgriffen, die bis heute
aktuell geblieben sind, kann die Wahl ihrer inszenatorischen Mittel nur im Zeitkontext
beurteilt werden.
Um bei „La grande
bouffe“ zu bleiben, kann man an Ferreris zuvor erschienenem Film „Liza“ (Allein
mit Giorgio, 1972) und dem 1976 gedrehten Film „L’ultima donna“ (Die letzte
Frau) erkennen, dass sein kritischer Blick generell einer sich verändernden
Sozialisation galt und nicht zuletzt den Auswirkungen auf das Verhältnis von
Mann und Frau. Diese Folgen wurden, beeinflusst von einem stetig wachsenden
Wohlstand, Anfang der 70er Jahre nur von Wenigen erkannt. Die vier männlichen
Protagonisten im Alter von 40 bis 50 Jahren gehörten zum damaligen bürgerlichen
Establishment, wenn auch auf Grund unterschiedlicher Voraussetzungen. Ugo
verkörpert den italienischen Einwanderer aus einfachen Verhältnissen, Phillip
stammt aus dem wohlhabenden Großbürgertum, Michel hat einen gut bezahlten
künstlerischen Beruf und Marcello als Pilot zur damaligen Zeit einen Traum-Job.
Jeder ist auf seine Weise gut ausgebildet und fähig. Keiner von ihnen ist einer
linksgerichteten politischen Meinung verdächtig.
An
exaltierte Typen, die in Filmen verrückte Dinge machten, war man schon gewöhnt,
nicht aber an Männer, die aus der Mitte der Gesellschaft stammten. Männer, die
nicht zufällig bei einer dekadenten Feier umkommen, sondern beabsichtigen, an
übermäßigem Konsum zu sterben. Nur Andrea war nicht eingeplant, passt sich
ihrer Situation aber schnell an und begleitet sie auf ihrem Weg. Es ist kein
Weg des einfachen Suizids - weder eine Verzweiflungstat, noch ein politisches
Statement – es ist die freie Entscheidung, nicht mehr wie bisher weiter machen
zu wollen, ohne das sie diese Absicht äußern. Die drei Prostituierten vertreten
die Stimme des Volkes, wenn sie diese Art der Selbstzerstörung als verrückt bezeichnen.
Vier gesunde Männer in den besten Jahren, gesellschaftlich angesehen und
wohlhabend, wollen freiwillig aus dem Leben treten. Um das überzeugend zu
inszenieren, musste Ferreri sie mit aller Wucht auf die irdischste aller Formen
abtreten lassen – beim Scheißen, beim Sex und beim Fressen.
Der
Abschied
Wie wenig
plakativ der Film trotz dieser äußerlichen Extreme angelegt ist, wird an der Figur
des Marcello deutlich. Nur er thematisiert ihren Plan, sich durch Fressen töten
zu wollen, und nur er versucht sich diesem zu entziehen. Die Anwesenheit der
drei Prostituierten basiert auf seinem Wunsch nach Ablenkung, da er nicht in
der Lage ist, sich auf die selbst gewählte Klausur einzulassen. Marcellos
Anwesenheit lässt sich nur mit seiner Freundschaft zu Michel erklären, denn er
lebt das moderne Leben mit allen seinen hedonistischen Vorzügen, ohne es in
Frage zu stellen. Damit wirkt er normaler, verständlicher in seinen Reaktionen
als seine Freunde, auch wenn er anstatt an der Ballettstange zu trainieren oder
Nacktfotos der letzten Jahrhundertwende zu bewundern, den Bugatti repariert.
Gleichzeitig ist er es, der die Exzesse erst auslöst, denn trotz der Absicht,
sich zu Tode fressen zu wollen, lag den Männern jede Exaltiertheit fern.
Ugo, Michel
und besonders Philip, dem die Anwesenheit der Prostituierten, besonders als
Andrea ihrer Einladung zum Abendessen folgt, peinlich ist, achten auf tadellose
Umgangsformen und nehmen ihre aufwändig vorbereiteten Mahlzeiten nur im
gesellschaftlich angemessenen Rahmen ein. Bemerkenswert ist in diesem
Zusammenhang auch der Verzicht auf Drogen oder übermäßigen Alkoholkonsum,
normalerweise signifikante Bestandteile von exzessiven Feiern, da ihre
Intention nie im Vergessen oder Verdrängen liegt. Nur Marcello bricht die
Regeln, benimmt sich bei den Mahlzeiten daneben und wird von seiner Sexsucht
diktiert. Erst als Andrea, deren Intentionen nie thematisiert werden, sich
souverän und gegenüber Philip offen zeigt – dank ihrer üppigen Figur erinnert
sie ihn an seine Amme – beginnen auch die anderen Männer sich zu öffnen und
auszuleben. Doch ohne dabei ihr Ziel aus den Augen zu verlieren.
Nur
Marcello, nachdem sich die Prostituierten angewidert entfernt hatten, und sich
der körperliche Zustand der Männer zunehmend verschlechtert, will nicht mehr
mitmachen, sondern zurückkehren in sein ablenkungsreiches Leben als Pilot und
Liebling der Frauen. Dass Ferreri ihn einen kalten Tod sterben lässt, kann man
nur als Strafe interpretieren, wie Michels bittere Tränen, die er beim Anblick
des Freundes vergießt, weniger dem Tod an sich als dessen unwürdiger Art zu
Sterben gelten. Denn „La grande bouffe“ ist ein emotionaler, melancholischer Film
voller Anteilnahme und Freundschaft, weshalb die häufig geäußerte These, der
Tod der vier Männer bliebe unbeachtet, geschehe quasi nebenbei, schlicht falsch
ist. Außer Marcello sterben sie selbst bestimmt, bis zu ihrem letzten Moment
von ihren Freunden begleitet. Philip, als Einziger noch übrig, glaubt noch, seine
Freunde im Stich gelassen zu haben. Wenn Andrea ihm den Pudding in der Form
zweier Frauenbrüste reicht, an deren Verzehr er an ihrer Schulter lehnend
stirbt, dann ist das ein Akt der Liebe. Und wenn sie am Ende das neu
angelieferte Fleisch spielerisch im Garten verteilen lässt, dann macht sie es damit zu einem reinen Konsumgut, drückt aber auch ihre Freude darüber aus,
dass es nicht mehr gebraucht wird.
Es sagt
viel über die Stärke der Geschlechter aus, dass vier Männer hier den Tod
finden, während eine Frau ihnen dabei hilft, aber es sind nicht sie, denen am
Ende die Trauer gelten sollte – es sind die Überlebenden, die wie bisher weiter
machen.
"La grande bouffe" Italien, Frankreich 1973, Regie: Marco Ferreri, Drehbuch: Marco Ferreri, Rafael Azcona, Darsteller : Marcello Mastroianni, Michel Piccoli, Ugo Tognazzi, Philip Noiret, Andréa Ferréol, Laufzeit : 130 Minuten
weitere im Blog besprochene Filme von Marco Ferreri:
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