Freitag, 28. September 2012

Il trucido e lo sbirro (Das Schlitzohr und der Bulle) 1976 Umberto Lenzi


Inhalt: Als sich Sergio Marazzi (Tomas Milian) während der Vorführung eines Italo-Western im Gefängnis kurz verdrücken will, wird er niedergeschlagen und zu seiner Überraschung befreit. Doch sein Entführer, Antonio Sarti (Claudio Cassenelli), verfolgt damit eigennützige Ziele, denn der Polizist glaubt nur mit der Hilfe Marazzis, der sich gut in den kriminellen Kreisen Roms auskennt, an Brescianelli (Henry Silva) heranzukommen, dessen Bande ein krankes Mädchen entführt hat, das dringend ärztliche Hilfe benötigt.

Brescianelli hatte sich zudem einer Gesichtsoperation unterzogen, so dass ihn nur noch wenige Vertraute erkennen können. Um in diesen inneren Kreis vorstoßen zu können, brauchen sie zusätzlich Verstärkung von drei weiteren Verbrechern, die bei einem Zugüberfall von der Polizei gestört und beinahe erwischt werden. Marazzi und Sarti, die diese Situation eingefädelt haben, behaupten, Brescianelli hätte sie verpfiffen, um sie dazu zu bringen, gemeinsam an diesem Rache zu üben. Das Sarti Polizist ist, ahnen sie nicht… 

Tomas Milian spielte Mitte der 70er Jahre in einigen Filmen sehr expressive und verhaltensauffällige Typen, deren Erfolg dazu führte, das er diese Rollen noch mehrfach wiederholte - selbst wenn er am Ende von der Polizei niedergestreckt wurde, wie in "Roma a mano armata" (Die Viper, 1976), den er kurz vor "Il trucido e lo sbirro" (Das Schlitzohr und der Bulle) ebenfalls unter der Regie von Umberto Lenzi drehte. Der darin von ihm verkörperte hinterhältige Bösewicht Vincenzo Moretti, genannt "Il Gobbo" (Der Bucklige), war in seiner kranken Psyche schon eine Variante des Verbrechertypen aus der ersten Zusammenarbeit von Lenzi und Milian in "Milano odia: la polizia non può sparare" (Der Berserker, 1974) und führte in "La banda del gobbo" (Die Kröte, 1978) zu einem erneuten Erscheinen des abgefeimten Buckligen, wieder gemeinsam mit Umberto Lenzi. 

Auf Grund des tödlichen Ausgangs bei seinem letzten Auftreten, nahm Vincenzo Moretti in „La banda del gobbo“ gezwungenermaßen einen veränderten Familiennamen an, der aber trotzdem vertraut klang - Vincenzo Marazzi. Einen Typen namens Marazzi hatte Milian zuvor schon zweimal gespielt, allerdings Sergio Marazzi, genannt "Monnezza", womit es in "La banda del gobbo" zu einer Familienzusammenführung der Marazzi - Brüder per Doppelrolle kam. Da Milian zeitgleich auch mit der Interpretation des Polizisten Nico Giraldi begann, allerdings unter der Regie von Bruno Corbucci ("Squadra antiscippo" (Der Superbulle mit der Strickmütze, 1976)), wirkt das Chaos aus heutiger Sicht perfekt, besonders da in den deutschen Titeln - Rollen übergreifend - mit den originellen Bezeichnungen "Bulle" und „Schlitzohr“ um sich geschmissen wurde.
 
Zudem ist eine äußere Ähnlichkeit der drei Typen nicht zu leugnen, die sich durch einen ausgeprägten Nonkonformismus auszeichnen. Tatsächlich sollen sie aber ganz unterschiedliche Charaktere verkörpern. Während der „Bucklige“ richtig böse sein darf, steht der langlebige "Superbulle" Nico Giraldi trotz seiner ungewöhnlichen Methoden auf der richtigen Seite des Gesetzes. Dagegen nimmt Sergio Marazzi, den Milian in "Il trucido e lo sbirro" zum ersten Mal spielte, eine weniger eindeutige Position ein. Einerseits kriminell und einem schnellen Geschäft nie abgeneigt, hat er sein Herz doch auf dem rechten Fleck. Deshalb entführt ihn der Polizist Antonio Sarti (Claudio Cassinelli) aus dem Gefängnis, denn er braucht Marazzi, um an den skrupellosen Verbrecher Brescianelli (Henry Silva) heranzukommen, der ein Mädchen entführt hat, das dringend ärztliche Hilfe benötigt, damit es nicht stirbt.

Damit sind die jeweiligen Positionen der drei Protagonisten festgelegt. Henry Silva, ebenfalls von Umberto Lenzi in unterschiedlichen Rollen eingesetzt („L’uomo della strada fa giustizia“, 1975), darf diesmal den fiesen Charakter übernehmen, der Polizist Sarti verkörpert den „Bullen“ (Lo sbirro) und Milian ist das „Schlitzohr“, dessen Hang zur Kriminalität ausnahmsweise der guten Sache dienen soll. Im Original bezeichnet „Il trucido“ einen grausamen Schlächter, woran deutlich wird, dass Milians Rolle im italienischen Filmtitel gar nicht erwähnt wird, sondern die von Silva gespielte Rolle des Entführers und Gangsterbosses Brescianelli. Das trifft den Kern des Films genau, denn Marazzis Position zwischen diesen Polen lässt sich nie festlegen, genauso wie sich die Ziele seiner außergewöhnlichen Wege weder dem Zuschauer, noch den Protagonisten im Film sofort erschließen.

In diesem Zusammenhang sollte der deutsche Titel „Das Schlitzohr und der Bulle“ wahrscheinlich einen komödiantischen Charakter vermitteln, über den Lenzis Film im Original eher hintergründig verfügt. Marazzis Methoden und Umgangsformen wirken äußerlich zwar ein wenig verrückt, sind letztlich aber effektiver und zielführender, als die Aktionismen des „Bullen“. Lenzi entwirft als Grundlage erneut das Kaleidoskop einer durch und durch verkommenen Sozialisation, in der Entführung, Mord und Korruption auf allen Ebenen an der Tagesordnung sind, womit er den Zeitgeist in Italien Mitte der 70er Jahre genau traf. Das sich Marazzi und Sarti mit drei Schwerverbrechern verbünden müssen, um den Fall lösen zu können - dabei weitere Verbrechen in Kauf nehmend - ist bei Lenzi weder eine raffinierte Vorgehensweise, noch eine Aufforderung, das Gesetz in eigene Hände zu nehmen, sondern Zeichen einer tief greifenden Amoralität in der italienischen Gesellschaft.

Keine Politiker oder sonstige hohe Würdenträger vertreten in "Il trucido e lo sbirro" Anstand und Gesetz, sondern ein leicht irrer Kleinkrimineller, der äußerlich als Bürgerschreck daher kommt. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, so wie Lenzis Film sich mit gewohnt hohem Tempo seinen Weg durch diverse Action-Sequenzen bahnt. Doch dahinter verbirgt sich ein moralischer Anspruch, der weniger im äußerlich plakativen Geschehen, als zwischen den Zeilen zu finden ist.

"Il trucido e lo sbirro" Italien 1976, Regie: Umberto Lenzi, Drehbuch: Umberto Lenzi, Dardano Sacchetti, Darsteller : Tomas Milian, Claudio Cassinelli, Henry Silva, Claudio Undari, Nicoletta Machiavelli, Laufzeit : 91 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Umberto Lenzi:
"L'uomo della strada fa giustizia" (1975)
"Roma a mano armata" (1976)
"La banda del gobbo" (1978)
"Incubo sulla città contaminata" (1980)

Freitag, 21. September 2012

The day of the Jackal (Der Schakal) 1973 Fred Zinnemann


Inhalt: Die Geheimorganisation OAS gründete sich, nachdem der französische Staatspräsident Charles De Gaulle 1962 einer Unabhängigkeit Algeriens zugestimmt hatte. Die OAS bestand aus Soldaten, die in Algerien gekämpft hatten, und mit der Loslösung Algeriens vom französischen Staat nicht einverstanden waren. Nachdem vier hohe Offiziere der OAS vergeblich in Algerien geputscht hatten, richtete sich ihr Kampf gegen De Gaulle, den sie als Verräter an der gemeinsamen Sache empfanden.

Unter der Leitung des Offiziers Bastien-Thiry (Jean Sorel) unternahmen sie einen Anschlag auf den französischen Staatspräsidenten, dem dieser nur knapp entkam, woraufhin Bastien-Thiry zum Tode verurteilt wurde. Davon aufgeschreckt, wurde der Führungsgruppe der OAS bewusst, das es zu viele Mitwisser und undichte Stellen in ihrer Organisation gab, weshalb sie sich entschlossen einen Profikiller zu engagieren, der von außerhalb kommen musste. Nur einem kleinen Kreis war der Mann bekannt, der unter dem Decknamen „Der Schakal“ (Edward Fox) begann, sich penibel auf das Attentat auf den bestens geschützten und wichtigen Staatsmann vorzubereiten…


Regisseur Fred Zinnemann wehrte sich damals vehement dagegen, dass das 1997 gedrehte Remake seines Films mit Bruce Willis in der Hauptrolle denselben Titel tragen sollte, woraufhin dieser auf "The jackal" gekürzt wurde. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum dieser Unterschied für ihn eine solche Bedeutung hatte?

Betrachtet man aktuelle Kritiken, wird „The day of the Jackal“ ausschließlich auf die Schilderung des Attentates reduziert, letztlich auch die einzige Parallele zum Remake. Während die detailliert beschriebene Vorgehensweise des Profi-Killers, sowie des ihn verfolgenden Kommissars, positiv beurteilt wird - trotz des im Vergleich zu aktuellen Filmen gemächlichen Tempos - wird dem Film ein darüber hinaus gehender Tiefgang abgesprochen (Lexikon des internationalen Films, 1997) und - noch deutlich absurder - bemängelt, es stände zuvor schon fest, das das hier gezeigte Attentat von 1963 scheitern würde. Die Zielperson, der französische Präsident Charles De Gaulle, starb bekanntlich erst 1970 eines natürlichen Todes.

Wie sehr der historische Kontext des Films aus dem Gedächtnis der Betrachter verschwunden sein musste, zeigte sich spätestens in der Gestaltung des Remakes, das ausschließlich auf die Action setzte. Entscheidend war weniger, das es sich bei der Zielperson des Killers und seiner Auftraggeber um eine weniger bedeutende politische Persönlichkeit handelte, sondern das Niemand mehr begriff, das Zinnemanns gesamter Film in seiner Entstehungszeit ein Politikum war. Sowohl Frederic Forsythes Romanvorlage, als auch die Verfilmung entstanden zu einem Zeitpunkt, in dem die Folgen des Algerienkrieges besonders in Frankreich in ihrer Wertung höchst umstritten waren. 
 

Charles De Gaulle hatte unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, aber auch der Mehrheit der französischen Bevölkerung, nach einem fast 8jährigen Krieg - wie er in Frankreich bis 1999 nicht offiziell genannt werden durfte - 1962 in eine Unabhängigkeit Algeriens eingewilligt, aber an der nationalistischen Haltung des ehemaligen hohen Offiziers der französischen Armee gab es keinen Zweifel. Das es ausgerechnet ehemalige Offiziere waren, die sich, vereinigt in der Geheimorganisation OAS, gegen ihn stellten, verdeutlicht die innere Zerrissenheit des Landes, besonders innerhalb der militärischen Führungsschicht. Zinnemann beginnt seinen Film mit dem von dem Offizier Bastien-Thiry (Jean Sorel) verantworteten Attentat auf De Gaulle im Jahr 1962, dem dieser nur knapp unverletzt entkam. Er lässt Bastien-Thiry kurz vor der Vollstreckung des gegen ihn ausgesprochenen Todesurteils sagen, das er nicht glaubt, dass Soldaten auf ihn schießen werden. Ein Irrtum, der aber deutlich macht, wie stark sich die OAS in ihrer Haltung von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt fühlte. 

Zinnemanns Film entstand entsprechend nicht nur nach einer englischsprachigen Vorlage, sondern auch dank englischer Produktionsgelder - eine solch ausgewogene Umsetzung, die auch die harschen Methoden des Polizeiapparates mit einschloss, wäre 1973, nur ein Jahrzehnt nach dem Ende des Konflikts, unter französischer Verantwortung nur schwer vorstellbar gewesen. Besonders im ersten Drittel des mehr als zweistündigen Films, bevor mit Kommissar Lebel (Michael Lonsdale) eine intelligente und in ihrer Sperrigkeit sympathische Figur auftritt, wenden die Verfolger dieselbe Methode gegen die Geheimorganisation an, die sie nur wenige Jahre zuvor noch gegen die algerischen Freiheitskämpfer richteten - die Folter.  

Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, besetzte Zinnemann mit Jean Martin den einzigen professionellen Darsteller in Gillo Pontecorvos Film "La Battaglia di Algeri" (Die Schlacht von Algier, 1966) prinzipiell in derselben Rolle. Hatte Martin dort den leitenden Offizier gespielt, der für die Niederschlagung der Freiheitsbewegung in Algier verantwortlich war, auch unter Anwendung von Folter, ist er als ehemaliger Offizier Wolinski in "The day of the jackal" Mitglied der OAS, zuständig für den Nachrichtenverkehr innerhalb der Organisation. Wegen dieser Funktion wird er von der französischen Polizei so lange gefoltert, bis er das Wort "Schakal" unter großen Schmerzen herauspresst, bevor er an den Folgen stirbt - der entscheidende Hinweis auf das geplante Attentat. 

Vor dem Beginn der Tortur erwähnt der für die "Befragung" zuständige Polizist gegenüber Wolinski, dieser wüsste doch dank eigener Erfahrungen in Indochina und Algerien, das am Ende Jeder redet. Mit der Besetzung Jean Martins, der wegen seiner klaren Haltung für die Unabhängigkeit Algeriens einige Zeit lang in Frankreich keine Rollen bekam, betonte Zinnemann nicht nur seine kritische Haltung gegenüber der Folter, sondern gegenüber einer Moral, die ihre Methoden nicht in Frage stellte, sondern sie auf Grund der geänderten politischen Situation gegen Menschen richtete, die diese selbst kurz zuvor noch im Namen des Staates durchführten. Weder die Bedeutung des Darstellers Jean Martin, noch dieser offensichtliche Zusammenhang zu Pontecorvos Film taucht in heutigen Betrachtungen zu "The day of the jackal" noch auf. 

Dagegen gilt es inzwischen als Fehler, die Hauptrolle des Profikillers mit dem damals eher unbekannten Edward Fox besetzt zu haben, selbst Fred Zinnemann soll sich entsprechend geäußert haben, als sein Film an der Kinokasse kein Erfolg wurde. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen mag diese Meinung richtig sein, für die innere Schlüssigkeit des Films war die Entscheidung für Fox richtig. Dieser besitzt genau die Mischung aus Charisma und Unauffälligkeit, um ihm sowohl den Killer, als auch den unscheinbaren Durchschnittstypen abzunehmen. Mit der heutigen Gestaltung eines Profikillers - wie etwa die Interpretation von Bruce Willis in dem Remake - hat das nur wenig gemeinsam, denn "der Schakal" agiert keineswegs immer kalkuliert und überlegen, sondern mehrfach kommt ihm auch der Zufall zu Hilfe, oft ohne sein Wissen. Auch seine äußerliche Emotionslosigkeit beruht nicht auf Coolness, sondern überdeckt seine innere Getriebenheit. Als er am Telefon erfährt, dass die Polizei von seinem geplanten Attentat erfahren hat und ihm auf der Spur ist, steht er an einer Straßengabelung kurz vor der Entscheidung, die Sache aufzugeben. Das er weiter macht, basiert nicht auf logischem Kalkül, sondern das er sich dem Sog dieses unglaublichen Vorhabens nicht mehr entziehen kann.  

Die Tragweite des Planes, Charles De Gaulle zu ermorden, lässt sich heute nur noch schwer vermitteln. Sie geht weit über die Beseitigung eines unliebsamen Politikers hinaus und basierte nicht einfach auf der verrückten Idee einer terroristischen Splittergruppe. Man kann davon ausgehen, das die Intentionen der OAS damals von vielen Franzosen geteilt wurden, auch innerhalb des Polizeiapparates. Aber ihr Versuch, ausgerechnet den konservativen Staatsführer zu beseitigen, den die Offiziere als Verräter an der ehemals gemeinsamen Sache betrachteten, beruhte auf einer Fehleinschätzung der Gesamtlage. Wie schmal der Grat trotzdem zwischen Sympathie und Ablehnung für den Plan der OAS war, wird daran deutlich, das Lebel den Profikiller erst in dem Moment öffentlich zur Fahndung ausschreibt, als dieser einen Mord begangen hatte. Erst ab diesem Zeitpunkt gerät er ins Visier der offiziellen Polizeiermittlung. 

Zinnemann gelingt es bis zum Schluss, eine Waage zu halten zwischen dem Gelingen und der Verhinderung des Attentates, auch verkörpert durch die beiden Protagonisten, die sich in ihrem einzelgängerischen, fanatisch fokussierten Charakter nicht unähnlich sind, weniger zum Zweck der Spannungserzeugnis, als zur Betonung, wie knapp Frankreich damals einer Staatskrise entkam, die die Ermordung De Gaulles unweigerlich nach sich gezogen hätte. Schon allein die Kenntnis von dem Plan der OAS hätte zu Unruhen in der Bevölkerung führen können, weshalb dieses Wissen mit dem Attentäter in einem anonymen Grab verschwindet. Nicht einmal dessen Nationalität wird bestätigt.

In „The day of the jackal“ gibt es eine Vielzahl von Story-Elementen, die in Genre verwandten Filmen später wieder verwendet wurden, aber in Zinnemanns Film hat jedes Detail eine Bedeutung im Gesamtkontext und legt keinen Wert auf äußerliche Effekte. Seine Spannung gewinnt der Film durch die Glaubwürdigkeit der Handelnden vor einer realistischen Atmosphäre politischer Spannungen. Nicht erstaunlich, das Zinnemann die Parallelen zu dem Remake von 1997 möglichst gering halten wollte.

"The day of the Jackal" England / Frankreich 1973, Regie: Fred Zinnemann, Drehbuch: Kenneth Ross, Frederic Forsythe (Roman), Darsteller : Edward Fox, Michael Lonsdale, Jean Martin, Cyril Cusack, Olga Georges - Picot, Jean Sorel, Laufzeit : 137 Minuten

Dienstag, 11. September 2012

La battaglia di Algeri (Schlacht um Algier) 1966 Gillo Pontecorvo


Inhalt: Algier, 1957 – nachdem sie einen Häftling durch Folter dazu gebracht hatten, das Versteck von Ali (Brahim Hadjadj), dem letzten noch übrig gebliebenen Kopf der Widerstandskämpfer der FLN, zu verraten, umstellt die französische Armee unter der Leitung von Colonel Mathieu (Jean Martin) das Gebäude in der Kasbah, dem algerischen Teil der Stadt. An der gefliesten Wand, hinter der sich Ali und seine letzten Kameraden befinden, wird Sprengstoff montiert, bevor Colonel Mathieu den in die Falle Geratenen eine letzte Frist gibt, freiwillig herauszukommen.

Alis Gedanken schweifen zurück in das Jahr 1954, als er, wieder einmal ins Gefängnis geworfen, dort Kontakt zur FLN bekam, die gerade dabei war, ihre Strukturen für den Kampf gegen die französische Besatzungsmacht in Algier zu organisieren. Nachdem er eine Vertrauensprüfung bestanden hatte, beginnt er innerhalb der Kasbah für Respekt bei den Bewohnern zu sorgen. Kollaborateure und gegen den muslimischen Glauben Handelnde werden gezielt bedroht und bei Widerstand exekutiert. Am 01.11.1954 beginnt mit Anschlägen auf französische Polizisten der bewaffnete Widerstand…


Als Gillo Pontecorvo 1965 "La battaglia di Algeri" (Schlacht um Algier) drehte, lag der 03.07.1962, der Tag der algerischen Unabhängigkeit, gerade einmal drei Jahre zurück. Angesichts von mehr als 130 Jahren französischer Besatzungszeit (seit 1875 offiziell dem Staatsgebiet Frankreichs angehörend), dem ab dem 01.11.1954 bis zur Anerkennung der Selbstständigkeit Algeriens durch Charles de Gaulle am 18.03.1962 (und dem am folgenden Tag eintretenden Waffenstillstand) andauernden Algerienkrieg, sowie einem gescheiterten Putschversuch französischer Generäle im April 1962, dem noch ein Anschlag auf den französischen Staatspräsidenten folgen sollte (von Fred Zinneman in "The day of the Jackal" (Der Schakal, 1973) verfilmt), ein verschwindend geringer Zeitraum.

Erst 1999 wurde der Begriff "Algerienkrieg" im offiziellen Sprachgebrauch Frankreichs zugelassen, woran deutlich wird, dass Pontecorvo seinen Film zu einem Zeitpunkt an Originalschauplätzen in Algier drehte, als nur äußerlich die neuen Grenzen gezogen worden waren - ein innerer Abstand oder gar friedliche Koexistenz, angesichts hunderttausender Opfer auf algerischer Seite (algerische Quellen sprechen von mehr als einer Million Getöteten), waren noch unmöglich.In Frankreich galt Algerien damals als legaler Bestandteil des Landes, das schon seit Generationen von Bürgern des Mutterlandes besiedelt worden war. Während dieser Phase veränderte sich auch Algier, das inzwischen aus zwei gegensätzlichen Teilen bestand - der Kasbah, in dem die muslimische Bevölkerung in ihren traditionellen nordafrikanischen Gebäuden lebte, und einem neu entstandenen europäischen Stadtgebiet, das mit seinen Cafés und Restaurants an Paris erinnerte.

So gewachsen diese Situation einerseits schien, so anachronistisch für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg war eine Konstellation, deren Charakter noch vom Herrschaftsanspruch des 19.Jahrhunderts bestimmt war, als der Kolonialismus zum guten Ton europäischer Großmächte gehörte. Die algerische Bevölkerung hatte nie dieselben Bürgerrechte wie die französisch stämmigen Siedler erlangt, auch war es zu keiner adäquaten industriellen Entwicklung gekommen (1937 hatte es zuletzt eine große Hungersnot gegeben), was dem politischen Anspruch an eine Demokratie, wie Frankreich sie propagierte, widersprach. Diese Diskrepanz wird auch in Pontecorvos Film deutlich, etwa wenn sich Colonel Mathieu (Jean Martin), der die Maßnahmen gegen die Untergrundkämpfer der FLN in Algier leitet, gegen die Anschuldigungen, sie wären "Faschisten" oder "Nazis", mit den Worten wehrt, sie hätten im Widerstand während des 2.Weltkriegs gekämpft und einige von ihnen hätten die Inhaftierung in einem KZ überlebt. Auf die Frage eines Journalisten, was er von Jean-Paul Sartre hält, der sich gemeinsam mit vielen Intellektuellen in Frankreich vehement für die Sache der Algerier einsetzte, meint er nur, das er ihn mehr hasst als seine Feinde.

Eine Meinung, mit der er im damaligen Frankreich nicht allein stand, weshalb es nur folgerichtig war, das sich mit dem italienischen Dokumentarfilmer Gillo Pontecorvo - er hatte mit "Le grande strada azzura" (1957) und "Kapò" (1960) neben vielen Dokumentationen erst zwei Spielfilme gedreht - ein äußerlich Unbeteiligter einer Thematik annahm, die einem emotionalen Ritt auf einer Rasierklinge glich. Obwohl Pontecorvo keinen Hehl daraus machte, das er die Besetzung Algeriens grundsätzlich für falsch hielt, ganz abgesehen von den diktatorischen Methoden, diese aufrecht zu erhalten, erstaunt die Objektivität seines Films, der zudem auf dem Buch Saadi Yacefs basiert, selbst führendes Mitglied der Freiheitskämpfer der FLN, der gefangen genommen und später von De Gaulle begnadigt wurde. Abgesehen von Jean Martin, der wegen seiner klaren Haltung gegen die Besetzung Algeriens in Frankreich keine Rollen mehr erhielt, engagierte Pontecorvo ausschließlich Laiendarsteller und erzielte so einen sehr hohen Grad an Authentizität.

Entscheidend, vielleicht auch zwingend notwendig für die bis heute zeitlose Wirkung des Films, war aber, das Pontecorvo sich auf die Ereignisse in Algier zwischen 1954 und 1957 konzentrierte - von einer kurzen Sequenz am Ende des Films abgesehen - und die Thematik damit von der langen Vorgeschichte und den weiteren Ereignissen bis zum Waffenstillstand 1962 befreite, womit er viel ideologischen Ballast vermied. Unter der Titel gebenden „Schlacht um Algier“ wird die Phase zwischen Januar und Oktober 1957 angesehen, während der es zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen der FLN und der französischen Armee kam. Pontecorvo schilderte exemplarisch und detailliert den Aufbau und die Kampfmethodik einer Widerstandsbewegung im Untergrund, sowie die Gegenmaßnahmen der sich als legitim verstehenden französischen Staatsmacht.

Dass diese dabei auch Folter einsetzte, macht der Film schon in seiner ersten Einstellung deutlich, als ein entsprechend zugerichteter Mann bereit ist, das letzte Versteck seiner Kameraden zu verraten. So direkt und unmissverständlich diese Szene ist, so deutlich wird daran Pontecorvos Stil, der keinen Moment über das Geschehene hinaus Emotionen schürt. Colonel Mathieu bleibt ruhig und sachlich, angesichts des aus seiner Sicht inzwischen vernünftig reagierenden Festgenommenen. Als einer der Soldaten eine leicht erniedrigende Bemerkung macht, wird dieser sofort von ihm zurechtgewiesen. Folter ist für Mathieu nur ein notwendiges Mittel zum Zweck, kein Ausdruck von Hass oder Sadismus, wie die Figur des Armee-Kommandanten insgesamt einen sehr beherrschten, professionellen Eindruck hinterlässt. Nicht erstaunlich, das Pontecorvos Darstellung seiner militärischen Vorgehensweise gegen einen zwar zahlenmäßig und von der Ausrüstung her weit unterlegenen, aber nur schwer zu stellenden Feind, bis heute für die militärische Ausbildung im Partisanenkrieg hinzugezogen wird.

Darin eine Verharmlosung oder gar positive Tendenzen zu erkennen, hieße die damalige Situation zu missdeuten. Im Gegenteil liegt die Stärke des Films darin, sich nicht auf den allgegenwärtigen Hass einzulassen, der nur die jeweilige Seite in ihrer Haltung bestätigt hätte, sondern die Strukturen eines erbarmungslosen, menschenverachtenden Kampfes offen zu legen. Diese klare Haltung beweist der Film auch in Momenten von Massenaufmärschen und versuchter Lynchjustiz, die Pontecorvo nicht leugnet, die er aber nie dazu nutzt, Emotionen beim Betrachter zu forcieren. Selbst die offensichtliche Zweiklassengesellschaft wird nur zu Beginn mit wenigen Pinselstrichen angedeutet, als dem Algerier  Ali (Brahim Hadjadj) bei der Flucht vor der Polizei von einem französisch stämmigen jungen Mann ein Bein gestellt wird - und dieser dabei noch hochmütig lächelt. Auch mehr als ein Jahrhundert des Zusammenlebens konnte dank der Ungleichbehandlung keine Solidarität zwischen den algerischen Einwohnern und den französischen Zuwanderern entstehen lassen, so wie die Polizei jeden Verstoß der Einheimischen gegen französische Gesetze besonders hart ahndete.

Dank der ungeheuren Leistung Pontecorvos und seiner Mitstreiter, der Versuchung einer ideologischen Abrechnung mit der französischen Besatzungsmacht zu widerstehen – auch wenn der Film dort bis 1971 verboten war – entsteht nie der Eindruck von Übertreibung oder Verfälschung, wodurch sich „La battaglia di Algeri“ seine Wirkung bis heute bewahrt hat. Dazu beigetragen hat auch die genaue Schilderung der Vorgehensweise der Widerstandskämpfer, deren Maßnahmen erschütternde Situationen erzeugten. Bevor die FLN begann, gegen den französischen Staatsapparat vorzugehen, verschaffte sie sich Rückendeckung innerhalb des algerischen Stadtteils Algiers, der Kasbah, indem sie gegen Kollaborateure vorging, sowie gegen Alkohol, Drogen und Prostitution, die dem muslimischen Glauben widersprachen. Einheimische, die sich ihren Forderungen widersetzten, wurden rigoros getötet.

Am 01.11.1954 erfolgten die ersten Attentate auf Polizisten, wobei es ihnen zugute kam, das diese – daran gewöhnt, die Lage ohne großen Aufwand im Griff zu haben – leichte Opfer wurden. Die tödlichen Schüsse wurden von den Attentätern in den Rücken abgegeben, ohne dass die Polizisten ihre Angreifer zuvor sehen konnten. Pontecorvo entwickelt daraus eine Gewaltspirale, die so nur vorstellbar ist, wenn sich lang unterdrückter Hass abrupt entlädt. Nachdem die örtliche Polizei, den ständigen Angriffen aus dem Hinterhalt hilflos gegenüber stehend, nächtlich eine Bombe in der Kasbah gezündet hatte, die eine Vielzahl von Todesopfern forderte, schlägt die FLN strategisch zurück. Die Vorurteile der französischen Polizei ausnutzend, legen drei Frauen ihren Schleier ab, kleiden sich europäisch und können so unbemerkt Bomben an stark frequentierten Plätzen deponieren. Pontecorvo benötigt keine dramatischen Zuspitzungen. Allein der Anblick der jungen Algerierin, die inmitten der tanzenden jungen Europäer in dem Café gar nicht auffällt, aber konsequent den tödlichen Bombenanschlag ausführt, genügt, um ihre innere Haltung zu erahnen.

Begleitet von der sparsam, aber wirksam eingesetzten Musik Ennio Morricones, erzählt der Film die Geschichte einer Niederlage, denn die FLN war auf Dauer chancenlos gegen die Strategie der französischen Armee, die alle Einwohner der Kasbah aus ihren Häusern trieb, Einzelne festnahm und dank brutaler Verhörmethoden immer näher an die Köpfe der Organisation herankam. Letztlich war es der Zeitgeist, der das Ende der Besatzungszeit in Algerien erzwang, denn das unwürdige Schauspiel der brutalen Unterdrückung einer einheimischen Bevölkerung, von denen Millionen Anfang der 60er Jahre in Lager eingesperrt wurden, zog zunehmend weltweite Kritik auf sich. Auch 75% Prozent der Franzosen sprachen sich dafür aus, Algerien die Selbstständigkeit wieder zu geben, im Gegensatz zu nur 40% der Einwohner Algeriens, worin die Zerrissenheit des Landes deutlich wird. Auch wenn der Tag der Unabhängigkeit inzwischen mehr als 50 Jahre zurückliegt, blieb das Militär dank des Befreiungskrieges in Algerien einflussreich, was ab 1990 in einen langen Bürgerkrieg mündete – die Folgen der Besatzungszeit sind bis heute nicht überwunden.

Auch „La battaglia di Algeri“ behielt, dank seines generellen Blicks auf die Spirale von Unterdrückung, Gewalt und Gegengewalt, seine Bedeutung und Aussagekraft, denn an den hier gezeigten Mechanismen hat sich nichts geändert.

"La Battaglia di Algeri" Algerien / Italien 1966, Regie: Gillo Pontecorvo, Drehbuch: Gillo Pontecorvo, Franco Solinas, Darsteller : Brahim Hadjadj, Jean Martin, Yacef Saadi, Ugo Paletti, Samia Kerbash, Laufzeit : 117 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Gillo Pontecorvo:

"Ogro" (1979)

Donnerstag, 6. September 2012

Sans mobile apparent (Neun im Fadenkreuz / Senza movente) 1971 Philippe Labro


Inhalt: Als Kommissar Stéphane Carella (Jean-Louis Trintignant) mit dem Schiff, das er gemeinsam mit Jocelyne (Carla Gravina) genutzt hatte, am Hafen von Nizza ankommt, wird er schon von seinen Kollegen erwartet, um mit ihm zum Kommissariat zu fahren. Doch vorher verabschiedet er sich noch von Jocelyne, die ihm eine kleine Pfeife einsteckt, mit der er sie zu sich rufen kann, wenn er will. Währenddessen wird Sandra (Dominique Sandra), die sich bei den Vorbereitungen ihres Freundes und TV-Moderators Julien (Sasha Distel) für dessen neue Live - Sendung in der Stadt befindet, von ihrem Stiefvater Tony Forest (Michel Bardinet) aufgefordert, zu ihrer Mutter zum Mittagessen zu gehen. Offensichtlich mag er Julien nicht, aber dieser erwähnt lächelnd nur eine alte Geschichte, ohne näher darauf einzugehen.

Nur wenig später, als Forest sich gerade bei einem Treffen mit Geschäftsleuten in einer noblen Villengegend von Nizza befindet, fällt er plötzlich tot um, nur mit einer kleinen Einschussöffnung auf der Stirn. Weder war ein Schuss zu hören, noch ein Täter zu sehen. Carella, begleitet von einem großen Polizeiaufgebot, beginnt sofort mit den Ermittlungen, findet aber auch im Gespräch mit der Frau (Esmeralda Ruspoli) des Ermordeten und ihrer Tochter Sandra keine Hinweise auf ein Motiv. Doch seine Arbeit wird schon kurz danach unterbrochen, als ihm gemeldet wird, dass der Architekt Barroyer (Alexis Sellan) auf die gleiche Weise an einem Swimming-Pool erschossen wurde. Was verbindet die beiden getöteten Männer?


Als Philippe Labro 1971 "Sans mobile apparent" (wörtlich "Ohne offensichtliches Motiv") inszenierte, befand er sich damit auf der Höhe der Zeit und vereinte eine Vielzahl von Stilrichtungen in seinem Film. Sein Drehbuch war nach einem Roman des amerikanischen Autors Evan Hunter (Originaltitel "Ten plus one") entstanden, der selbst viele Drehbücher verfasst hatte - darunter zu "The birds" (Die Vögel, 1963) von Alfred Hitchcock - worin Labros Vorliebe für die USA und deren Kriminalfilme deutlich wurde. Diese wiederum verband ihn mit Jean-Pierre Melville, mit dem er befreundet war, und dessen ästhetischer Einfluss in der nach Nizza an die französische Mittelmeerküste versetzten Handlung ebenfalls spürbar wird, wie schon an dem voraus gesetzten Zitat von Raymond Chandler ersichtlich wird.

Neben diesem französisch - amerikanischen Konglomerat ergänzte Labro seinen italienisch co-produzierten Film noch mit Stilelementen des Poliziesco, unterstützt von dem Drehbuchautor Vincenzo Labella. Auch die beeindruckende Besetzung weiblicher Stars setzte sich gleichberechtigt aus den französischen Darstellerinnen Dominique Sanda und Stéphane Audran sowie den Italienerinnen Carla Gravina und Laura Antonelli zusammen. Wie auch Hauptdarsteller Jean-Louis Trintignant zuvor schon in einer Vielzahl italienischer Filme ("Il silenzio"(Leichen pflastern seinen Weg, 1968), "Il sorpasso" (Verliebt in scharfe Kurven, 1962)) mitgewirkt hatte.

Diese Mischung unterschiedlicher Stile ließ "Sans mobile apparent" zu einem ungewöhnlichen Film werden, dessen Ästhetik die manchmal unfertig wirkende Story in den Schatten stellt. Während einige Szenen in ihrer stylischen Inszenierung die Kälte des Mordens mit einem Präzisionsgewehr genau wiedergeben - ein Eindruck, der von Ennio Morricones Filmmusik noch verstärkt wird - wirken die Charakterisierungen der Protagonisten nicht zu Ende gedacht. Das gilt auch für Stéphane Carella (Jean-Louis Trintignant), dem ermittelnden Polizeioffizier, dessen Charakter als knallharter, die Polizeiregeln sehr frei interpretierender Verfolger an den Poliziesco erinnert, dessen manchmal kindlichen Ausbrüche und seine Beziehungen zu den Frauen aber nicht näher betrachtet werden.

Gleich zu Beginn, als er sich mit Jocelyne Rocca (Carla Gravina) gemeinsam auf dem Schiff nach Nizza befindet, steht er plötzlich auf und richtet seine Pistole albern gen Himmel, Schüsse vortäuschend. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Betrachter noch nicht, dass er mit Jocelyne einmal eine Beziehung hatte, die er vor einiger Zeit beendet hatte, aber auch im weiteren Verlauf erfährt man keine Details dazu, obwohl Jocelyne ebenfalls im Fadenkreuz des Täters zu stehen scheint. Allein in dieser Konstellation steckte genügend Komplexität für den gesamten Film, aber „Sans mobile apparent“ beließ es bei wenigen, kühl inszenierten Momenten angedeuteter Emotion. Trotzdem bleibt die Figur des Carella der überzeugendste Charakter des Films, weniger dank des Drehbuchs als dem variablen Spiel Trintignants, in dessen Blick immer auch ein wenig der Wahnsinn des manischen Verfolgers zu spüren bleibt.

Die Grundlage der Story, die von Morden an Menschen erzählt, die am helllichten Tag von einem Scharfschützen erschossen werden, ohne das es ersichtlich wird, was diese Personen miteinander verbindet, ist viel versprechend, aber Phillipe Labro verhebt sich ein wenig bei dem Versuch, zu viele weitere Komponenten zu integrieren. Neben dem klassischen "Who done it?" stehen die einzelnen Opfer für diverse Gesellschaftsgruppen - der reiche Geschäftsmann mit der angeblich glücklichen Ehe, dessen Stief - Tochter (Dominique Sanda), die eine Beziehung mit dem Fernsehmoderator Julien (Sacha Distel) hat, der angeberische Architekt Barroyer (Alexis Sellan), der geschäftstüchtige Astrologe Hans Kleinberg (Erich Segal), der alternde Theaterregisseur und die junge Arzthelferin - deren Lebensumstände meist nur angerissen werden, obwohl einige davon sehr interessant sind.

Über allem schwebt ein Hauch Gesellschaftskritik, gibt es ein Anlehnen an die aktuellen politischen Ereignisse der Zeit, wenn etwa Carella das „Anarchie“ - Zeichen auf sein Cabriolet gemalt wird, zeigen sich Verdrängung, Skrupellosigkeit und Egoismus im Charakter der Protagonisten, auch in der Haltung des Polizeichefs, dem es nur um eine schnelle Aufklärung mit den üblichen Verdächtigen geht, womit er Carellas Arbeit eher behindert. Doch diese kritischen Ansätze bleiben so oberflächlich, wie die Lösung letztlich fast profan scheint, ohne sich dem Täter näher zu widmen, dessen Motive durchaus komplexer Natur sind und auch die Selbstjustiz-Thematik streifen. Möglicherweise reichte Anfang der 70er Jahre allein schon der Auslöser des Dramas, um die Betrachter angemessen zu schockieren, aber das ändert nichts daran, das Labros Film seine vielen Möglichkeiten nicht nutzt und einen inhomogenen Eindruck hinterlässt.

"Style over substance" wäre der nahe liegende Begriff aus heutiger Sicht, aber das greift zu kurz. Nicht nur die Ästhetik der Inszenierung und die Musik Morricones bestimmen das Geschehen, auch die Darsteller sind durchgehend sehr gut und lassen Abgründe in ihren Charakteren erkennen, ohne das Labro ins Moralisieren verfällt, aber der Film wechselt zu schnell zur nächsten Szene, beim Versuch seiner großen Darstellerschar gerecht zu werden. "Sans mobile apparent" ist unterhaltend und spannend, vermittelt ein genaues Bild des damaligen Zeitgeistes, deutet aber eine mögliche Tiefe innerhalb der Story an, die er nicht umzusetzen in der Lage ist.

"Sans mobile apparent" Frankreich, Italien 1971, Regie: Philippe Labro, Drehbuch: Phillipe Labro, Vincenzo Labella, Evan Hunter (Roman), Darsteller : Jean-Louis Trintignant, Carla Gravina, Dominique Sanda, Laura Antonelli, Stéphane Audran, Sasha Distel, Laufzeit : 97 Minuten