Faktisch ist "Oedipus Orca" die unmittelbare Fortsetzung von "La orca", aber gestalterisch bedeutet er die völlige Abkehr. Das der Film so zeitnah nach dem überraschenden Erfolg "La Orca" herauskam, mag wirtschaftlichen Überlegungen entsprungen sein, aber deshalb entsprach der Film keineswegs den Erwartungshaltungen. Wurden schon in "La orca" die Nacktszenen der Inszenierung untergeordnet, waren aber durch die unmittelbare Nähe zur Gewalt gegenüber der weiblichen Person emotional besetzt, wird hier auf jegliche erotisierende Stilisierung verzichtet. Nicht nur das keine der Nacktszenen überlang ausgespielt wurden, was im Erotikfilm der 70er Jahre üblich war, auch Rena Niehaus wirkt fast ungeschminkt in ihrer Natürlichkeit, mit der sie deutlich seltener nackt im Bild zu sehen ist, als in "La orca".
Nur dadurch, dass einige Szenen aus „La orca“ in den ersten Minuten nochmals als Alices Erinnerungen zitiert werden, entsteht anfänglich ein anderer Eindruck, aber gerade diese Form der Inszenierung verdeutlicht noch, dass sich Visconti zunehmend von "La orca" entfernte, denn nur zu Beginn gibt es noch konkrete Bezüge auf den ersten Film. Auch der Charakter der Protagonistin bekommt hier eine andere Richtung, denn während Visconti in "La orca" bewusst zwiespältige Gefühle beim Betrachter provozierte, indem er Alices promiskuitive Veranlagung betonte, inszeniert er sie in "Oedipus Orca" als junge Frau, die unter ihren Erinnerungen leidet und Schwierigkeiten hat, wieder Sexualität mit ihrem Freund Umberto (Miguel Bosé) zu erleben. Fast wirkt es so, als wollte er die Provokation, die die eigentliche Qualität von "La orca" ausmachte, damit wieder abschwächen, denn an der Interpretation, dass Alice das Opfer war und das sie Michele (Michele Placido) zurecht tötete, lässt er hier keinen Zweifel mehr.
Glücklicherweise macht der Film nicht den Fehler, die innere Geschlossenheit des ersten Films im Nachhinein aufzubrechen. In einer frühen Szene wirft Alice ihrem Stiefvater zwar vor, er hätte nicht zahlen wollen, aber sein Versuch, ihr zu erzählen, wie es wirklich gewesen war, scheitert daran, dass sie ihm nicht zuhören will. Sie zitiert bei diesem Vorwurf, was sie von ihren Entführern gehört hatte, aber deren Aussagen basierten nur auf Vermutungen, da sie in die eigentlichen Vorgänge nicht eingebunden waren, sondern nur durch einen blinden Kontaktmann informiert wurden. Der Mord an diesem Kontaktmann und die Suche nach weiteren Hintermännern, wird in „Oedipus Orca“ weder von der Polizei noch der Presse thematisiert, als ob der Fall abgeschlossen wäre. Alleine dieser Fakt zeigt schon, dass „La orca“ hier nur noch als Hintergrund für Alices emotionalen Zustand dienen soll, seinen Charakter als Kriminalfilm aber verloren hat.
Entsprechend gibt es in „Oedipus orca“ weder spannende noch übermäßig dramatische Szenen, sondern ein eher gemächlich dahin plätscherndes Abbild des sommerlichen Lebens einer wohlhabenden Familie auf dem Land. Der Film lässt sich in drei Themenbereiche unterteilen – das erste Drittel gilt noch einer Art Aufarbeitung der Entführung, das zweite zeigt Alice im Landhaus ihrer Eltern, während der dritte Teil sich dem Titel gebenden Oedipus – Komplex annimmt, als Alice feststellt, dass Lucio ihr richtiger Vater sein könnte und sie auf unkonventionelle Weise versucht, hinter das Geheimnis zu kommen. Insgesamt wirkt der Film dadurch uneinheitlich, weil der erste Teil wie ein Kompromiss wirkt, mit dem man die bewusst geschürte Erwartungshaltung eines Publikums an eine „echte Fortsetzung“ noch erfüllen will, während das eigentliche Thema – die Auseinandersetzung mit Lucio – zu kurz kommt.
Nicht erstaunlich ist es deshalb, das dem Film aus der Sicht der Gegenwart Intentionen wie Inzest oder gar Schauwerte für Pädophile unterstellt werden – als wollte man heute krampfhaft nach Kontroversität suchen. „Oedipus orca“ reiht sich mit der Darstellung einer etwa Zwölfjährigen, die nackt neben ihrer Halbschwester Alice vor einem Spiegel steht, oder die Alice mit ihren Eltern im Bad zeigt, während sie in der Badewanne liegt, in ein typisches Bild der 70er Jahre ein, das einen bewusst natürlichen Umgang unter Familienmitgliedern propagierte, um sich damit von den prüden Nachkriegsjahren abzugrenzen. In Zeiten, in denen Fotobücher entstanden, die Familien in ihrer Gemeinsamkeit nackt ablichteten oder eine 12jährigen Eva Ionesco in aufreizenden Klamotten auf dem Cover des „Spiegel“ erschien, galt das nicht als Provokation, sondern nur als Untermauerung dessen, was der Film hier insgesamt anstrebt und welches das gesamte Auftreten von Rena Niehaus bestimmt.
Im Gegenteil betont „Oedipus orca“ noch damit, dass er eine Sensationsgier nicht (mehr) unterstützen wollte, so ruhig und letztlich ohne Antworten zu geben, verläuft der gesamte Film. Die kurzen dokumentarischen Ausschnitte der Tötung und Zerteilung von Rindern in einem Schlachthaus wirken in ihrer rüden Plakativität zwar deplaziert, sollten sicherlich den inneren Gefühlsstreit Alices symbolisieren, verfehlen aber ihre Wirkung, wie der gesamte Film, der aus einigen viel versprechenden Details besteht, letztlich aber in seiner Gesamtheit daran scheitert, das Vorbild „La orca“ nicht hinter sich lassen zu können.
"Oedipus orca" Italien 1977, Regie: Eriprando Visconti, Drehbuch: Eriprando Visconti, Roberto Gandus, Darsteller: Rena Niehaus, Gabriele Ferzetti, Carmen Scarpitta, Miguel Bosé, Piero Faggioni, Laufzeit: 93 Minuten
- weitere im Blog besprochene Filme von Eriprando Visconti :
"La orca" (1976)
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