Inhalt:
Nachdem Giacinto (Nino Manfredi) bei dem Versuch, einen Überfall auf sich
vorzutäuschen, um seine Familie zu ernähren, erwischt wurde, landet er für drei
Jahre im Gefängnis. Dort arbeitet er als „Schwester“ auf der Krankenstation und
bemüht sich, von den Schwerverbrechern nicht allzu sehr herumgeschubst zu
werden. Als Mario Tagliabue (Mario Adorf), ein für seine Brutalität bekannter
Mörder, ihn um einen Gefallen bittet, traut er sich nicht, diesen abzulehnen. Auch
als er dessen Zellenkumpanen weitere Dinge, darunter eine Feile, besorgen soll,
verweigert er sich nicht.
Offensichtlich
haben die Männer vor, auszubrechen, was er dem alten Mithäftling „Il
commandante“ anvertraut, der ihm daraufhin den Tipp gibt, den Plan an den
Gefängnisdirektor zu verraten, um seine Haftzeit ein halbes Jahr verkürzen zu
können. Als Gegenleistung für diesen Vorschlag erwartet der „Commandante“, dass
ihm Giacinto seine Wäsche säubert. Aber er bekommt keine Chance, diesen Vorschlag umzusetzen.
Bevor er am nächsten Tag beim Direktor vorsprechen kann, sorgen die Häftlinge
dafür, dass er in eine andere Zelle umgelegt wird – zu Tagliabue, Papaleo (Gian
Maria Volonté) und der „Maus“ (Raymond Bussières), die schon auf ihn warten…
"A
cavallo della tigre" (Vergewaltigt in Ketten) brachte 1961 vier führende
Vertreter der „Commedia all’italiana“ zusammen. Mario Monicelli, Agenor
Incrocci (genannt "Age") und Furio Scarpelli hatten seit "Totò
cerca casa" (1950) das tief im Neorealismus verwurzelte komödiantische
Genre maßgeblich beeinflusst und einige stilbildende Filme - darunter "I soliti ignoti"
(Diebe haben's schwer, 1958) und "Le grande guerra" (Man nannte es
den großen Krieg, 1959) - herausgebracht. Auch Regisseur
und Mit-Autor Luigi Comencini wurde vom Neorealismus geprägt und war seit
"Pane, amore e fantasia" (Liebe,Brot und Fantasie, 1953) für seine
leichten Komödien in einem realistischen Umfeld bekannt geworden. Ein Jahr
zuvor hatte er gemeinsam mit Scarpelli und Age das Drehbuch zu dem Kriegs-Drama "Tutti a
casa" (Zwischen den Fronten, 1960) entwickelt, die Hinzuziehung von Mario
Monicelli versprach eine weitere Steigerung der Qualität. Auch die
männlichen Hauptrollen waren mit Nino Manfredi, Mario Adorf und Gian Maria Volonté in
seiner ersten größeren Rolle ausgezeichnet besetzt, aber „A cavallo della
tigre“ taucht nicht nur in keiner repräsentativen Liste der „Commedia all’italiana“ auf, sondern erntete bei seinem Erscheinen heftige Kritik.
Dabei
beginnt der Film urkomisch, wenn Giacinto (Nino Manfredi) versucht einen
Überfall auf sich selbst vorzutäuschen. Erst vergräbt er seine Tasche mit
Habseligkeiten, dann fährt er sein schrottreifes Auto gegen eine herbei gerollte
Baumwurzel, um sich mit einem Stein noch selbst zu schlagen, damit seine
Verletzung überzeugender ist, bevor er sich selbst fesselt, in dem er sich in
ein Seil hineindreht, dass er zuvor am Fahrzeug befestigte. Es ist kaum
anzunehmen, dass sich die Polizei davon hätte täuschen lassen, aber dazu kommt
es erst gar nicht. Als er einem vorbeigehenden Fischer zuruft, er wäre
überfallen worden und er möge bitte Hilfe holen, erzählt dieser der Polizei,
wie es sich tatsächlich zugetragen hatte – darauf, dass der Fischer ihn die
gesamte Zeit beobachtet hatte, war Giacinto nicht gekommen. Der Versuch eines
Versicherungsbetrugs war eine Verzweiflungstat, um seine Familie zu ernähren,
bringt ihm stattdessen aber drei Jahre Gefängnis ein.
Nach dieser
kurzen Vorgeschichte wird Giacinto auf der Krankenstation des Gefängnisses
gezeigt, wo er im weißen Kittel als „Krankenschwester“ arbeitet – einen Job,
den er schon während des Krieges in der Armee innehatte. Manfredi spielt die
Figur des Giacinto als sympathischen und gutmütigen Naivling, der alles richtig
machen will und sich ohne Egoismus für eine Sache einsetzt. Das er immer mehr
in Schwierigkeiten gerät, verdankt er seinem fehlenden Durchsetzungsvermögen
und der Unfähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen. Von dem brutalen Mörder
Mario Tagliabue (Mario Adorf), dessen Zellengenossen Papaleo (Gian Maria
Volonté) - trotz seines intellektuellen Gehabes ein gefährlicher Gewalttäter -
und einem kleinen, älteren Mann (Raymond Bussières), genannt „Il sorcio“ (Die
Maus), wird er dazu gezwungen, Dinge zu organisieren, die sie für einen Ausbruch
benötigen. Als er das dem „Commandante“ erzählt, einem älteren von Tagliabue
misshandelten Häftling, rät dieser Giacinto, damit zum Gefängnisdirektor zu
gehen, da er dann ein halbes Jahr früher frei käme.
Allein die
Vorstellung, in einem Gefängnis um einen Termin beim Gefängnisdirektor zu
bitten, nachdem man unmittelbar in eine geheime Aktion involviert war, ist
absurd, aber Giacinto denkt sich nichts dabei. Es kommt zu den erwartenden
Konsequenzen – seine Zellengenossen sorgen dafür, dass er zu Tagliabue und
seinen Kameraden verlegt wird, die ihm seine Idee schnell austreiben. Im
Gegenteil planen sie ihn mitzunehmen, damit er sie nicht verraten kann, aber
Giacinto fleht sie an, ihn zurückzulassen, da er in wenigen Monaten seine
Strafe abgesessen hätte. Tagliabue fragt ihn, ob er einem harten Verhör
standhalten würde, was Giacinto vehement bejaht, aber als er schon bei einem
Ohrdreher damit herausrückt, dass der „Commandante“ ihm den Tipp mit dem
Direktor gegeben hatte, entscheidet Tagliabue endgültig, ihn mitzunehmen.
Allein diese Szene ist in ihrer Direktheit sehr komisch, aber das täuscht
darüber hinweg, dass nur Nino Manfredis hingebungsvolles, jede Konsequenz
annehmendes Spiel eine Realität kontrastiert, die nicht härter und
demoralisierender sein könnte, ohne das „A cavallo della tigre“ bei seiner
Darstellung des Gefängnisalltags und der Armut der Bevölkerung übertreibt.
Der
deutsche Titel „Vergewaltigt in Ketten“ ist nicht nur inhaltlich falsch,
sondern vermittelt eine extreme, außergewöhnliche Situation. „Der Ritt auf dem
Tiger“ - wie der Film nach einem chinesischen Sprichwort wörtlich übersetzt heißt
– bezeichnet dagegen die generelle Schwierigkeit, aus einer Sache auszusteigen
(vom Tiger abzusteigen) und bezieht sich auf die vordergründigen Ereignisse um
den geplanten Ausbruch, mehr noch aber auf Giacintos armseliges Leben, das ihm
von Beginn an keine Chance ließ. Auch in Monicellis „I soliti ignoti“
wechselten sich unmittelbar komische und tragische Momente ab, aber die Story
hatte ein Herz für die Armen und betrachtete sie mit Sympathie. In „A cavallo
della tigre“ gibt es dagegen keine Solidarität mehr unter den Benachteiligten, wird Giacinto mehrfach von
Tagliabue und den anderen Männern brutal verprügelt und entkommt nur knapp dem
Tod. Auch nach dem Ausbruch, der sich als gerissenes Meisterstück herausstellt,
versucht jeder nur seinen eigenen Vorteil aus der Sache herauszuschlagen.
Trotz
mancher gelungener Aktion entsteht in Comencinis Film nie der Eindruck von
Entspannung oder Zufriedenheit, wie er den Protagonisten in anderen Komödien
zumindest zeitweise gegönnt wird. In der Darstellung der Realität einer durch
Armut korrumpierten Bevölkerung ähnelt der Film dagegen Antonionis „Il grido“
(Der Schrei, 1957), der diesem Zustand jede Sentimentalität ausgetrieben hatte.
Denn trotz der Widrigkeiten, die Giacinto im Knast und auf der Flucht
widerfahren waren, hinterlässt die Wiederbegegnung mit seiner Frau und seinen
zwei Kindern den tristesten Eindruck. Anstatt ihn zu begrüßen,
beschimpft ihn seine Frau (Valeria Moriconi) und verteidigt ihr
Zusammenleben mit einem anderen Mann damit, das dieser sie und ihre Kinder
wenigstens ernährt hätte. Schnell nutzen die die Gelegenheit, die Belohnung für den ausgebrochenen Ehemann einzufordern. Und fordern von Giacinto, auch seinen Kameraden Tagliebue auszuliefern, da die für sein Ergreifen ausgesetzte Summe allein zu niedrig wäre – solidarische Gefühle sind längst
egoistischen Interessen gewichen.
Einzig der
sympathische und alles stoisch ertragene Giacinto vermittelt in „A cavallo della
tigre“ eine gewisse Komik, aber der Kontrast zu einer Realität, die
weder Hoffnung bietet, noch dem Protagonisten irgendeine Befriedigung erlaubt, war zu groß,
um den Film noch als Komödie zu empfinden – wahlweise galt das
Spiel Manfredis als zu übertrieben oder der reale Hintergrund als zu ernst.
Doch dieses Urteil, das später revidiert wurde, wird einem Film nicht gerecht,
der die Ansichten seiner vier Macher perfekt widerspiegelte und zu einer radikalen bitterbösen „Commedia all’italiana“ wurde, allen sonstigen
Einordnungen zum Trotz.
"A cavallo della tigre" Italien 1961, Regie: Luigi Comencini, Drehbuch: Luigi Comencini, Agenore Incrocci, Mario Monicelli, Furio Scarpelli, Darsteller : Nino Manfredi, Mario Adorf, Gian Maria Volonté, Valeria Moriconi, Raymond Bussières, Laufzeit : 105 Minuten
weitere im Blog besprochene Filme von Luigi Comencini:
"Pane, amore e fantasia" (1953)
"Tre notti d'amore" (1964)
"Le bambole" (1965)
"Delitto d'amore" (1974)
"Tre notti d'amore" (1964)
"Le bambole" (1965)
"Delitto d'amore" (1974)
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