Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den

Für ihn war der Weg zur "Sexy"-Variante vorgezeichnet - den
Ein Rückblick in die Entstehungsphase der "Commedia sexy all'italiana"

Dienstag, 8. November 2016

Servo suo (1973) Romano Scavolini


Inhalt: Martin (Chris Avram), ein gebürtiger Engländer Ende 30, lebt allein in einer kleinen Hütte in einem heruntergekommenen Stadtteil. Als Englisch-Nachhilfe-Lehrer des an einen Rollstuhl gefesselten Sohnes des örtlichen Mafia-Bosses verdient er ein wenig Geld und hat es sich trotz seiner Perspektivlosigkeit in seinem Leben eingerichtet. Auch wenn ihn seine Nachbarn belächeln, weil er seine kleine Wohnung immer ordentlich abschließt. Bei ihm gäbe es schließlich nichts zu holen. 

Sein Leben verändert sich schlagartig als ihm nach einer nachmittäglichen Unterrichtsstunde zu viel Geld zugesteckt wird. Als der Wachposten es nicht zurücknehmen will, verbringt er eine gemeinsame Nacht mit der jungen Prostituierten vom Straßenstrich nebenan. Am nächsten Tag kann er das Geld nicht mehr zurückzahlen. Martin ahnt den perfiden Plan dahinter noch nicht. Er wurde von dem Vater seines Schülers als Werkzeug eines Rachefeldzugs ausgewählt. Neben seiner körperlichen Konstitution sind es besonders seine fehlenden sozialen Bindungen, die ihn für die Rolle eines Profi-Killers prädestinieren… 

Die Story von "Servo suo" klingt vertraut und befand sich 1973 auf der Höhe einer Zeit, in der einige Mafia-Filme in die Kinos kamen und der "Poliziesco" in Italien an Fahrt aufnahm. Im Jahr zuvor hatte Regisseur Romano Scavolini mit dem Giallo "Un bianco vestite per Marialé" schon einmal ein populäres Genre bedient, blieb aber seinem avantgardistischen Stil treu. "Servo suo" erfüllt nicht die übliche Erwartungshaltung an einen Thriller oder Action-Film, sondern betrachtete das Genre aus einem eigenständigen Blickwinkel, geprägt von der Bildsprache Scavolinis, der neben Regie und Drehbuch auch als Kameramann fungierte. 

Seit Mitte der 60er Jahre bis heute arbeitet Scavolini, Jahrgang 1940, in unregelmäßigen Abständen außerhalb des populären Kinobetriebs auf vielen Feldern des Filmschaffens und ist nur wenig bekannt. Leider existiert von "Servo suo" nur eine Veröffentlichung in VHS-Qualität - entsprechend unzureichend sind die hier im Blog gezeigten Screenshots. Bei der Veranstaltung des Filmkollektivs Frankfurt "Avantgarde und Experiment in Italien" vom 3.-6.11.2016 gab es die einmalige Gelegenheit seinen Kurzfilm "Solitudine" aus dem Jahr 1966 zu betrachten - neben einer Vielzahl weiterer Werke avantgardistischer Filmkunst. 

Martin (Chris Avram), ein Mann ohne Zukunft und familiäre Bindungen, wird zum Objekt eines Mafia-Clans für einen internen Racheplan. Erst wird er zum Killer ausgebildet, dann muss er seine Fähigkeiten beweisen, bevor er auf das Zielobjekt angesetzt wird.

Romano Scavolini entwarf und drehte seinen Film in einer Phase, in der das aufkommende Poliziesco-Genre noch zwischen Mafia- und Polizeifilm wechselte. "Servo suo" kam im September 1973 in die italienischen Kinos, wenige Tage nach Duccio Tessaris "Tony Arzenta" (Tödlicher Hass, 1973), der den vergeblichen Versuch eines Mafia-Killers schilderte, auszusteigen. Gespielt wurde die Rolle von Alain Delon, dessen Darstellung eines Profis in "Le samourai" (Der eiskalte Engel, 1967) prototypisch für den einsamen, seine Emotionen kontrollierenden Auftragskiller wurde. Eine Referenz, die in "Servo suo" immer spürbar bleibt und auch direkt zitiert wird – allerdings ironisch gebrochen: 

„Alle denken, die Einsamkeit ist Teil des Geschäfts“

äußert Martin einmal gegenüber einem Verbindungsmann, der ihm den Kontakt zu einer schönen Tänzerin (Paola Senatore) ermöglicht. Doch bis Martin dieser Glücksmoment gewährt wird – der sich genregerecht als Illusion herausstellt – vergeht viel Zeit, denn Scavolini legte sein erzählerisches Gewicht auf die Vorgeschichte. Diese beginnt noch konventionell mit einem Attentat und lauten Sirenen, aber schon hier wird die eigenwillige Handschrift des Regisseurs deutlich. Keine Verfolgungsjagd oder Schusswechsel bestimmen den weiteren Verlauf, sondern die Kamera bleibt bei dem Schwerverletzten im Krankenwagen und fängt dessen Schmerzen ein. An ihrer Kritik an der Mafia, die Jeden gnadenlos opfert, der ihrer Sache im Weg steht, ließen weder "Tony Arzenta" noch die parallel erschienenen Mafia-Filme Fernando di Leos („Il Boss“ (Der Teufel führt Regie, 1973)) einen Zweifel, aber sie betonten mehr deren Gewaltpotential, Scavolini konzentrierte sich dagegen auf die sklavenhafte Abhängigkeit des Einzelnen innerhalb eines Systems völliger Kontrolle.

Mit den Worten „Servo suo“ (Dein Diener) erweist ein Mafia-Boss dem ranghöheren Paten seinen Respekt. Bei ihm eine Form der Höflichkeit, für Martin die erniedrigende Realität. Er gerät unfreiwillig in diese Position, weil er dem an einen Rollstuhl gefesselten Sohn des örtlichen Mafia-Potentaten Englischunterricht gibt und damit in den Focus seines Auftraggebers gerät. Obwohl ohne Freunde und Perspektive, hat sich der aus England stammende Enddreißiger mit seiner Situation abgefunden und sein Leben in einer einfachen Umgebung eingerichtet. Für die Mafia ist er ein idealer Kandidat – Niemand würde ihn vermissen. Als ihm nach einer Unterrichtsstunde zu viel Geld zugesteckt wird, will er es zurückgeben, aber der Wachposten am Tor verweigert die Annahme. Martin nutzt das Geld für eine Nacht mit seiner Lieblings-Prostituierten, weshalb er am nächsten Tag nicht mehr in der Lage ist, es zurückzuzahlen. Eine kleine Summe genügte, um ihn in die Abhängigkeit der Mafia geraten zu lassen.

Der rumänische Darsteller Chris Avram, selbstbewusst und markant auftretend, ist ideal besetzt als unfreiwilliger Handlanger des organisierten Verbrechens. Nie lässt er sich unterkriegen, bleibt sprachlich provokant und zynisch, aber an seiner Metamorphose zum Killer ändert das nichts. Im Gegenteil erweist sich die Einschätzung der Mafia als richtig, ihn als Profi-Killer auszubilden, denn Martin erledigt die ihm gestellten Aufgaben mit Bravour. Ausgesetzt ohne Geld in einer ihm unbekannten Gegend, findet er schnell seine Kontaktperson. Allein tötet er eine schwer bewaffnete Übermacht. Doch auch diese aktionistischen Sequenzen und Martins dominantes Auftreten ändern nichts an seinem Ausgeliefertsein. Freude, gar Befriedigung können diese Erfolge weder bei ihm, noch dem Betrachter auslösen.

Die erzählerische Anlage des Films ist sehr ruhig und blieb in der Verwendung bekannter Klischees des Mafia- und Kriminalfilms konventionell. Doch diese dienten Scavolini nur als Rahmen für eine Bildsprache, die dem Genre nicht nur zusätzliche Aspekte verlieh, sondern darüber hinausging. Die eingeblendeten TV-Bildschirme einer zentralen Überwachungsstelle, von der aus Martin bei jeder Regung beobachtet werden kann, überhöhten die Realität und sollten die marionettenhafte Abhängigkeit des Protagonisten symbolisieren. Mehr noch betonte Scavolini mit seinen Bildern eine inhaltliche Leere. Eine Leere, die Scavolini generell als Ausdruck der Gegenwart verstand. Wiederholt stellte er seinen Protagonisten in große, von betonierten Flächen bestimmte Räume, in denen er fast verschwindet. Oder er konfrontierte ihn mit gleichförmigen Mustern. Ein anderes Mal tritt er aus dem Hintergrund einer zentral im Bild stehenden unbekannten Person heraus. Das Individuum fällt hinter eine austauschbare, gesichtslose Umgebung zurück. Auch den wenigen Action-Szenen nahm Scavolini ihre Bedeutung. Von der wilden Schießerei in einer Industriebrache schwenkt die Kamera über zu seinem einsamen Sandstrand mit zwei Spaziergängern und Hund, die nichts davon bemerkt haben.

„Servo suo“ ist ein aufregender, überraschender Film, aber er zieht seine Spannung weniger aus der Story, als aus einer optischen Inszenierung, die mehr zuließ als die Genre--übliche Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Feind. Den eigentlichen Kampf liefert Martin um seine Selbstbestimmtheit und der Ausgang bleibt bis zum Schluss offen. 

"Servo suoItalien 1973, Regie: Romano ScavoliniDrehbuch: Romano ScavoliniDarsteller : Chris Avram, Paola Senatore, Lea Leander, Alberto Bertoli, Francesca SebastianiLaufzeit : 90 Minuten

Sonntag, 23. Oktober 2016

La matriarca (Huckepack) 1968 Pasquale Festa Campanile

Inhalt: Gemeinsam mit ihrer Mutter und anderen Gästen sitzt Mimi (Catherine Spaak) vor dem Sarg ihres jung verstorbenen Ehemanns. Zum Trauern bleibt ihr nur wenig Gelegenheit, denn die Geschäfte der Firma ihres Mannes müssen weitergehen, ihre Mutter stellt schon Fragen in Richtung neuer Beziehungen und sie wird mit einem überraschenden Erbe konfrontiert. Sie erhält die Schlüssel für eine ihr bisher unbekannte Wohnung, eingerichtet als Liebeshöhle für Sado-Maso-Spielchen mit dazu gehörigem Privat-Kino. 

Da ihr Mann seine Aktivitäten gefilmt hatte, kann sie sich nicht nur von dessen Vorlieben überzeugen, sondern auch von den Gespielinnen, zu denen auch ihre beste Freundin gehörte. Nur sie selbst war für ihren Mann tabu, denn sie war für ihn die brave, geradezu heilige Ehefrau. Eine Rolle, die Mimi nicht mehr einzunehmen bereit ist, weshalb sie beginnt, die Wohnung für ihre eigenen Zwecke zu nutzen…


So sexy und werbewirksam das Plakat zu "La matriarca" ist, es weckte einen falschen Eindruck. Keinen Moment im Film tritt Catherine Spaak als Domina auf. Im Gegenteil gibt es eine Szene, in der sie sich unterwirft, geschlagen und erniedrigt wird - und feststellt, dass sie daran keine Freude hat. Die Dominanz der weiblichen Hauptrolle drückte sich nicht im konkreten sexuellen Akt aus, sondern in ihrem selbstbewussten Auftreten. Sie selbst wählte die Männer zum Sex aus, die mit dieser Rollenverteilung nur schwer zurecht kamen.

Regisseur Pasquale Festa Campanile siedelte seinen Film im Milieu des italienischen Groß-Bürgertums an, das sich Ende der 60er Jahre aufgeklärt und modern gab, gleichzeitig aber an den klassischen Geschlechterrollen festhielt, und blieb trotz der explizit sexuellen Thematik angenehm zurückhaltend und in seiner komödiantischen Leichtigkeit wenig provokant. Ein Grund, warum "La matriarca" heute nahezu unbekannt ist. Zu unrecht, denn Campanile verlieh dem Thema Sex eine gegenwartsbezogene Normalität, wie sie erst in den 70er Jahren zur Regel wurde. Und steht am Beginn der "Commedia sexy all'italiana" und damit am Ende meines Essay "Von der Moral-Kritik bis zum Dekamaron – die Entstehung der „Commedia sexy all’italiana“ in den 60er Jahren" (Demnächst hier im Blog). 


Mimi (Catherine Spaak) entdeckt das Geheimversteck ihres Mannes...
"La matriarca" hat es in keine Skandal-Film Auflistung gebracht, wurde nicht im Nachtprogramm diverser TV-Kabel-Kanäle verwurstet und erhielt nicht einmal ein Release auf einem einschlägigen Video-Label. Im Gegensatz zu Regisseur Campaniles wenig später folgenden Erotik-Komödien „Quando le donne avevano la coda“ (Als die Frauen noch Schwänze hatten, 1970) oder „Il merlo maschio“ (Das nackte Cello, 1971). Eine Reihe, die sich beliebig fortsetzen ließe. Das Drehbuch zu „La matriarca“ stammte zwar ausnahmsweise nicht vom Regisseur selbst, aber mit Ottavio Jemma war ein Autor daran beteiligt, der den erotischen Film Ende der 60er Jahre entscheidend prägte und auch eng mit Salvatore Samperi („Malizia“ (1973)) und Alberto Lattuada („La farò la padre“ (1974)) zusammenarbeitete. Die eigentliche Idee des Films ging aber zurück auf Nicolò Ferrari, der nur wenige Drehbücher und Regie-Arbeiten übernahm. Darunter mit „Laura nuda“ (1961) ein frühes kontroverses Werk über eine sexuell aktive Frau und ihre sich verändernde Rolle in der italienischen Gesellschaft.

...und nimmt dessen Rolle ein - der Geschäftsführer (Gigi Proietti)
Fast folgerichtig in Form eines Dramas, denn die gegenwartsbezogene sexuelle Thematik benötigte in den 60er Jahren in der Regel einen ernsthaften Hintergrund, der auch die soziale Fallhöhe im Handeln der Frau erkennen ließ. Der frivole, leichtfertige Umgang mit der Sexualität bedurfte dagegen entweder einer literarischen Vorlage („Der Reigen“) oder eines Ambientes im nicht bürgerlichen Milieu. Die zahlreichen Episodenfilme der 60er Jahre verstießen in ihrer komödiantischen Respektlosigkeit gegen diese Regel, aber Langfilme, die eine sexuell aktive Frau in den Mittelpunkt einer Story stellten, ohne ihr Verhalten zu relativieren oder zu dramatisieren, blieben die Ausnahme. Regisseur Festa Campanile schuf 1966 mit „Adulterio all’italiana“ (Seitensprung auf Italienisch) seine erste Erotik-Komödie über ein Ehepaar auf Abwegen, das lustvoll mit dem Fremdgehen kokettiert. Doch während der Ehemann schon in der ersten Szene im Bett einer anderen Schönen landete, blieb es bei seiner Ehefrau bei Anspielungen. Die letzte Konsequenz zog sie nicht.

Der Zahnarzt (Frank Wolff)
Gespielt wurde die weibliche Hauptrolle in „Adulterio all’italiana“ von Catherine Spaak, ihr erster von vier Filmen unter der Regie Campaniles. Die seit den frühen 60er Jahren für ihre emanzipiert, erotischen Auftritte bekannte junge Darstellerin und der langjährige Drehbuchautor, als Regisseur ins Sex-Fach wechselnde Campanile waren eine ideale Kombination für die aufkommende „Commedia sexy“. Ihr Werdegang lässt aber auch erkennen, wie sensibel der Umgang mit dem Thema Sex Mitte der 60er Jahre noch sein musste. Trotz ihrer unmissverständlichen Freizügigkeit gegenüber Männern, verfiel Catherine Spaak in ihren Rollen nie in Promiskuität. Selbst in „La parmigiana“ (1963), in dem sie sich zeitweise prostituieren muss, ist sie nicht leicht zu haben. Einher ging diese noch den Anstand wahrende Inszenierung mit einer Zurückhaltung in den Bildern. Konkret nackt war Catherine Spaak nicht zu sehen.

Der Tennislehrer (Philippe Leroy)
„La matriarca“ bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Wende. Regisseur Campanile hatte zwar in „La cintura di castità“ (Der Keuschheitsgürtel, 1967) schon offenherzigere Blicke zugelassen, aber das betraf ausschließlich weibliche Nebenrollen. Zudem siedelte er die Handlung in eine weit zurückliegende, wenig authentische Vergangenheit an – eine Ende der 60er Jahre besonders im italienischen Erotik-Film aufkommende Mode, um der Zensur zu entgehen. „La matriarca“ ist dagegen ganz Gegenwart. Die Geschichte einer jungen Ehefrau aus dem gehobenen Bürgertum, die nach dem überraschenden Tod ihres Mannes feststellen muss, dass dieser sie nicht nur ständig betrogen hatte – darunter mit ihrer besten Freundin – sondern eine aufwändig eingerichtete Wohnung für Sex-Treffen vorhielt mit Studio für SM-Praktiken und einem Porno-Kino für selbst gedrehte Filme. 

Der geheimnisvolle Mister X (Luigi Pistilli)
Doch während die erst im folgenden Jahr erschienenen einschlägigen Literatur-Verfilmungen „Marquis de Sade: Justine“ und „Le malizie di Venere“ (Venus im Pelz) noch heute einen skandalträchtigen Ruf genießen, ist „La matriarca“ nahezu unbekannt. Zu beiläufig im komödiantischen Kontext hantierte hier Campanile mit ungehemmtem Sex und sadistischen Spielchen. Zu verdanken ist das besonders Catherine Spaak, die sich von der braven Ehefrau zur scheinbaren Nymphomanin wandelt, ohne ihre selbstbewusst-spielerische Art zu verlieren und deren – verglichen mit ihren früheren Filmen – konkretere Nacktheit nur wenig voyeuristisch wirkte. Unverkrampft fordert sie Sex ein, in dem sie sich etwa nackt zu ihrem Tennislehrer (Philippe Leroy) unter die Dusche gesellt. Dieser, sonst ganz Macho, reagiert irritiert, kaum in der Lage, das offensichtliche Angebot annehmen zu können. Das gilt auch für die restliche Männerwelt, die sonst säuberlich nach Ehefrau und Geliebter zu trennen pflegt, und nicht damit umgehen kann, dass Mimi (Catherine Spaak) den Spieß einfach umdreht.

Bis sie Dr. Carlo De Marchi (Jean-Louis Trintignant) kennenlernt...
Diesem Umstand ist auch der Originaltitel „La matriarca“ (Die Matriarchin) zu verdanken, der Mimis Rollentausch zwar treffend beschreibt, aber nur wenig Erotik verheißt. Getoppt wird dieser Eindruck noch durch den deutschen Titel „Huckepack“, der auf Mimis Fetisch anspielt, die ihre größte Lust empfindet, wenn sie auf dem Rücken eines Mannes reiten kann. Losgelöst betrachtet klingt „Huckepack“ mehr nach einem Abenteuerfilm für Jugendliche, weshalb sich die Frage aufdrängt, warum der deutsche Verleih bei Campaniles Film auf die gewohnte Werbewirksamkeit sexbezogener Titel verzichtete. Eine Frage, die nah an die Berührungsängste führt, die ein Erotikkomödie im bürgerlichen Umfeld Ende der 60er Jahre noch auslöste – kein Beziehungsdrama, kein Crime-Hintergrund, kein exotischer oder historischer Schauplatz, keine exaltierten Persönlichkeiten, nicht einmal ein dokumentarischer Charakter.

...und ihre wahren sexuellen Bedürfnisse
Eine Normalität, die letztlich zum Scheitern des Films auch aus heutiger Sicht führte, denn das Mimi am Ende mit dem versponnenen Arzt Dr. Carlo De Marchi (Jean-Louis Trintignant) wieder einen Mann fürs Leben serviert bekam, schien ihren Ausbruch aus dem Rollen-Klischee schnell wieder zu beenden. „La matriarca“ verstand sich nicht als emanzipatorisches Experimentierfeld, sondern kommentierte ironisch die Ende der 60er Jahre grassierende Sex-Welle, die vor keinem Fetisch Halt machte, gleichzeitig die gewohnte Geschlechterordnung aber nicht in Frage stellte. Im Gegenteil bedeuteten die neuen Freiheiten für die Männer größere Entfaltungsmöglichkeiten, änderte aber nichts am „heiligen“ Status ihrer Ehefrauen. Diesem aktuellen Gesellschaftsbild fehlte zwar der konkrete kritische Gestus der frühen 60er Jahre, war aber ungewöhnlich leicht im Umgang mit der gegenwartsbezogenen sexuellen Thematik. Damit steht „La matriarca“ beispielhaft für den Übergang von der „Commedia all’italiana“ zur „Sexy“-Variante – der gesellschaftskritische Habitus nahm ab, die Selbstverständlichkeit von Sex im bürgerlichen Milieu nahm zu. 

"La matriarcaItalien 1969, Regie: Pasquale Festa Campanile, Drehbuch: Ottavio Jemma, Nicolò FerrariDarsteller : Catherine Spaak, Jean-Louis Trintignant, Gigi Proietti, Frank Wolff, Philippe Leroy, Vittorio Caprioli, Gabriele Tinti, Renzo MotagnaniLaufzeit : 93 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Pasquale Festa Campanile: 

"Adulterio all'italiana" (1966) 
"La cintura di castità" (1967) 
"Il merlo maschio" (1971) 
"Autostop rosso sangue" (1977)

Samstag, 16. Juli 2016

Le streghe (Hexen von heute) 1967 Luchino Visconti, Mauro Bolognini, Pier Paolo Pasolini, Franco Rossi, Vittorio De Sica

Gloria (Silvana Mangano) mit ihrer Freundin (Annie Girardot)
Inhalt: Episode 1: "La strega bruciata viva" (Hexen verbrennt man lebendig) – Regie Luchino Visconti
Mit Sonnenbrille und Kopftuch unkenntlich gemacht, steht überraschend Gloria (Silvana Mangano) vor der Tür ihrer alten Freundin Valeria (Annie Girardot), die in den österreichischen Alpen ein mondänes Hotel führt. Die berühmte Schauspielerin will anonym bleiben und bittet Valeria um Unterschlupf für ein paar Tage. Großzügig gewährt sie Gloria ihre eigenen Räume, sorgt aber dafür, dass die anderen Gäste erfahren, wer gerade angekommen ist…

Dem Unfallopfer (Alberto Sordi) geht es schlecht
Episode 2 „Senso civico“ (Praktische Hilfsbereitschaft) – Regie Mauro Bolognini
Als noch alle um den bei einem Unfall schwer verletzten Elio Ferocci (Alberto Sordi) herumstehen, übernimmt eine energische Frau (Silvana Mangano) die Initiative. Sie lässt ihn auf die Rückbank ihres Autos laden und rast durch den Stadtverkehr Roms in Richtung Krankenhaus. So glaubt zumindest der jammernde Ferocci…

Objekt der Begierde für Vater und Sohn - die taubstumme Assurdina
Episode 3: „La terra vista dalla luna“ (Die Erde vom Mond betrachtet) – Regie Pier Paolo Pasolini
Weinend stehen Vater (Totò) und Sohn (Ninetto Davoli) am Grab der verstorbenen Ehefrau und Mutter, was sie aber nicht davon abhält, schnell Ersatz für sie zu suchen. Nur Einigkeit muss zwischen ihnen bestehen. Ihre ersten Annäherungsversuche scheitern, aber als überraschend die zwar taubstumme, aber schöne Assurdina Cai (Silvana Mangano) in eine Ehe einwilligt, scheint das Glück vollkommen…

Sie will Rache
Episode 4 „La Siciliana“ (Die Sizilianerin) – Regie Franco Rossi
Als der Vater (Pietro Tordi) seine Tochter (Silvana Mangano) dabei ertappt, wie sie auf ein Teigmännchen einsticht, ahnt er schon Böses. Er drängt sie, mit der Sprache herauszurücken. Und mit jedem ihrer Worte wächst seine Wut…


Szenen einer Ehe (Clint Eastwood und Silvana Mangano)
Episode 5: "Una sera come un altre" (Ein Abend wie jeder andere) – Regie Vittorio De Sica
Wie jeden Abend kommt Carlo (Clint Eastwood) von seinem Bürojob nach Hause und sieht in das unzufriedene Gesicht seiner Ehefrau (Silvana Mangano), die gelangweilt ist von ihrem gemeinsamen Alltag. In ihren Träumen erlebt sie aufregende Abenteuer und Liebesszenen, aber Carlo holt sie mit wohlgesetzten Argumenten in die Realität zurück… 


Anlass und Motivation für meinen Blog über den italienischen Film war der Episodenfilm - ersichtlich schon am gewählten Titel. Mich faszinierte die Genre- und Ressort-übergreifende Zusammenarbeit unter den italienischen Filmschaffenden, die seit den 40er Jahren ein Netz an Querverbindungen und Beeinflussungen entstehen ließen, das entscheidend zur Qualität und Vielfalt des italienischen Films bis in die frühen 80er Jahre beigetragen hat. Der Episodenfilm - besonders in seiner intensiven 60er Jahre-Phase - ist für mich äußerer Ausdruck dieser inneren Abläufe.

Meinen Essay über den Episodenfilm "L'amore in città und die Folgen" schrieb ich folgerichtig kurz nach der Eröffnung meines Blogs, um mein Engagement in diese Richtung bald wieder ruhen zu lassen. Groß war die Anzahl an Beteiligten und Verbindungen, schwer einschätzbar blieb die Position der Filme im gesellschaftspolitischen, wie künstlerischen Zeitkontext. Erst die intensive Auseinandersetzung mit der "Commedia all'italiana", besonders hinsichtlich der Entwicklung in Richtung der "Commedia sexy" in den 60er Jahren ließ mein Interesse am Episodenfilm - auch dank dessen unmittelbarer Nähe zum Zeitgeist - wieder aufleben. Meinen Essay habe ich entsprechend überarbeitet und möchte ihn an dieser Stelle nochmals ausdrücklich empfehlen.


(Episode 1) Fütterung der Raubtiere - der "Hexentanz" beginnt...
"Le streghe" (Hexen von heute) klingt nach Feminismus, Sex und Revolution, zumindest nach Widerstand gegen die konservativen bürgerlichen Moralvorstellungen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Protagonistin der ersten Episode "La strega bruciata viva" (Hexen verbrennt man lebendig) - die Einzige, in der das "Hexen"- Motiv konkret auftaucht - wird schnell von der Realität eingeholt. In der letzten Episode "Una sera come un altre" (Ein Abend wie jeder andere) ergibt sie sich in ihr Schicksal als Hausfrau und Mutter im Ehealltag. Zu den Credits des Abspanns sieht man in ihr von Fantasien verklärtes Gesicht, begleitet von einer hollywoodesken Orchestermusik. Kein Vergleich zu Piero Piccionis "Hexentanz", mit dem der Film beginnt - es hatte sich ausgetanzt.

...wieder besänftigt und fügsam (Episode 5)
Das galt auch für den Episodenfilm. In den folgenden drei Jahren kamen zwar noch vereinzelte Vertreter dieser Genre-Form heraus - nicht zufällig unter Mitwirkung von vier der fünf an "Le Streghe" beteiligten Regisseure Franco Rossi, Mauro Bolognini, Pier Paolo Pasolini und Vittorio De Sica - aber gemessen an den 15 Episodenfilmen der Jahre 1964 bis 1966 war der Zenit überschritten (siehe den Essay "L'amore in città und die Folgen"). Auch "Le streghe" war schon ein Auslaufmodell. Thematisch steht er am Ende einer Phase, beginnend mit "Boccaccio '70" (1962), in der der Episodenfilm zum wichtigsten Vehikel für die sexuelle Liberalisierung im italienischen Film - besonders in Richtung "Commedia sexy all'italiana"- wurde und in Co-Produktionen auch den deutschsprachigen Erotik-Film beeinflusste ("L'amore difficile" (Erotika, 1962)).

Die neue Rolle der Frau in der Gesellschaft und nicht zuletzt die damit einhergehenden Veränderungen moralischer Standards ließen sich in respektloser Form leichter in Kurzfilmen auf die Leinwand bringen - Verbote, Kürzungen und Kritik blieben zwar nicht aus, verteilten sich aber auf viele Schultern. Wenn es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass das heute für die sexuelle Revolution signifikant betrachtete Jahr 1968 nicht am Anfang, sondern am Ende einer langjährigen Entwicklung stand, dann der Film "Le streghe". Von der Aufbruchstimmung der frühen 60er Jahre, als Themen wie weibliche Promiskuität, Sexualität vor der Ehe oder Seitensprung noch lustvoll provokativ zelebriert wurden, verbunden mit dezenten Nacktdarstellungen, ist hier nichts mehr zu spüren. Gescheiterte Ehen, Affären oder freizügige Sexualität sind längst Realität, doch in der Köpfen hatte sich nur wenig geändert.

Nach „La mia signora“ (1964) spielte Silvana Mangano in „Le streghe“ erneut in allen Episoden die weibliche Hauptrolle, die aber nicht die Homogenität des Vorgängers aufweisen. Genauer betrachtet handelt es sich um drei längere, thematisch relevante Filme, jeweils unterbrochen von sehr kurzen Beiträgen von Mauro Bolognini (Episode 2 „Senso civico“ (Praktische Hilfsbereitschaft)) und Franco Rossi (Episode 4 „La Siciliana“ (Die Sizilianerin)). An deren Zustandekommen waren mit Agenor Incrocci, Furio Scarpelli und Luigi Magni zwar drei prägende Autoren der „Commedia all’italiana“ beteiligt, doch mit der „Hexen“-Thematik hatten sie auch im weit gefassten Sinn wenig zu tun.

Bologninis Episode über eine rücksichtslose Autofahrerin, die einen Schwerverletzten (Alberto Sordi) mitnimmt, nur um unter dem Vorwand, ihn in ein Krankenhaus zu transportieren, schneller durch den dichten Verkehr Roms zu ihrem Date zu gelangen, hätte besser in Dino Risis "I mostri" (1963) gepasst. Nicht zufällig griff Alberto Sordi, diesmal als Fahrer eines Unfallopfers, in "I nuovi mostri" (Viva Italia!, 1977) diese Thematik wieder auf. Rossis „La Siciliana“ ist dagegen ein wiederholter Beitrag zum archaischen Rollen-Verständnis in Süditalien. Erneut genügt die Andeutung einer Schönen, um eine tödlich endende Fehde auszulösen. Keine besondere Bereicherung, wäre da nicht der altmodische Gestus der Episode, der ein wenig an Silvana Manganos frühe Rolle in "Riso amaro" (Bitterer Reis, 1949) erinnert, der seinen Ruhm nicht zuletzt ihrer erotischen Ausstrahlung verdankte. Damals auch wegen der freizügigen Kleidung der Arbeiterinnen im Reisfeld eine Sensation, ist knapp 20 Jahre später der Reiz verflogen – besonders in den Rahmen-Episoden von Luchino Visconti und Vittorio De Sica.


Episode 1: "La strega bruciata viva" (Hexen verbrennt man lebendig)

Viscontis Film nach einem Drehbuch von Cesare Zavattini lässt sich auch als ironischer Kommentar auf Silvana Manganos Ehe mit dem Produzenten Dino De Laurentiis verstehen, denn die Story über die berühmte Filmschauspielerin Gloria, die ein paar Tage im verschneiten Kitzbühel den Zwängen ihres alles kontrollierenden Ehemanns entkommen will, besitzt naheliegende Parallelen. Mehr noch wirkt die Episode aus heutiger Sicht wie ein Vorbote auf Viscontis „Deutsche Trilogie“, die 1969 mit "La caduta degli dei" (Die Verdammten) ihren Anfang nahm. Helmut Berger, der darin seine erste Hauptrolle unter Viscontis Regie spielte, hatte hier einen kleinen Auftritt als Hotel-Angestellter. Er spricht deutsch, so wie sich im mondänen Hotel von Valeria (Annie Girardot) dank der internationalen Gäste auch französische und englische Klänge ins Italienische mischen. Für Visconti eine ideale Ausgangssituation, um den versammelten Geldadel genüsslich zu sezieren.

Katalysator ist das Eintreffen von Gloria, die versucht anonym bei ihrer alten Freundin Valeria unterzukommen. Ein von Beginn an hoffnungsloses Unterfangen, denn die Hotel-Chefin nutzt Glorias Berühmtheit ungeniert als Attraktion für ihre Gäste. Die halten sich auch nicht lange zurück, um über ihre Herkunft zu lästern, ihr Aussehen zu kommentieren oder, wie ein englischer Industrieller (Leslie French) ihr zuflüstert, sie als Produkt anzusehen. Höhepunkt ist ein erotischer Tanz zur „Hexentanz“-Musik, denn Gloria hatte eine Wette gegen eine junge Französin verloren, gespielt von Veronique Vendell, damals im italienischen und deutschen Erotik-Film („Urlaubsreport - Worüber Reiseleiter nicht sprechen dürfen“ (1971)) gern besetzter blonder Blickfang. Selbstverständlich betonen alle Frauen nach außen hin Glorias Schönheit, so wie die Männer ihr den Hof machen (darunter Viscontis langjähriger Weggefährte Massimo Girotti ("Ossessione" (1942)), ehrlich ist Niemand zu ihr.

Getoppt werden sie aber alle von der Hotelchefin, die mit erfrischender Eloquenz und guter Laune gnadenlos ihre Freundin hintergeht. Dass Gloria der Star sein soll, ist dagegen kaum zu bemerken. Die Gäste treiben sie wie einen Spielball vor sich her, bis eine Gesandtschaft ihres Mannes eintrifft, um sie - frisch vom Maskenbildner zurecht gemacht - vor der versammelten Journaille mit dem Hubschrauber zurückzuholen. Mit einer Hexe eint sie ihre Außenseiterposition in der Gesellschaft, für die sie einen hohen Preis zahlen muss. Nach außen selbstbestimmt und erfolgreich wirkend, steht sie tatsächlich unter totaler Kontrolle. Die Emanzipation erweist sich als Trugschluss – eine These, die Zavattini in anderer Form in der fünften Episode wiederholte.


Episode 5: "Una sera come un altre" (Ein Abend wie jeder andere)

Dass Clint Eastwood in einem italienischen Episodenfilm als männlicher Co-Partner auftrat, erscheint aus heutiger Sicht ungewöhnlich, lässt aber vergessen, dass Eastwood seinen Ruhm dem italienischen Film verdankte – „Le streghe“ kam nur wenige Wochen nach seinem dritten Sergio-Leone-Western „Il buono, il brutto, il cattivo“ (Zwei glorreiche Halunken, 1966) in die Kinos. Seine Besetzung in „Le streghe“ verdankte Eastwood zudem seiner US-amerikanischen Herkunft, denn er steht hier für den modernen Typus Mann: ein gut verdienender Angestellter, der mit Frau und Kindern in einer zweckmäßig eingerichteten Wohnung lebt. Zusätzlich betont wird der Einfluss des „American way of life“ durch die Optik von Ehefrau Giovanna (Silvana Mangano), mehr noch spiegelt er sich in ihren Fantasien wider.

In einer den gleichförmigen Alltag kontrastierenden Parallelhandlung spielen sich vor Giovannas geistigem Auge filmreife Szenen ab – romantische Liebe, Superhelden-Comic, Striptease in einem mit Männern besetzten Stadion. Da darf Clint Eastwood aus Eifersucht auch wieder zur Pistole greifen. In der Realität erweist er sich dagegen als ruhiger Zeitgenosse, dessen mit wohlgesetzten Argumenten vorgetragene Botschaft unmissverständlich ist: Liebe, Sex, Freiheit – gerne, man ist schließlich modern. Aber alles zu seiner Zeit. Von Hexen ist da wenig zu sehen - ein kurzer Moment der Auflehnung endet in der Anpassung. Natürlich aus Liebe. Aus heutiger Sicht überrascht es, wie fatalistisch Zavattini 1967 die Situation der Frauen betrachtete, in der Umsetzung blieb die De Sica-Episode aber trotz ihrer fantastischen Ebene konventionell.


Episode 3: „La terra vista dalla luna“ (Die Erde vom Mond betrachtet)

Für den realen Irrsinn war Pier Paolo Pasolini in der zentralen Episode zuständig, deren märchenhafte Anmutung vordergründig nicht zu den übrigen Stories passen will. Den Komiker Totò hatte der Regisseur erst kurz zuvor erstmals in „Uccellacci e uccellini“ (Große Vögel, kleine Vögel, 1966) besetzt, um noch bis zu dessen Tod im April 1967 zwei Kurzfilme mit ihm zu drehen. „Che cosa sono le nuvole?" kam erst mehr als ein Jahr später im Rahmen des Episodenfilms „Capriccio all‘italiana“ (1968) in die Kinos. Immer an Totòs Seite stand der damals noch nicht 20jährige Ninetto Davoli, der bis in die 70er Jahre an beinahe allen Pasolini-Filmen beteiligt war. Auch Silvana Mangano gehörte nach „La terra vista dalla luna“ zu Pasolinis bevorzugten Darstellern und übernahm in seinen zwei folgenden Kinofilmen „Edipo re“ (Bett der Gewalt, 1967) und „Teorema“ (Teorema – Geometrie der Liebe, 1968) die weibliche Hauptrolle.

„La terra vista dalla luna“ ist entsprechend individuell, ganz Pasolini. Motive der klassischen „Commedia dell’arte“, für die der Neapolitaner Totò und die puppenhaften Kostüme sorgen, mischte er mit einer Reminiszenz an den Stummfilm mit beschleunigten Bildern, Slapstick und kommentierenden Texttafeln. Entscheidend ist aber, dass die weibliche Hauptfigur taubstumm ist und man sich nur per Gebärde mit ihr verständigen kann. Assurdina Caì (Silvana Mangano) soll nach dem Tod der Ehefrau dem Vater (Totò) und Sohn (Ninetto Davoli) die Geliebte, Hausfrau und Mutter ersetzen. Selbstverständlich nur wenn Einigkeit unter den Männern besteht, was angesichts der Schönen nicht schwerfällt, die sogleich nach der Hochzeit ihre triste Baracke schmückt. Prekäre Verhältnisse gehörten ebenso zu Pasolinis Film-Kosmos wie die Unfähigkeit, sich mit dem unverhofften Glück nicht begnügen zu können, das Vater und Sohn in Person von Assurdina Cai zufällt. Erneut scheinen die Männer gezwungen, sich eine neue Frau suchen zu müssen, aber diese erweist sich als zäher als erwartet.

Pasolinis tragikomisches Possenspiel ist voller Poesie und absurder Einfälle, brachte aber die Thematik der Geschlechterrollen und damit die Intention des Episodenfilms auf den Punkt. Ob alt oder jung, rückwärtsgewandt oder fortschrittlich, in den Köpfen der Männer hatte sich nichts geändert. Parallel zu den gesellschaftspolitischen Ereignissen der späten 60er Jahre steht „Le streghe“ am Wendepunkt einer Entwicklung in Richtung einer stärkeren politischen Ausrichtung, wie sie auch in den wenigen späten Episodenfilmen festzustellen ist ("Amore e rabbia" (Liebe und Zorn, 1969)). Für die erotische Komödie bedeutete das kein Ende. Im Gegenteil startete diese dank der zunehmenden Liberalisierung erst richtig durch, verlor aber zunehmend ihre gesellschaftskritische Relevanz zugunsten einer allein auf die sexuelle Komponente beschränkte Sichtweise.

"Le streghe" Italien, Frankreich 1967, Regie: Luchino Visconti, Pier Paolo Pasolini, Vittorio De Sica, Franco Rossi, Mauro Bolognini, Drehbuch: Cesare Zavattini, Luigi Magni, Agenor Incrocci, Furio Scarpelli, Pier Paolo Pasolini, Mauro Bolognini, Fabio Carpi, Franco Rossi, Darsteller : Silvana Mangano, Alberto Sordi, Clint Eastwood, Totò, Ninetto Davoli, Annie Girardot, Francisco Rabal, Massimo Girotti, Clara Calamai, Veronique Vendell, Marilù Tolo, Helmut Berger, Laura Betti, Laufzeit : 102 Minuten 

weitere im Blog besprochene Filme von Luchino Visconti:
"Rocco e i suoi fratelli" (1960)
"Boccaccio '70" (1962)
"Il gattopardo" (1963)
"Vaghe stelle dell'orsa" (1965)
"Lo straniero" (1967)
"La caduta degli dei" (1969)
"Morte a Venezia" (1971) 
"L'innocente" (1976) 

weitere im Blog besprochene Filme von Mauro Bolognini :

"Le bambole" (1965)
"Le fate" (1966)
"Imputazione di omicidio per uno studente" (1972)

weitere im Blog besprochene Filme von Pier Paolo Pasolini :

"Accattone" (1961)
"Amore e rabbia" (1969)
"Salò e le 120 giornate di Sodoma" (1975)

weitere im Blog besprochene Filme von Franco Rossi :

"Tre notti d'amore" (1964)
"Le bambole" (1965)

weitere im Blog besprochene Filme von Vittorio De Sica:

"Ladri di biciclette" (1948)
"Miracolo a Milano" (1951)
"Umberto D." (1952)
"Stazione Termini" (1953)
"L'oro di Napoli" (1954)
"Il tetto" (1956)
"La ciociara" (1960)
"Boccaccio '70" (1962)
"I sequestrati di Altona" (1962) 
"Il boom" (1963)
"Ieri, oggi, domani" (1963)

Der Name "L'amore in città" bezieht sich auf einen Episoden Film aus dem Jahr 1953, der erstmals Regisseure in Italien dazu brachte, ihre extra dafür geschriebenen und gedrehten Kurzfilme zu einem Gesamtwerk zu vereinen. Der Episodenfilm steht symbolisch für eine lange, sehr kreative Phase im italienischen Film, die in vielerlei Hinsicht stilbildend für die Kunstform Film wurde. Die intensive Genre-übergreifende Zusammenarbeit unter den Filmschaffenden war eine wesentliche Grundlage dafür.